30 Veranstaltungen, 18 Uraufführungen, zwölf Spielstätten – das Festival »Acht Brücken« macht die Domstadt im Mai zur Drehscheibe Neuer Musik. Als »Porträtkomponist« steht Enno Poppe im Rampenlicht.
»Feine Unterschiede«, so lautet in diesem Jahr das nuancenreiche Motto des Festivals, das seit 2011 existiert. Immer im Mai wird die Kölner Philharmonie zum Ausgangspunkt einer musikalischen Allianz, die Neue Musik, Weltmusik, Jazz und sogar Pop umspannt. Den Radius anspruchsvoller zeitgenössischer Kunst zu erweitern, das steht im Zentrum des Konzepts, das mit mehreren Spielstätten in den urbanen Raum ausgreift. Erstmals dabei sind St. Maria im Kapitol, St. Ursula und die Wolkenburg. In Form von Performances, Ausstellungen und Filmen vollzieht das Festival überdies den Brückenschlag zu anderen künstlerischen Disziplinen.
Ein Bewusstsein für die »feinen tonalen Unterschiede« wecken will bei der 14. Ausgabe Louwrens Langevoort, Festivalchef und Intendant der Kölner Philharmonie. Unwillkürlich neigten wir dazu, die westeuropäisch geprägte Musiktradition mit der Etablierung der temperierten Stimmung und der Einteilung der Oktave in zwölf Halbtonschritte zu sehr in den Vordergrund zu rücken, womöglich gar zu verabsolutieren. Dabei gerate in Vergessenheit, dass unterschiedliche musikalischen Kulturen ganz verschiedene Tonsysteme entwickelt hätten.
Musikalischer Grenzgänger
»Acht Brücken« lädt ein zur akustischen Horizonterweiterung und feiert mit Enno Poppe einen virtuosen musikalischen Grenzgänger. Der Komponist und Dirigent, geboren 1969 im sauerländischen Hemer, zählt zu den herausragenden jüngeren Vertretern Neuer Musik – und allemal zu den originellsten. »Ich will etwas erleben, wenn ich Musik höre«, hat Poppe gesagt. Definitiv ein Erlebnis sind seine eigenen Konzerte. Kein Wunder, dass Enno Poppe Stammgast ist sowohl bei den Neue-Musik-Festivals in Donaueschingen und den Wittener Tagen für Neue Kammermusik als auch bei den Salzburger Festspielen.
Immerhin zehn Werke des »Porträtkomponisten« erklingen während des Festivalzeitraums in Köln. François-Xavier Paul Roth, Generalmusikdirektor der Stadt Köln und als Dirigent von Poppe hochgeschätzt, steht am Pult, wenn »Strom«, das neue Werk des Komponisten, am 12. Mai seine Premiere erlebt. Ein Stück, das der Meister der Mikrotonalität mit unzähligen kleinen Tonschritten strukturiert hat. Poppe: »Das ist für das Orchester eine unheimliche Herausforderung, sie werden vollkommen neue Akkorde spielen«. Das zweite neue Werk von Enno Poppe kommt am Abschlusstag zur Aufführung: Dann interpretiert das Ensemble Recherche »Laub« für Septett, ein filigranes Stück, das sich verästelt und porentief ins Gehör geht.
Beim offiziellen Eröffnungskonzert des Festivals, das am 5. Mai in der Kölner Philharmonie über die Bühne geht, präsentiert das Ensemble Musikfabrik Enno Poppes Werk »Prozession«. Geschrieben hat er es 2020, während des Corona-Lockdowns, für das Kölner Ensemble. Damals war die Uraufführung nur per Stream möglich; unter realen Bedingungen findet die einstündige Sound-Prozession erst jetzt statt.
Das Festival startet mit dem »Acht Brücken Freihafen«, einem Tag mit »Musik von heute« in der Kölner Philharmonie und im WDR Funkhaus am Wallrafplatz. Der Eintritt ist frei. Weitere Highlights: die »Composer‘s Kitchen« des in Montreal beheimateten Streichquartetts Quatuor Bozzini (7.5.), ein Auftritt des Trio Abstrakt (»The Fall«) sowie traditionelle Musik aus Bangalore, dargebracht vom Trio Swaralayaamaaya (10.5.). Dass sich »Acht Brücken« auch im aktuellen politischen Diskurs positioniert, unterstreicht eine installative Konzertperformance, die am 8. Mai in St. Ursula stattfindet: Gerhard Haugg und Ludger Schneider präsentieren mit »f-d-g-(D)o (Freiheitlich-demokratische Grundordnung)« eine Hommage an die Demokratie.
