kultur.west: Es gibt keinen Festival-Spielort, der so verwirrend, eigen und mit sich beschäftigt ist wie die Mischanlage auf Zollverein.
FREY: Ja, die Struktur der Anlage ist kompliziert. Mich interessiert immer das Fremde, das, was ich nicht verstehe, weil das wiederum einen offenen Raum im Kopf schafft. Die Räume in der Mischanlage sind alle sehr unterschiedlich, autonom und miteinander verbunden. Auf der oberen Bunkerebene wird es ein wenig geisterhaft, in die Abgründe der Tiefe hinein schwindelt es einen, auf der noch höheren Verteilerebene wird Nina Hoss spielen. Interessant ist, zu wissen, was dort passierte während der Arbeitsepoche mit ihren Anforderungen, Nutzungsbedingungen, wie präzise damals die Abläufe waren. Dann kam der Strukturwandel, ein Euphemismus für Abbruch und den radikalen Riss, danach die denkmalgeschützte Umwidmung. ‚Was kann’s denn jetzt noch sein?’, fragen wir Menschen, nachdem wir etwas benutzt und kaputt gemacht haben. Insofern eine ideale Gemengelage für die Kunst, die Fragen stellt und keine davon beantworten kann.
kultur.west: Metaphorisch betrachtet und auf Dostojewski bezogen, bietet sich das Motiv des Risses an: der Ort als Raum der Seele. Denn »der Mensch ist komisch eingerichtet«, die Kunst kein Garant für das Schöne und Erhabene, Ordnungsprinzipien werden vom Text und seinem Sprecher zertrümmert.
FREY: Wir beschäftigen uns übrigens mit dem ersten Teil – dem psychologisch großartigen, schlagkräftigen Monolog in seiner Zerrissenheit und seinem Irrsinn. Wir finden, dieser Teil bildet überhaupt die Voraussetzung dafür, Kunst zu machen. Denn am Ende seines Sermons sagt dieser Mensch, jetzt fange ich doch an, es aufzuschreiben, beginne mein Werk. Das heißt, er richtet sich an ein Publikum. Da ist der Text nicht nur Zivilisationskritik und Aufklärungsskepsis, sondern wird grundsätzlich: Wenn wir uns nicht trauen, so zerfurcht zu sein, wie wir sind, brauchen wir gar nicht erst anzufangen, über ein Kunstwerk nachzudenken.
kultur.west: Aus der Isolation herauszutreten, wird bei Dostojewski sogleich wieder reflektiert und zum raffinierten Täuschungsmanöver ausgeleuchtet als Lug und Trug in seinem despotisch wilden Denken.
HOSS: Je länger ich daran arbeite, desto deutlicher wird mir, wie sehr der Text an einem schön gesponnenen langen Faden hängt, also gar nicht so wirr und wild ist, wie zunächst gedacht. Es folgt einer gewissen Logik, so sehr sich der Autor bzw. Sprecher dagegen zu wehren scheint, weil er – oder sie – alles präzise durchdacht hat, dass ihm jegliche Einwände schon bekannt sind und er sie gleich pariert. Es ist unsere Aufgabe, die Klarheit in der Aussage der Textmasse selbst zu klären. An einem lauten Ort, an dem nicht viel gesprochen wurde, höchstens, dass man sich ein paar Worte zugebrüllt haben wird in all dem Lärm, und den wir nun mit einer Ästhetik der Sprache auffüllen und einen stummen Dialog mit den Zuhörenden gestalten. Und, da stimmt, was Sie sagen, er manipuliert, hat Spaß daran, geradezu wollüstigen. Er ist ein Spieler.
FREY: Tatsächlich ein Zwiegespräch, wie Du sagst, wobei und obwohl diese Räume und Bauten etwas extrem Monologisches haben. Zur Blüte der Industrialisierung wurde hier einfach gemacht: ohne Pardon. Das war Sinn und Ziel und Zweck, Gewinnmaximierung, Optimierung. Bei dem Menschen von Dostojewski gibt es auch kein Zwiegespräch. Er redet alles in Grund und Boden.
kultur.west: Eine Form der Selbstvernichtung in der Suada.
