Gerhard Rossmanns Iconteppich auf dem Kirchenboden. Foto: Daniel Schmitt, Spitzlicht
In der Bochumer Pauluskirche zeigt Gerhard Rossmann seine Installation »Polyptychon der Lebenden und der Toten« .
»Geburt 19.01.1951 in Nürnberg, Tod xx.xx.20xx in x«, so leitet der Wuppertaler Künstler Gerhard Rossmann die eigene Biografie ein. Eine Angabe, die im zweiten Teil alles offenlässt. Nur dies nicht: Wir alle müssen sterben. Die Unausweichlichkeit unseres Lebensendes als künstlerisches Thema beschäftigt Rossmann seit Jahren. In der Bochumer Pauluskirche konfrontiert er das Publikum nun mit einem »Polyptychon der Lebenden und der Toten«.
Sein Gastspiel in der Kirche kreist nicht nur um die individuelle Endstation, sondern um die »Mathematik des Todes«. Rossmann befasste sich mit Berechnungen von Nathan Keyfitz. Der Demograf entwickelte eine komplexe Formel, mit deren Hilfe man berechnen kann, wie viele Menschen im Laufe der Geschichte unsere Erde bevölkert haben, folglich also irgendwann gestorben sind: Keyfitz kam auf 100 Milliarden Todesfälle. Die Statistik reicht vom Homo sapiens, der vor 300.000 Jahren Afrika durchstreifte, bis in die frühen 2000er-Jahre.
Was hat das mit Kunst zu tun? Sehr viel, wenn man sich auf Rossmanns Arbeit einlässt. An Wandtafeln und auf dem Boden hat er 216.000 Icons mit Silhouetten angebracht. »Über 100 Milliarden Tote der Weltgeschichte und acht Milliarden Lebende der Gegenwart passen so in das Gotteshaus«, beschreibt er sein Konzept. »Jedes Icon steht für 500.000 Menschen, Form- und Farbwerte geben Auskunft über natürliche und gewaltsame Todesursachen.« Nicht zuletzt werden die aktuellen Zahlen aller Verstorbenen und Lebenden an die Kirchendecke projiziert.
Gerhard Rossmann: »Polyptychon der Lebenden und der Toten«
»Welt im Wandel«: Das LVR-Landesmuseum Bonn lädt zur Wiedereröffnung seiner Dauerausstellung.
Vor Jahrzehnten, in der Hochzeit der Blockbuster-Ausstellungen, wurden Museen in erster Linie daran gemessen, welche – möglichst spektakulären – Sonderausstellungen sie ausrichteten. Inzwischen hat sich der Wind im Kunstbetrieb gedreht. Das Arbeiten mit der eigenen Sammlung rückt immer stärker in den Vordergrund. »Der Prophet gilt nichts im eigenen Lande«, diese landläufige Ansicht entkräften zahlreiche Museen, indem sie ihre oft verborgenen Schätze aus dem Depotschlummer erlösen und sie zum Vorschein bringen – wissenschaftlich fundiert und einfallsreich arrangiert.
Ein idealer Kandidat für solche Neuentdeckungen des vermeintlich Bekannten ist das LVR-Landesmuseum Bonn. Das einzige kulturgeschichtliche Museum im Rheinland bewahrt Zeugnisse der Archäologie, Kunst- und Kulturgeschichte aus über 400.000 Jahren. Drei Jahre lang hat das Team rund um Direktor Thorsten Valk an einer neuen Dauerausstellung getüftelt: »Welt im Wandel. Das Rheinland vom Mittelalter bis Morgen«, so lautet das Motto der Präsentation, die zu einer Zeitreise durch die Kunst- und Kulturgeschichte einlädt. Vom 10. Jahrhundert bis zur Gegenwart erstreckt sich die Tour durch das geschichtsträchtige Bonner Museum, das 1820 als »Antiquitätenkabinett Rheinisch-Westphälischer Alterthümer« gegründet wurde. Ein zweiwöchiges Eröffnungsfestival lockt bis zum 15. Oktober mit zahlreichen Veranstaltungen und kostenlosem Eintritt.