Nach 28 Jahren steht das Klavier-Festival Ruhr unter der neuen Leitung von Katrin Zagrosek. Sie setzt auf Kontinuität, hat aber auch Ideen zu Veränderungen – wie der Abschaffungen des Festival-Preises.
kultur.west:Frau Zagrosek, das Programmheft des Klavier-Festivals sieht jetzt anders aus, ist auf Recyclingpapier gedruckt und beginnt mit Portraits der Künstler*innen und Themen-Schwerpunkten. Welche weiteren Veränderungen konnten Sie in Ihrem ersten Jahr schon umsetzen? ZAGROSEK: Bei einem Erfolgsprodukt, das nach so langer Zeit übergeben wird, ist mir erst einmal Kontinuität extrem wichtig. Es leben in der Region viele Fans des Festivals, ein großes Stammpublikum. Eines der wichtigsten Markenzeichen ist und bleibt, überregional und international hochkarätige und spannende Pianisten unserer Zeit einzuladen. Das bleibt bestehen, Veränderungen sollten evolutionär, nicht revolutionär vonstattengehen. Ich ziele darauf, etwas mehr Schwerpunktlinien im Programm aufzubauen und nicht über diese zehn, elf Wochen nur heute hier und morgen dort zu sein, wie in so einem Mosaik, die Künstler geben sich die Klinke in die Hand. Das wird ein Flächenfestival ohne eigentliches Zentrum natürlich immer mit sich bringen. Aber ich möchte dem Publikum auch einen Anlass bieten, öfter zu kommen und etwas zu entdecken, das sie vielleicht noch nicht kennen. So haben wir den Schwerpunkt zu Ferruccio Busoni, der viel für Klavier komponiert hat, aber Werke wie sein großes Klavierkonzert mit Orchester und Männerchor sind kaum bekannt. Wir führen es in einmaliger Konstellation auf.
kultur.west: Wollen Sie auch neue Spielstätten entdecken? ZAGROSEK: Auf jeden Fall. Richtiges Neuland, musikalisch und vom Ort her, ist für uns zum Beispiel Gelsenkirchen-Ückendorf. Da sind wir in der Heilig-Kreuz-Kirche, die wirklich ein spannender Bau ist. Da geht es ausschließlich um die Verbindung von Klavier und Elektronik mit ganz unterschiedlichen Künstlern wie den Grandbrothers, Michael Wollny und Francesco Tristano oder der jungen Istanbuler Künstlerin Büşra Kayıkçı. Das ist sowohl eine Einladung an das reisende Publikum, Ückendorf zu entdecken, wie auch der Versuch, die vor Ort lebenden Menschen zum Klavier-Festival zu locken. Es ist richtig und wichtig, eine Vielfalt abzubilden, nicht nur, was die musikalischen Genres angeht, sondern auch in der Ansprache des Publikums.
kultur.west: Sie haben selber bisher vor allem im Klassik-Bereich gewirkt und treten in doppeltem Sinne in die Fußstapfen großer Männer: in die Ihres Vorgängers Franz Xaver Ohnesorg, aber auch in die Ihres Vaters Lothar Zagrosek, der als Dirigent auch in der Region kein Unbekannter ist. ZAGROSEK:Ich bin tatsächlich in Solingen zur Welt gekommen, als mein Vater dort Generalmusikdirektor war. Die Frage meines beruflichen Verhältnisses zu ihm habe ich schon früh geklärt: Ich bin in der gleichen Branche tätig, habe durch ihn geprägte Neigungen wie die für die Musik, die es schwer hatte und hat, die verfemten Komponisten. Gleichzeitig bringe ich eigene Ansätze und Themen, über die ich mit ihm kaum diskutieren kann, weil unsere Sichtweisen sehr unterschiedlich sind – zum Beispiel auf Minimal Music. Und im Vergleich zu Franz Xaver Ohnesorg bin ich in jeder Hinsicht so anders: vom Alter her, vom Geschlecht her, von meiner Generation geprägt. Mir war immer klar, dass ich nicht wirklich verdächtig bin, seinen Weg 1:1 einzuschlagen. Gleichzeitig bewundere ich, was er aufgebaut hat. Es ist ein Erbe mit dem Auftrag, es zu erhalten und das bedeutet auch, es immer an die Zeit und neue Rahmenbedingungen anzupassen.