FREY: Darin steckt die Selbstdemontage, ja. Das wiederum ist bei den Industrieräumen anders, solange sie funktionierten, haben sie sich nicht selbst demontiert, sondern es lief und lief und lief. Jetzt werden sie liebevoll und tiefgründig durch den Einzug der Künste einerseits demontiert, andererseits neu aufgebaut. Das bleibt im Zwielicht: Niedergang oder Nostalgie, auf dieser Kante ruht das ganze Festival. Auch die Nostalgie ändert sich heutzutage.
HOSS: Der Text selbst ist Gegenrede zu allem Nostalgischen, im Sinne von Versöhnlich-Sein mit scheinbar abgesicherten Gewissheiten und Werten. Aber nur als Frage, darin liegt das Provokante.
kultur.west: Die Industrieräume waren, wie Nina Hoss sagt, erfüllt von Geräusch. Werden Sie den Klangraum ebenfalls öffnen?
FREY: Der Musiker Alex Silva wird Klangwelten kreieren, die mit dem Ruhrgebiet und dieser Figur zu tun haben. Eine schwebende Musik der Sphären.
kultur.west: Dazu der hammerharte Text in der Umwertung aller Werte.
FREY: Aber er ist auch nietzscheanisch zärtlich. Nietzsche war von dem Text begeistert wegen seiner psychologischen Tiefe, der Angstprozesse, Nöte und der Wucht des Aufeinanderprallens in einem Menscheninnern, bei dem jemand das Gegenteil unaufhörlich mitdenkt. Dostojewski geht avant la lettre voll in alles Freudianische und Post-Freudianische, das ist das Unheimliche daran. Mich hat besonders der irrsinnige Humor des Textes und dieses Menschen interessiert, der sich wie ein fürchterlicher Holzwurm in sich selbst hinein bohrt – und darin, wie Nina sagt, Genuss findet.
kultur.west: Da siedelt er in der Nähe von Kafka.
FREY: Absolut, oder von Robert Walser. Gigantomanie in der Verkleinerung.
kultur.west: Verkleinerungskünstler, die sich ducken, zurücknehmen, im Minderwertigkeitskomplex daheim sind und darin ihren Palast errichten.
FREY: Dadurch wird der Mensch bei Dostojewski zum Zyklop. Nicht zu vergessen: Es gibt da das wunderbare Bild von der winzigen beleidigten Maus, die um sich herum »eine verhängnisvolle Pfütze« bildet, wie Svetlana Geier übersetzt. Ein absolut antiheroisches Bild. Grandios. Auch wiederum zärtlich.
HOSS: Sie ist die überbewusste Maus, was sie nicht größer macht. Ich spüre bei der Arbeit am Text die Fülle an widersprüchlichen Regungen und empfinde das mehr und mehr als befreiend, weil er die Dinge so beschreibt, wie sie sind, und signalisiert, dass wir uns nicht vormachen sollen, wir würden nach dem »Schönen und Erhabenen« streben. Es gibt nichts, an das man sich anlehnen könnte. Da ist jemand, der sich auflehnt und deshalb auch zurückzieht. Kein Held. Das ist ebenso verstörend und befreiend.
FREY: Da findet sich übrigens die Nähe zu Leoš Janáček, den wir im Programm haben. Faszinierend an diesem fantastischen Komponisten ist, wie es ihm gelingt, auch in den »Aufzeichnungen aus dem Totenhaus« – einer Männeroper im Gegensatz zu »Jenufa« oder »Katja Kabanova« – Menschen zu porträtieren, mitten unter seinen Charakteren zu sein, empathisch zu sein, nicht von höherer Warte aus zu schauen. Er lässt noch den schlimmsten Figuren einen Rest Humanität. Es ist kein Zufall, dass er für seine letzte Oper den Stoff von Dostojewski gewählt hat. Da sind der Tscheche und der Russe verwandt, indem sie die verhängnisvollen Pfützen, die sich unter uns bilden, rigoros betrachten.