»Wir wollen die Geschichte des Rheinlands neu erzählen und unsere Kulturregion als eine Welt zeigen, die seit dem Mittelalter in stetem Wandel begriffen ist«, erläutert Thorsten Valk das Konzept der Neupräsentation. »Wie haben die Menschen im Rheinland gelebt? Mit welchen Herausforderungen sahen sie sich konfrontiert? Auf welche Zukunft haben sie gebaut?«
Viele Fragen, viele Exponate
Viele Fragen, viele Exponate: Rund 400 Skulpturen, Gemälde, Grafiken, Fotos und kunsthandwerkliche Objekte belegen, dass der Wandel im Rheinland allzeit eine feste Konstante war. Zu den frühesten Werken, die bei der »Welt im Wandel« ins Blickfeld rücken, zählen die Reliefs der Gustorfer Chorschranken; ein unbekannter Kölner Meister vergegenwärtigte den Lebensweg Jesu um 1140. Ergreifend bis zum heutigen Tag die um 1360 geschnitzte Pietà Roettgen: Maria betrauert ihren vom Kreuz abgenommenen Sohn, dessen geschundenen Leichnam sie in ihre Arme schließt. Durch die Beschreibung in Thomas Manns Roman »Der Zauberberg« hat die gotische Figur eines anonymen mittelrheinischen Meisters zudem Eingang in die Literaturgeschichte gefunden.
Kunstreichtum und Prunkliebe des Barocks verkörpert ein Antwerpener Kabinettschrank mit Szenen aus Ovids Metamorphosen, der im 17. Jahrhundert gefertigt wurde. Zur Kategorie »virtuoses Mobiliar« gehört auch David Roentgens zierlicher Verwandlungstisch (um 1785) – auf engstem Raum beherbergt er eine Fülle von Funktionen und Geheimfächern.
Die Kunst des 19. Jahrhunderts repräsentieren beispielsweise Gemälde der Düsseldorfer Malerschule. Was die Moderne angeht, so empfiehlt sich beim Rundgang die Betrachtung der Werke von Joseph Beuys, Mary Bauermeister, K.O. Götz, Ewald Mataré, Ulrike Rosenbach oder Günther Uecker. Den Bogen ins Morgen schlägt schließlich das »Museum der Zukunft«, das im Zentrum der Ausstellung zum Austausch über aktuelle Themen und Zukunftsfragen anregt.
Beim Eröffnungsfestival erwarten das Publikum Workshops für Kinder und Erwachsene, Führungen, Talks und Lesungen, Konzerte, Kinoabende und vieles mehr. Fazit: Die Herbstoffensive des LVR-Landesmuseum Bonn lässt aufhorchen und dürfte auch über das Rheinland hinaus reichlich Resonanz finden.
»Welt im Wandel. Das Rheinland vom Mittelalter bis Morgen«
Klaus Rinke: Insel, 1969-1986. Foto: Michael Richter
2008 eröffnete Bildhauer Tony Cragg in Wuppertal den Skulpturenpark Waldfrieden. 15 Jahre später zieht der Künstler-Kurator Bilanz. Auch Mischa Kuball ist als Geburtstagsgast geladen und bringt Spiegel- und Lichtinstallationen mit.
Reichtum und Vielfalt der Kunstlandschaft in NRW bezeugen nicht zuletzt die Skulpturenparks, die hier zu entdecken sind. Moyland, Duisburg, Düsseldorf, Köln, Leverkusen, Mönchengladbach, Hombroich – diese Auflistung von Orten, wo sich zeitgenössische Kunst und Natur die Hand reichen, ist nicht einmal vollständig. Wem die Krone unter den künstlerisch veredelten Grünflächen in Nordrhein-Westfalen gebührt, darüber besteht bei den meisten Kunstfreunden Einigkeit: Der Skulpturenpark Waldfrieden, den der Bildhauer Tony Cragg 2008 in Wuppertal eröffnete, hat Maßstäbe gesetzt, was die Symbiose von Gestaltetem und Gewachsenem angeht.