kultur.west: Das Festival wird bis heute zu 100 Prozent privat finanziert. Ging es bei der Übergabe auch um das große Netzwerk aus Unterstützer*innen? ZAGROSEK:Das war ein ganz großer Teil – Know-How über das hohe mäzenatische Engagement zu erlangen. Es besteht aus vielerlei Beziehungen, die sehr persönlich geprägt sind. Diese aufzugreifen und auf meine Art weiterhin zu pflegen ist ein wichtiger Teil meiner Aufgabe. Es ist wichtig, dass die Besserverdienenden des Ruhrgebiets wissen, dass dieses international strahlende Festival ohne ihre Unterstützung nicht möglich wäre.
kultur.west: Was hat den Ausschlag für Sie gegeben, die Aufgabe zu übernehmen? Mit einem Blick auf Ihre Berufsbiographie hätte es ja auch ein Job in einer Metropole wie Hamburg oder Wien werden können. ZAGROSEK:Der Education-Bereich war ein Punkt, bei dem ich gedacht habe, dass es sich lohnt, sich näher mit dem Festival zu beschäftigen. Klar wusste ich von den großen Namen und tollen Locations, aber mit dem Education-Programm hat Franz Xaver Ohnesorg eine Idee von den Berliner Philharmonikern mit hierher gebracht, wo es darum ging, die Kinder zu aktivieren, zu eigenen Gedanken anzuregen, sich über Musik auszudrücken – und nicht nur von einer in die andere Richtung zu vermitteln. Das ist gelungen und hier trifft der Begriff der Nachhaltigkeit wirklich einmal zu: Seit 2008, als das Projekt in Duisburg-Marxloh begonnen hat, machen wir das mit mehreren Personen, die dafür fest angestellt wurden. Wir sind zuverlässig und kontinuierlich jede Woche in Schulen in Marxloh und Bochum-Gerthe und neuerdings auch in der frühkindlichen Bildung in Kitas in Duisburg-Hochfeld tätig. In Marxloh schicken wir in alle fünf Schulen regelmäßig Tanzpädagogen und Musizierende, die meistens mit Lehrern im Tandem arbeiten. Wir stellen im Grunde genommen die kulturelle Bildung in mancher Schule. Darüber hinaus war das Ruhrgebiet, das ich vorher kaum kannte, auch von der Geschichte und den Spielstätten her sehr interessant für mich. Ich habe inzwischen meinen Lebensmittelpunkt nach Essen verlegt.
kultur.west: …und können jetzt mit dem Fahrrad ins Büro fahren. ZAGROSEK: Genau. Die fünf Kilometer lege ich gerne mit dem Fahrrad oder öffentlichen Verkehrsmitteln zurück.
kultur.west: Eine Zeitlang gab es prominente Namen als Preisträger des Klavier-Festivals Ruhr und deren Stipendiaten. Wie gehen Sie mit dem Thema Nachwuchsförderung um? ZAGROSEK:Anstelle des Preises nebst Stipendium geben wir dem Nachwuchs eine Bühne und einen eigenen Zeitraum und haben uns dazu entschieden, das unter der Überschrift »Youngsters« jeweils an vier Tagen um Fronleichnam und Christi Himmelfahrt als Reihe auf den Zechen Zollverein und Zollern zu akzentuieren. Ich lade da nicht ausschließlich Menschen ein, die im letzten Jahr einen großen Wettbewerb gewonnen haben, sondern schaue in einem etwas größeren Zeitrahmen auf ihre Karrieren. Da bin ich froh über eine schöne Auswahl: Wir haben zum Beispiel Nicolas Namoradze bekommen, der auch Neurowissenschaftler ist und mit dem Publikum über Wahrnehmung von Musik sprechen wird, bevor er Beethovens Hammerklaviersonate spielt. Oder Conrad Tao, ein chinesischstämmiger Amerikaner, der in bester US-Manier Rachmaninow mit Jazz-Standards und Broadway-Komponisten zusammenbringt.
