Ruhrtriennale: Łukasz Twarkowskis Performance »Respublika« ist immersives Theatererlebnis und soziales Experiment.
Am Ende von Łukasz Twarkowskis die Grenzen des Theaters sprengender Inszenierung »Respublika« steht ein Rave. Für anderthalb Stunden können sich Zuschauer*innen und Akteure auf einer Tanzfläche gemeinsam im selben Rhythmus verlieren. In den gut vier Stunden zuvor erleben wir die Rekonstruktion eines sozialen Experiments mit. Dafür verwandelt sich die Jahrhunderthalle in den Nachbau einer Waldkommune, in der eine Aussteiger-Gruppe versucht, dem Diktat des Kapitalismus zu entfliehen.
kultur.west: Herr Twarkowski, mit Ihrer sechsstündigen Performance führen Sie das Publikum auf ungewohntes Terrain…
TWARKOWSKI: Ja. Die Inszenierung wandelt fortwährend auf einer Grenze. Fiktion und Wirklichkeit lassen sich nicht eindeutig voneinander trennen. Das Ensemble präsentiert eine Rekonstruktion von Ereignissen, die sich fünf Jahre zuvor ereigneten, als diese Gruppe gemeinsam für ein Jahr in den Wald gegangen ist. Das Publikum erlebt dies mit und kann in bestimmten Situationen und an einzelnen Punkten selbst Teil des Geschehens werden. Die Trennlinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart löst sich auf ebenso wie die zwischen Spiel und Realität. Die Idee dahinter ist, dass das Publikum Teil unserer Gemeinschaft wird und sich ein anderes Leben vorstellen kann.
kultur.west: Klingt das nach einer Verpflichtung zum Mitspielen?
TWARKOWSKI: Eine Idee steht über dem gesamten Projekt: Es gibt keinen Druck. Niemand ist verpflichtet, alles zu verfolgen oder alles mitzubekommen. Die Zuschauer*innen haben von Anfang an verschiedene Möglichkeiten der Teilnahme. Es gibt zwar keine klassischen Zuschauerreihen, aber Plattformen, die erlauben, alles von einer erhöhten Position aus zu betrachten. Von dort aus sieht man die Performance als live entstehenden Film, der auf zwei Leinwände projiziert wird. Auch während des Schlussteils der Inszenierung, dem Rave, lässt sich das Ganze aus der Distanz verfolgen. Dabei eröffnet sich ein besonderer Blick: als ob man von einem Hügel aus auf eine im Tanz vereinte Gemeinschaft blickt.
kultur.west: Während Sie an »Respublika« arbeiteten, begann die Pandemie. Hat die Produktion dadurch eine andere Bedeutung bekommen?
TWARKOWSKI: Unsere große Befürchtung ist, dass die zur Eindämmung des Corona-Virus ergriffenen politischen Maßnahmen gewaltige, lang’ nachwirkende Folgen für die Kunst und unser Leben im Allgemeinen haben werden. Sie stärken konservative und letztlich auch äußerst rechte Positionen. Die Einschränkung sozialer Kontakte und die Furcht davor, Flüssigkeiten und anderes mit anderen Menschen auszutauschen, schaffen ein konservativeres Klima innerhalb der Gesellschaft. Etwas, das den Ideen und Absichten unserer Arbeit entgegensteht.
kultur.west: Hilft Theater, diese Wendung zum Konservativen wieder rückgängig zu machen?
TWARKOWSKI: Eine der schönsten Erfahrungen für uns ist, wenn nach einer Vorstellung Zuschauer*innen sich bei uns bedanken, weil sie für diese sechs Stunden das Gefühl hatten, Teil einer größeren Community gewesen zu sein. Dieses Gefühl ist in unserer heutigen Zeit so selten. Meistens fühlen wir uns fremd und entfremdet. Wir haben kaum einmal den Eindruck, etwas verändern zu können. Dafür müssen wir wie in »Respublika« in einem Raum sein, der Alternativen zum gesellschaftlichen Status quo eröffnet. Insofern kann die Inszenierung ein wenig Hoffnung geben.
Zur Person
Der 1983 geborene Theatermacher und Videokünstler Łukasz Twarkowski verbindet in seinen Arbeiten Theater, Film, Musik und Bildende Kunst zu immersiven Performances. Für seine 2017 am Nationaltheater in Vilnius entstandene Inszenierung »Lokis« hat er das »Goldene Kreuz«, Litauens höchste Theaterauszeichnung, erhalten.
»Respublika«, Premiere: 9. September, Auff.: 10., 15., 16. & 17. September, Jahrhunderthalle Bochum. Am 17. findet im Anschluss an die Vorstellung ein Rave statt: »The Third Room X Respublika«.