HOSS: Was uns, Barbara und mich, bei jeder Arbeit interessiert, ist die akribische Suche nach Nuancen. Wie ich auch sage, dass die gigantischen Industriebauten ebenso die Anmutung des Filigranen, exakt konstruiert wie Skelette, haben. Und sagen würde, dass wir die irrwitzige Komik des »Kellerloch«-Textes aufspüren, die ihn uns erhellt. Man muss diese verschiedenen Ebenen erobern, sonst wird’s eine Predigt.
kultur.west: Um auf den Humor und Komik zurückzukommen – für Ihre Theaterarbeit ein wesentlicher Begriff, gewiss auch im »Sommernachtstraum«, mit dem das Festival eröffnet wird.
FREY: Komik ist die letzte Möglichkeit von Objektivierung, um es im Geist von Dürrenmatt zu sagen. Das Gelächter ist dabei nicht als Häme gemeint, sondern als ein Lachen, in dem der Lachende selbst mit drin steckt: als Exzess der Selbsterkenntnis. Wir werden sensibel dafür, dass wir – überhaupt – aus den Ambiguitäten nicht herauskommen, wenn wir denkende Wesen sind.
kultur.west: Eine Verbindung zu Thomas Mann stellt sich her durch dessen »Betrachtungen eines Unpolitischen« und den Begriff »Leiden an Deutschland«, der übertragen auf Dostojewski und eben auch auf Janáčeks Oper heißt: Leiden an Russland. Da liegt die kulturelle Wurzel, die uns jetzt Kopfweh verursacht und die das Außenseitertum beider Nationen über Phasen der Geschichte begleitet.
FREY: Alles dichterische, überhaupt jedes künstlerische Schaffen ist dissidentes Schaffen. Und, die Parallele stimmt, denn der »Kellerloch«-Text richtet sich in seinen antiaufklärerischen, antiwestlichen Impulsen massiv auch gegen die Franzosen und das Verlogene der Französischen Revolution, wobei seine antizaristische Haltung Dostojewski wiederum ins Straflager gebracht hat.
HOSS: »Das Blut fließt wie Champagner« heißt es an einer Stelle, weil wir so schön zivilisiert sind. Bei Thomas Mann ist, um darauf zurückzukommen, neben der großen Bewunderung für Dostojewski auch seine befremdliche Scheu zu spüren davor, wie und dass der Andere in den stinkenden Schlamm greift, in dem Morast hineingeht. Das hat er gemieden.
FREY: Überhaupt, ich finde es gefährlich, eine solche Künstlerbiografie aus dem Nachhinein besserwisserisch zu betrachten und das Urteil zu fällen. Wesentlich ist doch: Was stöbert Dostojewskis Übersensibilität auf? Was er alles aufrüttelt und durcheinander schüttelt, auch in unseren Vorstellungen: von Groß und Klein, Links und Rechts, Mann und Frau, deshalb kann dieses Subjekt auch unbedingt eine Frau spielen. Für mich ist sie eine Minotaura als Zentrum des Labyrinths.
kultur.west: Zu Nina Hoss, die 2006 Ihre Medea gespielt hat, haben Sie eine besondere Beziehung…
FREY: Als Regisseurin existiere ich nicht ohne die Schauspielerinnen und Schauspieler. Bei der Lektüre dieses abgefahrenen Textes habe ich permanent das Gesicht von Nina Hoss vor mir gesehen – und denke nach über ihre Anarchie, die man für jede Art von Tiefe braucht, im Wissen, dass sie auch eine Komikerin ist, deren Komik aber die Verletzlichkeit des Textes transportieren kann. Ich hätte mir niemand sonst vorstellen können als diese furchtlose Schauspielerin, die Gefahren schon gesehen hat und sich ihnen stellt. Und die gefeit ist vor einem falschen Tiefsinn, wozu die Musikalität und das Musikalische, das uns beide verbindet, beiträgt. Musik, und das gilt auch wiederum gerade für Janáček, schafft ihre eigene Ethik.
»Aufzeichnungen aus dem Kellerloch« von Fjodor Dostojewski, Regie: Barbara Frey,
mit Nina Hoss, Bühne und Kostüme: Bettina Meyer, Musik: Alex Silva.
20. September (Premiere), 21. bis 23. September, bereits ausverkauft.
Mischanlage, UNESCO Welterbe Zollverein, Essen