Emmet Cohen eröffnet das Klavier-Festival Ruhr mit seinem Trio am 26. April. Foto: Gabriela Gabrielaa
kultur.west: Am Jazz-Schwerpunkt kann man gut ablesen, wie sie Kontinuität und Wandel zusammendenken… ZAGROSEK: Tatsächlich ist beim Jazz kein Name dabei, der in den letzten Jahren schon zu Gast war. Das Festival eröffnen wird Emmet Cohen, der in Harlem lebt und mit seinem Trio zu uns kommt. Es gibt kaum jemanden, der mit so einer guten Laune und so einer entspannten und freudigen Stimmung musiziert. Ich kann mir keinen energiegeladeneren, frischeren Start wünschen, in dem übrigens auch die Schülerinnen und Schüler aus Duisburg-Marxloh einen Slot bekommen. Ich habe Emmet Cohen jetzt sehr oft gesehen und gehört – was übrigens jeder auch von Zuhause aus kann mit der Video-Reihe »Live from Emmet’s place«, die er während der Pandemie angefangen hat. Da hat er praktisch alle Jazzgrößen bei sich gehabt.
kultur.west: Größter Publikumsmagnet sind trotzdem weiter die großen klassischen Pianist*innen. Kommen die allein wegen des weltweiten Rufs des Klavier-Festivals in Scharen? ZAGROSEK:Je einsamer die Spitze ist, in der sich die Künstler bewegen, gibt es schon auch mehr Hürden, allein vom Honorar her oder den Managements, die bestimmte Ziele verfolgen. Aber Stand heute kann man sagen: Wer in 2024 als großer Pianist gilt, war auch schon hier bei uns. Nicht alle sind unbedingt regelmäßige Stammkunden: Yuja Wang hätte ich zum Beispiel gerne öfter hier, das ist länger her, dass sie da war. Das Festival genießt einen sehr guten Ruf, daran knüpfe ich an und trete in Kontakt und den Austausch mit den Künstlern. Was so dieses Jahr schon gelungen ist, finde ich einfach toll: Zum Beispiel das Konzert von Marc-André Hamelin mit dem Sinfonieorchester Wuppertal und Mitgliedern der Chorakademie Dortmund. Das ist großartig, wie bei diesem Projekt das lokal Beste mit dem Besten, das wir als Festival bringen können – den internationalen Stars des Klaviers –, zusammenkommt.
Zur Person
Katrin Zagrosek, geboren 1975 in Solingen, wirkte nach ihrem Studium der Musik- und Kulturwissenschaften als freischaffende Mitarbeiterin bei international bekannten Kulturinstitutionen und Festivals wie den Berliner Festwochen, dem Pariser Théâtre et Musique und dem Lincoln Center Festival in New York. Zwischen 2002 und 2006 gestaltete sie am Theater Freiburg die Konzertreihen des Philharmonischen Orchesters und entwickelte neue musikpädagogische Formate für Kinder und Jugendliche. Als Projektleiterin der »Hamburger Ostertöne« prägte sie bis 2012 die Programmkonzeption des Festivals. 2012 wurde sie Intendantin der Niedersächsischen Musiktage, seit 2024 ist sie Intendantin und Geschäftsführerin des Klavier-Festivals Ruhr.
Klavier-Festival Ruhr
Das erste Klavier-Festival Ruhr unter der Leitung von Katrin Zagrosek findet vom 26. April bis 16. Juli 2024 in 17 Städten zwischen Rhein und Ruhr statt. Zu 66 Konzerten hat die neue Intendantin 67 Pianist*innen aus 34 Nationen eingeladen.
Die Musiker*innen des Detmolder Labels „Audite“ sind auch auf den Bühnen in NRW zu erleben – ein kleiner Ausblick.
»Audite« sorgt für große Ohren: Nicht nur mit Produktionen des gängigen Repertoires à la Beethoven. Immer wieder überrascht es mit Wundertüten wie der Debüt-CD »Origin« des Bläserquintetts ARUNDOSquintett. Werke für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott sind die Domäne des Ensembles, das seit 2020 vom Land NRW gefördert wird.
Zu hören gibt es ihre Kompositionen auch live – am 12. April in der Paterskirche Kempen und am 14. April in der Trinitatiskirche Bonn. Da stehen Arrangements von Bach und Debussy, aber auch fünfstimmige Klassiker etwa von Mozart auf dem Programm. Hinzu kommen nicht nur die »Sept Desserts rythmiques« des Düsseldorfers Thomas Blomenkamp. In Kempen wird sein Werk »Tetra« uraufgeführt, bei dem sich ein Klavier hinzugesellt.