Rund um die idyllisch gelegene Villa, die der Lackunternehmer Kurt Herberts zwischen 1947 und 1950 vom Wuppertaler Architekten Franz Krause (sein Markenzeichen war die »gefühlte Bauweise«) errichten ließ, ist ein einzigartiges Kunst-Biotop entstanden. Für Fans zeitgenössischer Skulptur beinahe ein Paradies auf Erden. Craggs Garten Eden vereint mehr als 50 Baum- und Straucharten aus aller Welt mit Plastiken – sie stammen vom Künstler selbst und von Kolleg*innen, die er schätzt. Mithin gleicht der Rundgang durch das knapp 15 Hektar große Areal mit Hanglage einem Crashkurs in Sachen moderner Skulptur. Über dem Tal der Wupper begrüßen den Gast Arbeiten von Richard Deacon, Bogomir Ecker, Eva Hild, Markus Lüpertz, Henry Moore, Jaume Plensa, Thomas Virnich oder Erwin Wurm. Womit noch nicht alle Waldbewohner*innen genannt sind.
Zum 15-jährigen Jubiläum des Parks zeigt die Cragg Foundation die Sonderausstellung »Home Game«. Ein Heimspiel, das den vielen Facetten des 1949 in Liverpool geborenen Künstlers eine weitere hinzufügt: Cragg, der seit 1977 in Wuppertal lebt, in den vergangenen knapp fünf Jahrzehnten eine rekordverdächtige Anzahl von Ausstellungen und Projekten im öffentlichen Raum verwirklichte und sich zudem als langjähriger Rektor der Kunstakademie Düsseldorf für den Nachwuchs engagierte – er ist auch noch Sammler. Hätte man sich angesichts der beeindruckenden Vernetzung von Tony Cragg beinahe denken können.
Jetzt ist es amtlich: Durch Ankäufe und Schenkungen ist in den vergangenen 15 Jahren eine Kunstsammlung entstanden, die bis zum 8. Oktober in den drei weitgehend gläsernen Pavillons des Parks präsentiert wird. In der unteren Ausstellungshalle bilden Klaus Rinkes strenge, rund ums Wasser kreisende Installation »Insel« und Stephan Balkenhols holzgeschnitzter Satyr, der sich lustvoll dahinräkelt, ein kontrastreiches Pärchen. An den Wänden assistieren Werke von Gilbert & George und Bruce Naumann. Gegensätze ziehen sich an, dieses Motto hat Tony Cragg offenbar auch dem Arrangement in der mittleren Ausstellungshalle zugrunde gelegt; präsentiert werden hier unter anderem tänzerische Holzfiguren von Luise Kimme, eine futuristische Plastik von Anne und Patrick Poirier sowie eine »Geburt«-Darstellung von Andreas Schmitten.
Blickfang in der oberen Ausstellungshalle ist vor allem Richard Longs »Maritime Spirale«: ein 2008 entstandenes kreisrundes Labyrinth, das der britische Land-Art-Künstler mit unzähligen Steinen anlegte. Auch hier inszeniert Tony Cragg eine Ausstellungssituation, die zusammenbringt, was in herkömmlichen Darstellungen zur modernen Skulptur nicht zusammengehört: Longs erdenschwere Bodenplastik setzt der Kurator zwei federleichte Plastiken von Otto Boll und Norbert Kricke entgegen, Werke, die in ihrer Linearität beinahe immateriell wirken.
Nicht nur in den Ausstellungshallen, auch im Park selbst entfaltet sich die »Home Game«-Präsentation. Hier wurden Arbeiten von Georg Baselitz, Erwin Wurm und Not Vital aufgestellt. Außerdem Mischa Kuballs kinetische Installation »rotating_mirror_horizontal« – sie dient gleichsam als Warmup für die Soloschau des Düsseldorfer Lichtkünstlers, die ab 21. Oktober hier zu erleben ist. Zwei der Ausstellungshallen wird Kuball mit eigens für den Ort konzipierten Licht- und Spiegelinstallationen bespielen – dabei Grenzen verwischen zwischen innen und außen, Tag und Nacht, Mensch und Natur.