Ruhrtriennale: Der Bild-Erzähler Julian Rosefeldt zeigt in seiner neuen Filminstallation »Euphoria« über 2000 Jahre Kapitalismus und die Gier des Menschen auf der Zeche Zollverein in Essen. Ein Porträt.
Am Ende ein marodierender Tiger, der spricht und sogar singt. So viel lässt Julian Rosefeldt wissen über seine neue filmische Installation. Nein, der Künstler tanzt nicht ab. »Euphoria« geht nicht to the Musicals, auch wenn sich in einer der sechs alltäglichen Szenen, die freilich einen »surrealen Twist« bekommen, eine Gruppe von Geld-Verwahrern und -Verschleuderern formiert. Während die Band paukt und trompetet, steppen sie, erblühen in einer Choreografie, die Busby Berkeley für Hollywood einstudiert haben könnte, und tollen übermütig, als gäbe es niemals einen Schwarzen Freitag. Dieser Entertainment-Moment sei die »Klimax« der 90 Minuten, sagt Rosefeldt: Die Musik (sie stammt vom kanadischen Komponisten Samy Moussa sowie der Britin Cassie Kinoshi; weitere Mitwirkende sind der Brooklyn Youth Chorus und fünf renommierte Jazzschlagzeuger) setze dabei einen »ex machina-Effekt«.
Geredet werde viel, mehr als von ihm gewohnt, so der Künstler, der zum Zeitpunkt unseres Gesprächs Robert Schumanns »Faust-Szenen« an der Vlaamse Opera in Antwerpen probt. Die Figuren in »Euphoria« sind im Abseits zuhause: Obdachlose, Kinder vom sozialen Rand oder ein Taxifahrer im winterlichen New York als Hommage an Jim Jarmusch. Giancarlo Esposito, der 1991 als Yoyo neben Armin Mueller-Stahl im Ford Crown Victoria durch Brooklyn fuhr, ist bei Rosefeldt 2022 seinem Beruf am Steuer treu geblieben. Er und die anderen »Marginalisierten« referieren und diskutieren ökonomische Theorien in der ‚Revue’ zur menschlichen Gier entlang von Zeiten, Kulturen und Gesellschaften, entlang von Wirtschafts-Philosophie und (anti)kapitalistischer Kritik.
Drehort für das Kronleuchter-geschmückte Marmorfoyer der American National Bank war der Hauptbahnhof von Kiew. Vier »Euphoria«-Szenen entstanden in der ukrainischen Hauptstadt – bis kurz vor Beginn des Krieges, den man einen europäischen nennen sollte und der selbst beweist, wie sich politische Unrechts-Brutalität wirtschaftlicher Mittel bedient, um Macht auszuüben, zu erpressen und global Krisen zu erzeugen. Sofia, Potsdam-Babelsberg und New York waren weitere Stationen des Filmteams.
Unwissen als Ausgangspunkt
Die Beschäftigung mit »Euphoria« reiche zurück bis 2013, sagt Rosefeldt. Wie so oft sei »der Ausgangspunkt mein eigenes Unwissen« und ein »Sich-schlau-Machen« zu einem Thema, dessen Stoff collagiert, reduziert und kondensiert werde. Rosefeldt spricht lieber von Zuständen als von Situationen mit Blick auf seine filmischen Versuchsanordnungen, in denen Opulenz, aufklärerischer Impetus und analytisches Denken zusammenfinden. Durch die Reibung zwischen Text, Ort und Handlung entstehe ein »seltsames Zerknirsche« und das Klima von Absurdität. Unbewusstes, das auch die Surrealisten angezapft haben, schiebt sich aus unzugänglichen Regionen ans Helle vor.
Aus dem Feuer, das im Prolog der Filminstallation »Manifesto« (u.a. 2016 auch auf der Ruhrtriennale präsentiert) flackert, steigen Flammen kunstrevolutionären Geistes und breiten sich aus zum Flächenbrand. Die zwölf Episoden mit immer derselben Darstellerin Cate Blanchett in wechselnder Maske und Rolle füllen als Parallelprojektion auf Leinwänden die Ausstellungsräume. Man kann jede Miniatur für sich anschauen oder aber in Wendemanövern des Kopfes, gewissermaßen in der Totale und mit einem Augen-Schwenk mehrere short stories gleichzeitig als multiple Performance, experimentelles Sprechkonzert, Bewusstseinsstrom auf sich wirken lassen.