In völlig andere Bläserklangwelten entführt das Programm »Vitraux« von »Audite«-Posaunist Hansjörg Fink und seinem Duo-Partner Elmar Lehnen an der Orgel. Dahinter verbergen sich 13 selbstgeschriebene Stücke, die auf 13 Glaskunstwerke von Jean-Marie Piro zurückgehen. Zu sehen sind sie in der Kirche Notre-Dame des Neiges im französischen Alpe d’Huez mit Szenen aus dem Markus-Evangelium. Fink & Lehnen wollen die Farbenpracht der 13 Fenster mit ihrer Musik einfangen. Dabei verbinden sie Elemente der Moderne und des Jazz mit traditioneller Stilistik, Improvisation mit auskomponierter Musik und loten am 5. April in St. Anna in Mönchengladbach und am 14. April in der Liebfrauenkirche in Bad Salzuflen die Grenzen des instrumental Machbaren aus.
Die Ludwiggalerie Schloss Oberhausen zeigt die bahnbrechenden Designs zu Alben von Pink Floyd, Led Zeppelin und vielen anderen.
Ein Konzeptalbum über Wahnsinn und Gewalt. Popmusik, die sich mit dem Diktat von Zeit und Geld, auch mit dem Krieg beschäftigt. Das Cover des vor 50 Jahren erschienenen Albums »The Dark Side of the Moon» von Pink Floyd ist ebenso berühmt wie die Musik. Ein weißer Lichtstrahl trifft auf ein Prisma und fächert sich auf in die Spektralfarben von violett bis rot, die Farben, die für das menschliche Auge sichtbar sind. Abstrakte Kunst auf einem Plattencover, das eigentlich der Werbung dienen soll. Nun hängt es im Eingangsraum der Ausstellung »Hipgnosis Breathe».
Aubrey Powell und Storm Thorgerson haben Ende der sechziger Jahre das Designstudio Hipgnosis gegründet. Ihre Wohngemeinschaft war ein Treffpunkt der Londoner Musikszene. Der vor elf Jahren verstorbene Thorgerson war mit den Mitgliedern der Band Pink Floyd seit seiner Schulzeit befreundet. Der Name Hipgnosis soll sich auf ein Graffito beziehen, dass Pink-Floyd-Sänger Syd Barrett auf die Wohnungstür der WG gemalt hat. Es verbindet die Begriffe hip und gnosis, das altgriechische Wort für »Wissen». Und natürlich schwingt auch die Hypnose mit.
Aubrey Powell, der die Schau zusammen mit John Colton von der Berliner Browse Gallery kuratiert hat, erzählt: »Die Arbeit an so einem Cover hat bis zu sechs Wochen gedauert. Wir konnten uns intensiv mit der Bildkomposition, den Farben und dem Charakter des Bildes auseinandersetzen.» So etwas sei heute nicht mehr möglich. »Da fehlt einfach die Zeit zum Nachdenken und zur Kontemplation.»
Eines der spektakulärsten Plattencover in der Ausstellung stammt vom Album »Wish you were here». Ein Händedruck zwischen zwei Männern, einer von ihnen brennt. Anscheinend schließen sie gerade einen Vertrag. Pink Floyd hat das als bittere Kritik an der Plattenindustrie gedeutet. »Die Bilder sollen neugierig machen» sagt Aubrey Powell, »welche Geschichten sich dahinter verbergen.» Vorher waren einfach Fotos der Bands auf dem Cover, nun fehlte manchmal sogar der Name.
Eine digitale Nachbearbeitung gab es noch nicht. Es gehört zur Aura dieser Fotografien, dass sie nicht leicht herzustellen waren. Für die Band 10cc hat Hipgnosis ein Schaf auf eine Chaiselongue vor den Wellen des Pazifischen Ozeans gesetzt. Und es war wirklich ein echtes Schaf, das allerdings mit Medikamenten ruhiggestellt werden musste, weil es vor den Wellen Angst bekam.