Selbst für Stammgäste des Skulpturenparks lohnt also ein Wiedersehen mit Waldfrieden. Bekanntlich sind viele berühmte Künstler (und nicht nur die) eitel. Wenn ein international gefeierter Bildhauer sich einen Skulpturenpark leistet, droht deshalb Selbstbeweihräucherung. Nichts könnte Tony Cragg ferner liegen. Ein Pantheon seiner eigenen Werke, das wäre dem Künstler ein Gräuel. Allein die Tatsache, dass er dieses Refugium für zeitgenössische Skulpturen nicht selbstherrlich im Alleingang bespielt, sondern es mit Kolleg*innen teilt, demonstriert, dass er eine gesellige Natur ist. Vielleicht darf man sogar so weit gehen, seinen Park als eine erweiterte »Soziale Plastik« im Grünen zu betrachten, um den Begriff von Beuys aufzugreifen.
Die Skulptur, sagt Cragg, sei »nicht nur eine Quelle neuer Formen, sondern auch neuer Ideen und emotionaler Erfahrungen«. Seine Waldfrieden-Aktivitäten betrachtet er als »einen Versuch, etwas von dem unglaublichen Reichtum zu vermitteln, den die Skulptur zu bieten hat.« Wenn Tony Cragg von den schier unendlichen Möglichkeiten schwärmt, aus einem Klumpen Ton eine kunstvoll gestaltete Plastik zu formen, dann wundert man sich nicht über die Spannweite seines Œuvres. Es erstreckt sich von organisch anmutenden Bronzen, die sich mit ihren dynamischen Volumen beispielsweise zu einer »Wirbelsäule« auftürmen, bis zu Installationen, in denen der Künstler aufgelesenes Plastik-Strandgut zu einem Sinnbild der Wohlstandsgesellschaft arrangiert hat. Ja, es stimmt, ein Brocken Ton birgt das Potenzial für Hunderte von Skulpturen. Zum Vorschein bringen kann diesen verborgenen Schatz jedoch nur jemand mit unerschöpflichem Einfallsreichtum und magischen Händen. Tony Cragg, kein Zweifel, gehört zu dieser raren Spezies.
Der Düsseldorfer Kunstpalast konfrontiert uns mit dem dämonischen Dasein. Die Ausstellung »Tod und Teufel. Faszination des Horrors« reiht rund 120 Werke zu einem Parcours des Schreckens.
An Fleischerhaken baumeln Körper- und Hautfetzen. Die Brocken in Blutrot, von Neonröhren grell beleuchtet, gleichen Kadavern. Zweifelsfrei identifizieren lassen sie sich nicht. Eindeutig hingegen der abschreckende Eindruck, den die garstigen Objekte hervorrufen. Kaum gemindert wird der Ekel durch die Information, dass es sich hier um ein Kunstwerk handelt, um eine Silikonskulpur der schwarzen US-Künstlerin King Cobra. »Red Rack of Those Ravaged and Unconsenting« heißt die Mixed-Media-Arbeit. King Cobra – ihr bürgerlicher Name lautet Doreen Lynette Garner – erinnert hier auf denkbar drastische Art an jene versklavten Afroamerikanerinnen, die im 19. Jahrhundert vom Arzt James Marion Sims einer barbarischen Prozedur unterzogen wurden, um (pseudo-)medizinische Experimente durchzuführen. Sims, der in die Annalen als »Vater der modernen Gynäkologie« einging, wollte beweisen, dass Schwarze unempfindlicher gegen Schmerzen sind als Weiße. Deshalb operierte er seine Opfer ohne Betäubung – und gegen deren Willen.