Reizung gehört zur Methode Rosefeldt, der auch den Speicher der Musik, Kunstgeschichte, Architektur und Filmgeschichte für seine Bilder und Erzählungen anzapft. Es ist eine andere weltweite Heimatkunde, die in München ihren Ausgang nahm. Der Architekturstudent schrieb seine Diplomarbeit über die »Stadt im Verborgenen«: Münchens im Stadtbild ausgelöschte dunkle Vergangenheit, so dass NSDAP-Täterorte zum Verschwinden gebracht worden waren. Der frühe Film »Detonation« (1996) lässt Industrieanlagen, Hochhäuser und ein steinernes Hakenkreuz-Monument in die Luft fliegen – stummer Kommentar zur Zeitgeschichte. Einen solchen wiederholt er in Kriegsszenen und Doku-Material vom Fluchtziel New York in »Meine Kunst kriegt hier zu fressen – Hommage à Max Beckmann« (2002) oder im flackernd aufgenommenen Foto eines »Unknown Soldier« (2007).
Rosefeldt stellt Zersetzungszustände in und mit seinen Dystopien, Rebellionen, poetischen Pamphleten und Klagegesängen her. Das suggestiv Assoziative ist seine rhetorische Figur, ob in eine kritisch-ironische Pointe gefasst, dramatisch aufrührerisch oder von stiller Kraft, eingedenk, dass wie auch immer politisch aufgeladene Manifeste im Kunstraum gut, vielleicht überhaupt am besten aufgehoben sind. Dabei ist ihm das »Dilemma« bewusst, dass die Kunstszene ein weitgehend geschossener Kreis sei, in dem »preaching for the saved« vorherrsche. In der Black Box des Kinos sieht er indes den demokratisch offeneren Raum gegenüber dem White Cube der Kunsthallen. Das mag auch wieder ein Problem sein, denn der leichter konsumierbare Film macht anfällig für Propaganda.
1965 in München geboren und in Berlin als Fotograf, Videokünstler und Filmemacher zuhause, ist der zivilisationsskeptische Rosefeldt Augenzeuge unserer Irrtümer, Sündenfälle und Hybris. Die Welt ist ein gefährdeter Fremdkörper und beschädigtes Wesen wie in Rosefeldts Wald-»Requiem«. Wir geraten bei ihm ins Dickicht der Städte oder in eine unberührte bzw. deformierte Natur, aber noch im Schäbigen, Bedrückenden, Bedrohlichen sind die Bildentwürfe magisch aufgeladen. In »Manifesto« zitiert Rosefeldt Passagen u.a. von Tristan Tzara, Bruno Taut, Malewitsch, Marinetti, Sol LeWitt und legt sie Blanchett in den Mund (oder lässt sie als voice over hören). Darin enthalten auch das eine und andere Glaubensbekenntnis Rosefeldts, jedenfalls lässt es sich so deuten. Etwa von André Breton: »Ich glaube an die künftige Auflösung der beiden äußerlich so widersprüchlichen Zustände – Traum und Wirklichkeit«.
Rosefeldt hantiert mit dem Instrumentarium des Kinos (»The Opening / Laterna Magica«, 2007/09), teilt in Split-Screen-Technik die Bildfläche auf, demontiert Genre-Elemente (die des Thrillers in »The Swap«, 2015), knöpft sich gewitzt den Charakter des »Perfectionist« (2005) und seiner vergeblichen Anstrengung vor, als sei er radikaler Nachfolger von Jacques Tati. Wir erkunden ausgemergelte Landschaften mit Zivilisationsresten, einer mächtigen Tempelanlage, einer monströsen Industrieruine, durch die sich Menschlein in Schutzanzügen wie Eroberer und Entdecker, eigentlich mehr wie Verlorene und Gestrandete bewegen, wimmeln, ausschwärmen und Muster bilden (»In the Land of Drought«, 2015/17).
»Lust is a force«
In dem schwarzweißen »Deep Gold« stürzt sich ein eleganter Mann im Smoking vom Balkon, irrt durch abgewrackte Straßen und freudlose Gassen, über die ein Luftballon in Zeppelinform fliegt, während Nackte spazieren, die einen marschieren, andere hinken oder tanzen, und ein Lautsprecherwagen die Namen berühmter Stars, Künstlerinnen, Dichterinnen ausruft.
Ähnliches passiert in »Manifesto« mit Blanchett als Puppenmacherin, die Heroen der Geistes- und Monster der Weltgeschichte, Diktatoren, Ideologen, Celebrities auf handliches Format schrumpft. Wir betrachten so: Freud, Marx und Jelinek, Marlene, Marilyn und King Kong, Rosa Luxemburg und Mutter Teresa, Lenin, Brecht und Gandhi… – Rosefeldt greift sich beherzt das ganze Pantheon und Walhall.