Manchmal wussten die Designer selbst nicht, was die von ihnen vorgeschlagen Motive bedeuteten. Für »Presence» von Led Zeppelin – laut Fachmagazin »Rolling Stone» eines der meistunterschätzten Alben aller Zeiten – entwarf Aubrey Powell einen rätselhaften schwarzen Obelisken. Er steht ganz selbstverständlich auf einem Tisch, um ihn herum sitzt eine bürgerlich-spießig gekleidete Familie mit Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Viele der ausgestellten Plattencover haben klare Bezüge zum Surrealismus, zu Werken von René Magritte oder Salvador Dalí. Aubrey Powell erfüllt es mit Stolz, dass die Werke von Hipgnosis nun im Museum angekommen sind. »Sie werden als Kunst präsentiert», sagt der 77-Jährige, »nicht als kommerzielles Produkt».
Die Bilder sind Ausdruck von Verstörung und Verzweiflung, vom Mut, sich mit den dunklen Seiten des Lebens auseinanderzusetzen. Natürlich wirken sie besonders intensiv, wenn das Publikum dazu die Platten hört. Das ist möglich, die Ludwiggalerie bietet einen Music Walk mit Kopfhörern an.
Teil des Bachfestes: Calefax. Foto: Sarah Wijzenbeek
Das Bachfest macht Station in Münster. Unter dem Motto »Bach inspiriert« schlagen illustre Gäste wie Dirigent Ton Koopman den Bogen vom Orgel- und Kantatenkomponisten bis zur zeitgenössischen Bach-Hommage.
Was muss das für ein wärmendes Erlebnis für die Seele und die Sinne gewesen sein. Als vor 300 Jahren die Gemeinde im lausigen Kirchenraum der Weimarer Hofkapelle saß – und man plötzlich herrlichste Musik vernahm. Von ganz oben! Aus einem viele Meter großen Schall-Loch, das man aus der Decke geschnitten hatte, schwebten da innigste Kantatengesänge oder strahlendste Orgelklänge nach unten. Musik – wie von Gott gesandt. Angesichts dieser Raumklangwirkungen wurde die Kapelle auch als »Himmelsburg« bezeichnet. Auf ihr wirkte Johann Sebastian Bach zwischen 1708 und 1717 als Organist und Dirigent. 1774 sollte sie bei einem Schlossbrand zerstört werden. Doch dank historischer Bauzeichnungen und modernster Virtual-Reality-Technik wurde sie so rekonstruiert, dass man mit VR-Brille und Kopfhörern durch die ehemalige Wirkungsstätte Bachs gehen und die dort entstandene Musik hören kann. Diese Zeitreise macht jetzt ein umfunktionierter Überseecontainer möglich. Er steht ab 17. Mai auf dem Münsteraner Lambertikirchplatz und ist damit das allererste Highlight des Bachfests, das in diesem Jahr in der westfälischen Metropole stattfindet.
Zehn Tage lang heißt es »Bach inspiriert«. Quer durch das Stadtgebiet erklingen in Kirchen, im schmucken Erbdrostenhof, aber auch im Theater sowie im Dom zumeist geistliche und weltliche Werke jenes Barockkomponisten, den Kollege Max Reger einmal ehrfürchtig als »Anfang und Ende aller Musik« bezeichnet hat.
Zum 98. Mal findet das von der Neuen Bachgesellschaft mitausgerichtete Fest statt. Bereits im Vorfeld gibt es unter dem Titel »Basso continuo« einen umfangreichen Klangparcours. In rund 60 Konzerten bespielen regionale Chöre und Ensembles das Münsterland. So kommt etwa Bachs »Matthäus-Passion« in Greven in einer selten zu erlebenden, romantischen Orchestrierung zur Aufführung. Auch beim Bachfest widmet man sich von der intimen Kammermusik bis zum großen Chorwerk dem Namenspatron. Doch ein Fokus liegt auf dem Komponisten als unerschöpflicher Inspirationsquell. So hat Stefan Heucke als »Composer in Residence« nicht nur eine neue »Markuspassion« komponiert, sondern für sein Oratorium »Pfingstfeuer« auf Bach-Werke zurückgegriffen. In bester Jacques-»Play Bach«-Loussier-Tradition wird Bach im »Hot Jazz Club« mit Blue Notes koloriert. Beim Projekt »Bach reLoaded« treffen Urban Dancers auf einen DJ.