In einer Metzgerei würde dieses Mahnmal vermutlich weniger auffallen als im Museum. Doch im Düsseldorfer Kunstpalast ist der normale Museumsbetrieb durch eine Sonderausstellung teilweise außer Kraft gesetzt. Unter dem Titel »Tod und Teufel. Faszination des Horrors« inszeniert das Haus am Ehrenhof eine Schau, die uns mit den dunklen Seiten der Existenz konfrontiert – mit dem Bösen und Dämonischen, mit Mord und Totschlag, mit dem, was unerklärlich ist, was Furcht, gar Grauen erregt.
»Die älteste und stärkste menschliche Gefühlsregung ist die Angst, und die älteste und stärkste Art von Angst ist die Angst vor dem Unbekannten«, wusste H. P. Lovecraft, der Großmeister fantastischer Horrorliteratur. Diese Angst vor dem Unbekannten ist wohl die mächtigste Triebfeder für die weitgefächerte Darstellung horrender Dinge in der Kunst. Von Literatur und Film über die bildende Kunst bis hin zu Musik, Mode und Computerspielen zieht sich die Spur des Schreckens, die Westrey Page, Kuratorin der Kunstpalast-Schau, anhand von rund 120 Exponaten verfolgt.
Ihren Ausgang nimmt die emotionale Achterbahnfahrt bei Albrecht Dürers Meisterstich »Ritter, Tod und Teufel« von 1513 – freilich ist weder Dürers Personifikation des Todes noch die Verkörperung des Teufels geeignet, heutige horrorerprobte Betrachter das Fürchten zu lehren. Von den Dämonen der Renaissance, Francisco de Goyas noch immer schockierendem Grafikzyklus »Die Schrecken des Krieges« (1810–1814) oder den Schauerlandschaften der Romantik führt der Parcours zu den Horrorfilmen der Stummfilmzeit. Das alles ist gleichsam eine Ouvertüre zum Wechselbad der Gefühle, das die Betrachter*innen im Hauptteil der Schau erwartet. Hier wetteifern Werke aus den letzten zwei Jahrzehnten um den wirkungsvollsten – in diesem Fall: haarsträubendsten – Effekt.
»Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle?«, sang einst Wolfgang Petry. Eine rhetorische Frage, die sich beim Besuch der Düsseldorfer Horrorparade gar nicht stellt – oder durch den Augenschein beantwortet wird. Die Höllenfahrt im Kunstpalast ist der Wahnsinn, weil sie am laufenden Band schaurig-sehenswerte Erlebnisse beschwert. Wer hier als Rezipient gleichgültig bleibt, dem ist nicht mehr zu helfen.
Was die bildende Kunst angeht, so präsentiert die Freakshow am Ehrenhof unter anderem Arbeiten von Berlinde de Bruyckere, Jake & Dinos Chapman, Eliza Douglas, Teresa Margolles, Gregor Schneider, Erasmus Schröter und Andres Serrano. Nicht minder illuster die Reihe der Modedesigner*innen, deren Kollektionen mit dem Grauen kokettieren – fotografisch dokumentiert werden unter anderem düster-morbide Kreationen von Rei Kawakubo, Rick Owens, Alexander McQueen und Viktor & Rolf. Einschlägige Plattencover und Filmplakate runden das Spektakel ab.
Die Hauptrolle spielt der Tod
Wie alt ist das Horror-Genre? Schwierige Frage. Jedenfalls uralt. Tief verwurzelt in Brauchtum und Religion ist die Angst vor Dämonen, die uns aus heiterem Himmel in finstere Gefilde entführen. Eskortiert von den Handlangern des Teufels, geht es schnurstracks in die Hölle – Hieronymus Boschs visionäre Darstellung dieses unwirtlichen Ortes, Teil seines Triptychons »Der Garten der Lüste«, kann einem noch heute Alpträume bereiten. Das Böse ist immer und überall? Was die Band »Erste allgemeine Verunsicherung« verkündete, mag übertrieben erscheinen – aber nur für jene, die vorwiegend auf der Sonnenseite des Lebens verkehren.