Zurück zu »Deep Gold«. Der Mann im Abendanzug strandet in einer Bar, wo eine männliche Josephine Baker auftritt, Tänze des Lasters über die Bühne gehen und eine Kokotte Isoldes Liebestod singt, bevor der Blick hinter die Kulissen auf die Filmcrew samt Catering-Bude die letzte Illusion zerstört. Die Schlusseinstellung zeigt die Auslage eines Spielzeugladens mit einem Traumschloss wie Neuschwanstein; davor parkt ein Reisebus mit der Aufschrift »Lust is a Force«.
Das Befremden gegenüber der Welt, ihren Gestalten und Gestaltungen, Orten und Un-Orten, ihren Begehrlichkeiten und Untugenden bricht bei Rosefeldt auf zu sensationellen Exkursionen in Rituale des Alltags, zu denen an vorderer Stelle die Arbeit gehört. Zur Schicht (»The Shift«, 2008), die nicht nur aus Brotzeit und Kaffee besteht, gehört in der Montage und Soundsinfonie das Begehen und Bewachen einer Computer-Apparatur, von unterweltlichen Stollen, Hallen, Sälen, Archiven, Fluren, Treppenhäusern, bis die Leinwand sich zum absoluten Film abstrahiert.
In dem neunteiligen, jeweils 50-minütigen Zyklus »Asylum« (2001/02) konfrontiert sich in der letzten Episode eine Gruppe junger Männer, alles Schwarze, in der Münchner Gipsabdrucksammlung lautlos mit den reinweißen Kopien antiker Statuen. Ab und an holen sie unter ihren schwarzen Blousons bunte Püppchen hervor, die sie lärmen und tanzen lassen. Es bedarf keiner Worte, um diese doppelte Provokation zu erfassen. Eine Irritation, umso größer, als der Schock scheinbar gemildert wird durch das Schöne des Arrangements.
»Euphoria«, 90 Min., Eröffnung: 25. August, 18 bis 21 Uhr, bis 10.9., jeweils 12 bis 19.30 Uhr, Halle 5, UNESCO Welterbe Zollverein, Essen.
Das Bühnen-Modell für »Ich geh unter lauter Schatten«. Foto: Christoph Sebastian / Ruhrtriennale 2022
Musiktheater bei der Ruhrtriennale: »Ich geh unter lauter Schatten« beschäftigt sich in Gedichten und Gesängen mit letzten Fragen. »Haus« nach dem Kammerzyklus von Sarah Nemtsov misst den Raum neu aus.
Was ist denn das für eine Zeit –?
Die Wälder sind voll von Traumgetier.
Wenn ich nur wüsste, wer immer so schreit.
Weiß nicht einmal, ob es regnet oder schneit,
ob du erfrierst auf dem Weg zu mir –
Der Schweizer Schriftsteller und Buchdrucker Alexander Xaver Gwerder (1923 bis 1952) hat die Entfremdung von sich und der Welt zum Thema seiner Gedichte gemacht. Sein Leben war eine kontinuierliche Rebellion gegen das spießige Bürgertum und dessen Ordnungsvorstellungen, mit widersprüchlichen Konsequenzen: Zeitweise ein Hitler-Bewunderer, protestierte er nach dem Krieg gegen den Militärdienst, führte eine konfliktreiche Ehe und versuchte sich 1952 gemeinsam mit seiner 19-jährigen Geliebten in Südfrankreich umzubringen ‒ sie überlebte, Gwerder starb mit 29 Jahren.
»Ich geh unter lauter Schatten«, der Titel von Gwerders oben zitiertem Gedicht, steht auch über einem Musiktheater-Projekt bei der Ruhrtriennale. Das tragische Schicksal des Dichters spielt dabei keine zentrale Rolle ‒ aber es ist für die Regisseurin Elisabeth Stöppler und das Festivalteam eine Anregung, sich noch einmal mit dem Thema Tod zu beschäftigen. Schon 2021 wurden die numinosen, grotesken, gewaltsamen oder schicksalhaften Aspekte des Todes von unterschiedlichen theatralen Seiten beleuchtet. In dieser Saison dominiert das Motiv der Schwellenüberschreitung und die Frage, welche Welt uns jenseits der bekannten und manchmal unerträglich gewordenen Erfahrungen erwartet. Wobei es für die Musikdramaturgin Barbara Eckle diesmal weniger um Schrecken, Schuld und Sühne geht: »In diesem Jahr wird schöner gestorben oder versöhnlicher oder auch mit einem offeneren Ende.« Und welche menschliche Ausdrucksform könnte die nicht-erfahrbare Dimension des Lebens ‒ nämlich sein Ende ‒ besser mit Sinn und Sinnlichkeit versehen als die Kunst?