Bach nicht nur jenseits der stilistischen, sondern auch der geographischen Grenzen bildet dank des Gastlandes Niederlande einen weiteren Schwerpunkt. Die geschichtlichen Banden zwischen dem Nachbarn und Münster spiegeln sich in der Oper »J. S. Bach – Die Apokalypse« wider, präsentiert von der Nederlandse Bachvereniging. Zu weiteren namhaften Gästen des Festival-Kapitels »Bach. Oranje« gehören die exquisite Cappella Amsterdam unter Daniel Reuss (Motetten), das Kammerorchester Holland Baroque mit Orgel-Bearbeitungen sowie der Dirigent, Cembalist, Organist und Alte-Musik-Star Ton Koopman. Mit seinem Amsterdam Baroque Orchestra kombiniert er »Brandenburgische Konzerte« mit so mancher Orchestersuite. »Bach steht für diese einzigartige Balance aus Können, Wissen und Gefühl«, hat Koopman einmal im Gespräch erläutert. ».Wir können nur darüber staunen, wie es ein Mensch geschafft hat, so viele tiefe Gedanken aufs Notenpapier zu schreiben.« Dass der inzwischen auch schon 79-Jährige nach einem so langen Leben mit Bach das Staunen nicht verlernt hat, hört man ihm einmal mehr an.
Neue Erlebnisräume und Impulse für die Oper – all das soll das neugegründete Laboratorium des Musiktheaters im Revier schaffen. Ein Gespräch über das MiR.LAB mit der künstlerischen Leiterin Nora Krahl.
Musiktheater mit digitaler Technologie, neue Erlebnisräume und Impulse für die Oper – all das soll das neugegründete Laboratorium des Musiktheaters im Revier schaffen. Das MiR.LAB hat seine Heimat Am Rundhöfchen 6 mitten in Gelsenkirchen gefunden. Die künstlerische Leitung liegt bei Nora Krahl, die sich als Komponistin, Cellistin und Regisseurin in verschiedenen Bereichen der zeitgenössischen Musik profiliert hat und gut vernetzt ist. Was genau ist das MiR.LAB? Ein Gespräch.
kultur.west: Frau Krahl, was sind Ihre Pläne?
KRAHL: Unser erstes Vorhaben ist ein Projekt, in dem das Publikum Virtual-Reality-Brillen aufsetzt und sich mit zwei Sänger*innen in einem Raum frei bewegt. Es geht um die Vermischung von Realität und VR im Zusammenhang mit Musiktheater. Daran hab ich in den vergangenen anderthalb Jahren gearbeitet, jetzt werden wir es mit dem MiR-Team verwirklichen.
kultur.west: Das heißt also, das Publikum kommt ganz klassisch zu einer Vorstellung?
KRAHL: Das ist mir sehr wichtig für die Arbeit im MiR.LAB. Digitalisierung bedeutet nicht, dass ich zu Hause isoliert vor meinem Bildschirm sitze. Okay, auch mit solchen Formaten werden wir uns beschäftigen. Aber für mich bedeutet Theater, dass man in einem Raum zusammenkommt und zum gleichen Zeitpunkt ein gemeinsames Erlebnis mit Livemusik und Live-Darstellenden hat.
kultur.west: Und dann treffen die Realitäten aufeinander, der wirkliche Raum und die digitalen Welten?
KRAHL: Ja, es ist ein apokalyptisches Stück. Das gesamte Universum zerfällt, auch die physikalischen Gesetze, die Zeit, die Logik und die Struktur der Welt. Der Bühnenraum ist digital virtuell nachgebaut. Die VR-Brillen haben einen Kameramodus. Ich sehe meine Umgebung, und die wird überblendet mit Bildern, die in der Realität so nicht herstellbar wären. Wir werfen das Publikum in eine relativ große Verwirrung.
kultur.west: Kommen die Darstellenden aus dem MiR-Ensemble?
KRAHL: In diesem Falle sind es zwei Sängerinnen, die schon lange mit mir an diesem Projekt gearbeitet und viel investiert haben. Sonst arbeiten wir schon mit der Dance Company zusammen und sind mit dem Direktor Giuseppe Spota verabredet, um uns zu Workshops zu treffen. Ähnliche Verabredungen gibt es mit der Puppensparte. Mittelfristig wollen wir dann auch mit Sänger*innen und Musiker*innen arbeiten.
kultur.west: Werden Sie als Leiterin das MiR.LAB auch künstlerisch prägen, als Komponistin, Regisseurin und Cellistin?