Grenzerfahrungen
Im Musiktheater »Ich geh unter lauter Schatten« erklingen mehrere Konzertwerke über Grenzerfahrungen. Im Zentrum stehen die Quatre chants pour franchir le seuil (Vier Gesänge zur Überschreitung der Schwelle), ein Gesangszyklus für Sopran und Ensemble des Franzosen Gérard Grisey, der 1998 mit 52 Jahren an einem Aneurysma starb. Jahrzehnte lang hatte Grisey eher »abstrakt« komponiert und auf höchst brillante Weise die wissenschaftliche Frequenzanalyse von Klängen in davon abgeleitete, faszinierende »„espaces acoustiques« laufen lassen. Dass er ausgerechnet in seinem letzten Werk, den Quatre chants, konkret wurde, ist als Vorahnung und Vorübung der eigenen Schwellenüberschreitung gedeutet worden. »Jeder muss seinen eigenen Tod sterben können«, sagt Barbara Eckle, »man muss das lernen. Und manchmal empfindet man den Tod eben nicht als Fallbeil, nach dem alles zu Ende ist, sondern als eine Öffnung, als einen Weg ins Licht.«
Die Lichtmetapher erscheint bei Grisey im zweiten Gesang nach fragmentarisch erhaltenen Inschriften auf ägyptischen Sarkophagen. Aber auch das Hand-Anlegen ans eigene Leben spielt eine Rolle. Und zuletzt, in einem zarten Wiegenlied, steht einmal mehr die Erhellung nach dem Dunkel: »Ich öffnete ein Fenster, und das Tageslicht fiel auf meine Wange …« Die Regisseurin Elisabeth Stöppler will den Gesangspart der Quatre chants auf vier Sängerinnen verteilen, die auf ihren Wanderungen durch den hohen Saal 1 der Bochumer Jahrhunderthalle jeweils ihren individuellen Tod erleben; der Bühnenbildner Hermann Feuchter hat dafür Stege vorgesehen, die ins Reich der Schatten führen.
Aber sie sind im Laufe des Abends nicht allein: Das Chorwerk Ruhr wird das innovative Stück Nuits für zwölf Stimmen a cappella beisteuern, mit dem Iannis Xenakis 1967 den politischen Gefangenen in seiner von den Obristen kontrollierten Heimat Griechenland eine Stimme gab. Der Chor spielt auch eine gewichtige Rolle in Claude Viviers Werk mit dem prophetischen Titel »Glaubst du an die Unsterblichkeit der Seele« ‒ dem letzten Opus der Frankokanadiers mit der abgründigen Biografie, der mit 34 Jahren in Paris von einem Strichjungen auf brutale Weise ermordet wurde. Fast könnte man aufgrund der Andeutungen im Opus ultimum vermuten, dass dieser Tod nicht im Affekt stattfand, sondern als grausames Ritual geplant war ‒ eine inszenierte Schwellenüberschreitung.
Mit dem Projekt »Ich geh unter lauter Schatten« knüpft die Ruhrtriennale offensiver als im letzten Jahr an die Idee der »Kreationen« an ‒ damit hatte der Festivalgründer Gerard Mortier vor zwanzig Jahren den Dialog mit der besonderen Industrie-Architektur eingeläutet. In der Rückschau gerieten diese Dialoge höchst unterschiedlich. Neben der schieren Größe der Hallen und der erst allmählich gewachsenen Infrastruktur war es vor allem der morbide Charme der Turbinenhallen und Kraftzentralen mit ihren dinosaurierhaften Maschinenrelikten, der als Inspiration und Hindernis gleichzeitig wirkte. Schon Mortier war die Revier-Nostalgie suspekt, ach seine Nachfolger*innen versuchten den Kontext von Arbeit und Geschichte durch heutige Themen und Theaterformen neu erlebbar zu machen. Die Dramaturgin Barbara Eckle sieht es jedenfalls als große Chance für das Genre Musiktheater, »dass man aus diesen Räumen, die einfach keine klassischen Musiktheater-Räume sind, das Genre anders denken und neu konfigurieren kann. Für mich sind das Orte, wo etwas ausprobiert werden kann, das andere dann vielleicht weiterdenken und in einem Kanon des Möglichen aufnehmen können«.
Solche neuen »Konfigurationen« darf man vor allem von »Haus« erwarten, einer »musiktheatralen Raumperformance« nach dem gleichnamigen Kammerzyklus der Berliner Komponistin Sarah Nemtsov.
Dies ist ein dunkles Haus, sehr groß.
Ich selbst habe es gebaut.
Zelle für Zelle aus einer stillen Ecke …
So lauten die ersten Zeilen des Gedichts von Sylvia Plath, das Nemtsov als Ausgangspunkt für ihr eigenes tönendes Haus aus »Keller«, »Kammer«, »Zimmern«, »Halle« und »Luke« dient (einige Stück wurden im Auftrag der Ruhrtriennale komponiert). Das Haus als Metapher für einen Lebensraum, der Schutz bietet, organisch wächst und schrumpft, aber auch einengen und den Atem nehmen kann ‒ das soll sich in der sehr körperlichen, elektronisch angereicherten Musik, aber auch in der Inszenierung von Heinrich Horwitz spiegeln.
Horwitz hat gemeinsam mit der Videokünstlerin Rosa Wernecke eine Mischung aus Installation und Parcours entworfen, der durch normalerweise unzugängliche Räume der Turbinenhalle auf dem Gebiet des einstigen »Bochumer Vereins« führt. Geplant ist ein Spektakel aus Choreografie, Videoszenerie, Prozession und Live-Musik ‒ kulminierend im Bespielen der Fassade der Turbinenhalle mit Bildern und Nemtsovs drummed variation für Kaoss Pad, das die Techno-Beats liefert. Dafür ein nicht wenig chaotisches Drumset: »eine Art Schrotthaufen, Sägeblatt und verbeultes Becken statt Hihat, Eimer ähnlich wie bei streetdrums, ein Karton, Stuhl oder eine Bierkiste«, so Nemtsov. Gewiss eine eigenwillig originelle Art, die Überreste von Arbeit und Alltag im Ruhrgebiet wieder lebbar und fruchtbar zu machen.
Einschreibungen in den Körper reflektieren: Die aus der Karibik stammende Choreografin und Tänzerin Ligia Lewis bringt ihr Stück »A Plot / A Scandal« aus Berlin nach Bochum zur Ruhrtriennale.
Totenköpfe verschiedener Größe liegen auf einem Fellteppich. Der Holzboden im Studio 6 der Berliner Uferstudios ist mit einer kupferfarbenen Folie bezogen. Im Zusammenspiel mit der Beleuchtung verleiht das den Körpern der Tänzer*innen etwas Schimmerndes. Ligia Lewis hat soeben die Proben zu ihrem Stück »A Plot / A Scandal« beendet, dessen Vorpremiere die Ruhrtriennale präsentiert. Lewis besinnt sich darin auf ihre karibischen Wurzeln: »Ich beziehe mich explizit auf die Dominikanische Republik, von wo meine Familie stammt«. Inspiriert ist es von der Geschichte ihrer Urgroßmutter, die Ende des 18. Jahrhunderts in dem Dorf Dios Dirá geboren wurde. »Sie praktizierte Vodoo, was damals verboten war.«
Lewis schlägt auch einen Bogen in die Gegenwart. Viele der schwarzen Landarbeiter in Dios Dirá wurden jüngst von ausländischen Investoren vertrieben. Sie bewirtschaften das Land schon seit Jahrhunderten, haben aber keine Papiere. »Land betrachten sie nicht als Eigentum«, erklärt Lewis. Der »Skandal«, auf den sie im Titel anspielt, sei das kapitalistische Konzept von Eigentum. Das Thema wolle sie aber weder auf erzählerische noch auf exotisierende Weise verhandeln, stellt sie klar.
Ligia Lewis wurde in Santo Domingo geboren, aufgewachsen ist sie in Florida. Seit 2009 hat sie in Berlin ihre künstlerische Heimat. In den zurückliegenden Jahren legte sie eine erstaunliche Karriere hin und sorgte mit ihrer Trilogie »BLUE, RED, WHITE« hierzulande für Furore. Das verschaffte ihr auch eine größere Aufmerksamkeit in den Vereinigten Staaten. Los Angeles wurde mittlerweile ihre zweite homebase.
Auseinandersetzung mit Blackness
Nach Abschluss des Studiums von Tanz und Choreografie in den USA, ist Lewis nach Europa gegangen, tanzte mit Alain Platels Les Ballets C de la B, arbeitete für freie Choreograf*innen; daneben hat sie immer schon kleinere Projekte realisiert. 2014 sah sie dann die politische Dringlichkeit, etwas Eigenes zu kreieren. Sie wollte »etwas ausdrücken, was meiner Ansicht nach in der europäischen Tanzszene nicht artikuliert wurde«. Ihr gehe es »um eine kritische Reflexion über race und Verkörperung«.
In ihren Performances nimmt Ligia Lewis die gesellschaftlichen Einschreibungen in den Körper in den Blick: eine Auseinandersetzung mit Blackness, auch wenn das Thema nicht immer explizit verhandelt wird. Ausgehend zwar von politischen Fragen, seien sie »doch keine simplen politischen »Statements«. Das Trio »minor matter«, der zweite Teil ihrer Trilogie, sei stark von der Bewegung Black Lives Matter beeinflusst, sagt Lewis. Sie beschäftige sich damit, wie man innerhalb eines weiß-dominierten Kanons von Kunstwerken eine schwarze Position mitdenken kann. Die Farbe Rot symbolisiert darin Gefühle zwischen Liebe und Wut.