KRAHL: Das war für mich ein Grund, diese Leitungsfunktion anzunehmen. Natürlich will ich kuratieren und organisieren, aber unsere Produktionen auch künstlerisch färben, wahrscheinlich vor allem als Regisseurin. Ich bin mit Herz und Seele Künstlerin.
kultur.west: In Ihrer Beschreibung steht, dass es auch um Transformation geht. Wie ist das zu verstehen? Wollen Sie auch den Kernspielplan des Opernhauses verändern?
KRAHL: Ja. Allerdings steckt die Technik – zum Beispiel was die VR-Brillen angeht – noch in den Kinderschuhen. Ich hoffe, dass wir bald von AR-Brillen (Augmented Reality) sprechen können, die dann von der Handhabung her ganz normale Brillen sind. Dann können wir sie auch im großen Saal des Musiktheaters einsetzen. Bisher werden virtuelle Welten mehr als Add-On eingesetzt, um die Aufführungen noch bildgewaltiger zu machen. Ich finde es viel interessanter, Digitaltechnologie in die Konzeption, in die Struktur der Stücke miteinzubeziehen.
kultur.west: Ein weiterer Begriff in Ihren Arbeitsbeschreibung lautet „radikale Teilhabe“. Was bedeutet das?
KRAHL: Klingt doch schon mal gut, oder? Da gibt es mehrere Bereiche. Einmal immersive Aufführungen, in denen ich etwas mitsteuern kann. Aber auch der Bereich davor, in der Frage, welche Geschichten im Musiktheater verhandelt werden. Einige Stories sind heute auf der Bühne schwierig zu erzählen. Wir möchten mit Menschen, die zu uns kommen, reden, welche Geschichten sie aus ihren Lebenswelten erzählen möchten. Vielleicht können wir das mit traditionellen Opern in Verbindung setzen, vielleicht aber auch neue Werke erstellen. Wir wollen Menschen – auch Statist*innen – stärker einbeziehen, damit sie sich noch mehr als Teil der Aufführung betrachten.
kultur.west: Das wird ja im Sprechtheater oft gemacht, im Musiktheater ist das schwieriger, oder?
KRAHL: Ja, wegen der musikalisch festgelegten Form. Wir entwickeln da einige Ideen weiter, die andere Künstler*innen und Kollektive schon ausprobiert haben. Es funktioniert, Laien an Schnittstellen einzubeziehen, so dass am Ende ein künstlerisches Werk entsteht, kein Vermittlungsprojekt.
kultur.west: Das MiR.LAB wird ja vom Fonds Neue Wege des NRW-Kultursekretariats und von der Stadt Gelsenkirchen gefördert. Ist das Budget okay für Ihre Arbeit?
KRAHL: Das ist schon eine substanzielle Summe, die uns hier zur Verfügung gestellt wird. Wir können damit unseren Ort etablieren, ein Team zusammenstellen und langfristig angelegte Konzepte für das community building entwickeln. Für einige Projekte, die wir uns vorstellen, müssen wir allerdings auch noch zusätzliche Förderungen akquirieren. Wir planen für den Sommer einen opera city walk, einen Performance-Audiowalk durch die Stadt. Generell kann man sagen: Wir können natürlich nicht mit den Gaming-Welten moderner Computerspiele konkurrieren. Aber das muss ja keine Schwäche sein. Wir werden einfach unsere eigene künstlerische Ästhetik finden.
Das MiR.LAB ist im Rundhöfchen 6 in Gelsenkirchen zu finden und donnerstags von 15 bis 19 Uhr zugänglich.
Nora Krahl mit VR-Brille. Foto: MiR.LAB
Zur Person
Die Regisseurin, Cellistin und Komponistin Nora Krahl setzt sich mit der zeitgenössischen Musik und den experimentellen digitalen Formen des Musiktheaters auseinander. Ursprünglich als klassische Cellistin gestartet, widmete sie sich der Musikwissenschaft, bevor sie sich Improvisation und elektronischer Komposition zuwandte und weltweit konzertierte. Seit 2010 in den darstellenden Künsten tätig, arbeitete sie als Musikerin am Schauspielhaus Köln, Deutschen Schauspielhaus Hamburg und an der Staatsoper Berlin. Sie kollaborierte mit Opera Lab Berlin und SHE SHE POP und realisiert seit 2016 eigene Regieprojekte. Als Regisseurin setzt sich Nora Krahl besonders mit Grenzgängen, digitalen Technologien und neuen Erzählformen auseinander.