Bei all ihrer Abstraktion sind Lewis’ Arbeiten bildstark und emotional aufgeladen, tendieren oft ins Fantastische und Surrealistische und offenbaren hohes formales Bewusstsein. Es finden sich zahlreiche Referenzen an die europäische Tanz- und Theatergeschichte – aber Lewis transformiert das Material aus einer schwarzen Perspektive. Die Stücke fügen sich zum ausgeklügelten Zusammenspiel aus Bewegung, Text, Musik und Licht. Sie möchte »Bilder erschaffen, die einen Nachhall haben, die mehr ausdrücken, als Sprache es vermag«.
Sie habe dafür ihre spezielle Praxis entwickelt: »Ich gehe jeden Tag ins Studio und mache sehr seltsame Sachen«, erzählt sie lachend. Sie wolle die erlernten Bewegungsmuster destabilisieren, um so zu neuen Formen von Ausdruck zu gelangen. Mehrere ihrer Stücke, die auf Prinzipien des Spiels und der Unordnung basieren, wurden mit einem multiethnischen Ensemble erarbeitet. Mit ihrer Poetik der Dunkelheit und der Dissonanz erforscht sie auf komplexe Weise die kulturelle und ethnische Differenz. Tanz als Darstellung einer widerständigen Position.
»A Plot / A Scandal« von Ligia Lewis
Vor-Premiere: 12. August, Auff.: 13. und 14. August
Barbara Frey. Foto: Daniel Sadrowski / Ruhrtriennale
Ruhrtriennale-Intendantin Barbara Frey inszeniert »Das weite Land«. Ein Gespräch über Arthur Schnitzler, seine Tonalität und unsere Gegenwart, Todesangst, Trägheit und die Armee der Schatten.
»Auffallend ist, wie schlecht der Mann überhaupt in Ihren Dichtungen wegkommt, so schlecht, dass man versucht ist , an ein klein wenig Verleumdung zu glauben.« Schreibt ihm Lou Andreas-Salomé und spricht mit Blick auf sein, auf Arthur Schnitzlers »Ein Märchen« auch vom »überspannten Mann«. Sein Drama »Das weite Land«, das Barbara Frey mit dem Ensemble des Burgtheaters, darunter Bibiana Beglau und Michael Maertens, inszeniert, führt solche Männer und Frauen vor, die sind, was sie sind und darüber hinaus Repräsentant*innen einer Epoche, gerade auch als Gefühlsepoche.
Im Wien der Jahrhundertwende wurde das menschliche Haus ausgeräumt. Ein Kehraus: Egon Schiele malt den Menschen zum Lust-Skelett herab, Karl Kraus sucht ihn heim mit seinem publizistischen Jüngsten Gericht, Elias Canetti legt sein Wahnsystem bloß, Arnold Schönberg sticht ihm ins Ohr und pfeift auf Melodisches. Hofmannsthal erkennt die Ich- und Sprachkrise und wie die abstrakten Worte ihm »im Munde wie modrige Pilze« zerfallen. Und der Übervater Sigmund Freud nimmt ihm seinen Traum von der Herrschaft über Körper, Geist und Seele.
Arthur Schnitzler ist einer von ihnen. Seit seinem »Anatol« ein Spezialist für die Krankheit des Menschseins. Er überführt die Psychoanalyse in die Dichtung, ohne einen Begriff davon zu haben, mehr aus »geheimer Kenntnis« und »Intuition«, so Freud verwundert in einem Brief an ihn. Beide waren Männer des Buches, der jüdische Schriftsteller und Mediziner, und der jüdische Forscher, der mit seinen theoretischen Schriften auch Literatur schrieb.
Das ist der Befund. Das ist die Lage vor dem »Donnerschlag«, der das »Weltfest des Todes« ankündigt, so Thomas Mann auf der letzten Seite seines »Zauberberg«-Romans. Er meint den die europäische »Welt von Gestern« (Stefan Zweig) umstürzenden Ersten Weltkrieg.
Kein Gefühl für die Welt
All diese Künstler-Diagnostiker, Fackel-Träger, Untertage-Schürfende aber sind keine Schlafwandler, vielmehr aufgeweckt bis an die Schmerzgrenze. Barbara Frey erkennt bei ihnen ebenfalls »das Hellwache, Quecksilbrige«, besonders bei den – wie Schnitzler – jüdischen Intellektuellen und Künstlern und ihrer »Multiperspektivität«, die sie benötigt hätten zur Verteidigung gegen Angriffe. Taumeln und irre gehen tun ihre Zeitgenossen, Figuren und Patient*innen, kurzsichtig in ihren Eigeninteressen, Egoismen, Geschäften, Eitelkeiten, Neurasthenien und »Herzensschlampereien«.
Bei Schnitzler – »Das weite Land« wird 1910 wie selbstverständlich in St. Petersburg als einer europäischen Metropole uraufgeführt, 1911 folgen neben Berlin, Wien und Prag weitere Bühnen – ist es die Sexualität, der erotische Reigen mit Frau und Mann vom Einen zu der Anderen und »die Pausen zwischen der einen und der anderen, die sind ja auch nicht uninteressant«, die die Blaupause abgeben für Konflikte, moralische Zerrüttungen und eine »geschäftige Inaktivität«, so der Historiker Philipp Bloom.
Frey stimmt zu: »geschäftig bei ihrem persönlichen Programm und völlig inaktiv bezogen auf eine übergeordnete Agenda. Sie haben kein Gefühl für die Welt und ihre Verantwortung darin«. Diese Gesellschaft komme ihr vor »wie ein heruntergekommener Termitenbau, in dem sich alles aufs Innerste zusammengezogen hat und ein Bewusstsein für die Gesamtarchitektur« fehle. Da verbindet sich die damalige Vorkriegsepoche mit unserer. Wobei Frey erklärt: »Dystopien sind mir zu billig. Mich beschäftigt die Analyse.« Mit Blick auf den Diagnostiker Schnitzler erinnert sie eine auf Flaubert bezogene Sentenz: »Sezieren ist eine Rache«.
Rache wofür? Womöglich für das Begehen der siebenten Todsünde – acedia, der Trägheit. In dieser Gleichgültigkeit erkennt Frey eine »Schutzfunktion gegenüber der absoluten Todesangst, die im Zentrum des Stücks steht«. Nur, funktionieren tue es nicht. Angefangen bei Friedrich Hofreiter, diesem Don Juan, für den »Sexualität der einzige Transmitter« sei und der weibliche Körper konsumiere, um das Sterben zu verleugnen.
Keine Ruhezone
Die seelische Entfremdung, Liebes-Betrug und leere Lust, Lüge und Selbstlüge, Strafe und Selbstbestrafung zwischen dem Ehepaar Friedrich und Genia Hofreiter, ihren Amouren und dem Freundeskreis in »Das weite Land« liegen wie ein Schattenriss auf der brüchigen Fassade aller Lebensbereiche. Der Ehrbegriff ist fad geworden. Die bürgerliche Klasse hat ihre eigene einst progressive Verfasstheit entwertet. Gleichgültigkeit ist es, die 1914 die vierjährige Urkatastrophe mitverursacht, an deren Ende das Schaffen neuer Ordnungen doch wiederum nur einen anderen Zwischenzustand statuiert, der nach zwei Jahrzehnten der Unruhe und Erregung auf ein noch grausigeres »Weltfest« hinausläuft.
Sie könne »keine Ruhezone finden in den fünf Akten«, sagt Frey, »nur Mutmaßungen, Argwohn, Verdacht, Sucht zu überwachen, keine Zärtlichkeit, keine Freundschaft«. Vielmehr »eine schwarze Zone« zwischen zwei Toden, dem Suizid am Beginn und einem unsinnigen Tod im Duell zum Ende. Jede Bemerkung der Figuren falle wie »ein Axthieb«. Nein, das sei kein Plauderton, wie er sich mit Schnitzler gemeinhin verbinde, vielleicht um ihn im Parlando zu verharmlosen. Die Musikerin Barbara Frey hat ein empfindliches Gehör. »Es ist ein anderer Alarmzustand. Von der ersten Zeile an wird bar bezahlt.«
Schnitzler schreibt Spreng-Sätze. Aber es schallt kein Ruf wie Donnerhall, vielmehr erklingt eine Melodie, die von dem um einige Jahrzehnte älteren Wiener Franz Schubert hätte komponiert sein können. Bei dem war der Tod auch ständiger Begleiter. Wie hält Frey es mit Schnitzlers Sprache, seiner Tonalität, wie sie sagt: »Im Wandel der Zeiten ändern sich auch Tonalitäten«. Sie sei knapp und scharf gestellt und gehe nicht in die Breite.
Mit ihrem Ensemble, erzählt Barbara Frey, habe sie sich Jean-Pierre Melvilles filmisches Kriegsdrama »Armee im Schatten« von 1969 angeschaut über Frankreich während der Besatzung: Résistance und Konspiration, Verrat und Misstrauen. Jeder des anderen möglicher Feind. Schnitzlers Drama ist auch ein Stück ‚Schwarze Serie’, seine Figuren bilden eine andere Armee der Schatten.
Arthur Schnitzler, »Das weite Land«, Regie: Barbara Frey
Premiere: 20. August, Aufführungen.: 22., 24. bis 26. August