Auf der Bühne des Horrors dagegen tummeln sich etliche bedrohliche Gestalten: Vampire, Werwölfe, Hexen, Monster, Außerirdische, Serienmörder, Kannibalen, Psychopathen und Folterknechte. Die Hauptrolle jedoch spielt der Tod – unsere Sterblichkeit und die Frage, ob uns ein Leben danach erwartet und wie dieses wohl verlaufen mag, hat die Menschen zu allen Zeiten tief beunruhigt. Der ultimative Horror, sozusagen. Kein Zufall also, dass Via Lewandowskys Arbeit »Bona Fide Erstechen« unter vielen bizarren Exponaten der Ausstellung heraussticht: Der Berliner Künstler schuf eine ganze Serie von fiktiven, scheinbar zweckdienlichen Selbstmordmaschinen, die er aus Haushaltsgegenständen fertigte. Zwar steht bei Lewandowsky der Suizid im Vordergrund. Doch wer dächte nicht unwillkürlich an Franz Kafkas Erzählung »In der Strafkolonie«? Obwohl – oder vielleicht, gerade weil – Kafka die Folter und Tötung eines Verurteilten durch ein mörderisches Exekutionsinstrument in vollkommen nüchternem Ton beschreibt, geht diese Schilderung buchstäblich unter die Haut.
Die Düsseldorfer Ausstellung macht ein Dilemma bewusst. Einerseits erfreuen sich Horrorfilme und abgründige Videospiele zunehmender Popularität – die bildende Kunst spielt hier nur eine Nebenrolle. Andererseits wird das destruktive Potenzial, das in solchen extremen Werken zum Ausdruck kommt, beinahe gebetsmühlenartig zum Anlass genommen, um vor Gewaltverherrlichung und sittlicher Verrohung zu warnen. Zweifellos sind diese Risiken nicht aus der Luft gegriffen. Doch belegt die Kunstpalast-Ausstellung »Faszination des Horrors«, dass eine pauschale Verurteilung dämonischer Kunst fehl am Platz ist. Ja, auch Horror kann subtil sein – jedenfalls in der Kunst. Schrecklich schön, diese Kategorie des Erhabenen, die bis in die Antike zurückreicht, ist fundamentaler Bestandteil der Ästhetik.
Die Museumslandschaft in Nordrhein-Westfalen ist in Bewegung. In mehr als zehn Museen haben neue Direktor*innen ihr Amt angetreten, die das Museum konsequent aus der Publikumsperspektive denken wollen.
Anfang September, Kunstmuseum Gelsenkirchen. Auf dem Programm steht eine Performance von Nezaket Ekici. Es ist gerappelt voll. Mit der Meisterschülerin von Performance-Legende Marina Abramović geht es auf einen Rundgang durch die Sammlung, die Ekici im Zuge ihrer Aktion »Nexus AT« auf eindringlich-eigenwillige Art interpretiert. Die Prozedur führt vorbei am Eingang zur Werkstatt des Museums. An der Tür fällt ein Schild ins Auge: »Kaffeepause 8.00-12.00. Mittagspause 12.00-17.00«. Zwischen den Pausen bitte nicht stören!«
Dass solche ironischen Verlautbarungen am Arbeitsplatz über die tatsächliche Produktivität nichts aussagen, ist bekannt. Für Julia Höner gilt das ebenfalls – und erst recht. Die Kulturwissenschaftlerin hat im Dezember 2022 die Leitung des Kunstmuseums Gelsenkirchen übernommen und in kurzer Zeit schon manches auf die Beine gestellt. Das städtische Museum in Buer, das trotz seiner vielfältigen Sammlung – Highlight sind die kinetischen Werke – vom Kunstbetrieb nicht eben mit Aufmerksamkeit verwöhnt wird, kann es gebrauchen.
»Auftakt in drei Akten«, so nennt Höner ihre Performance-Reihe, bei der Nezaket Ekici die Zweite im Bunde war. Eine programmatische Aktion, betont die Kunsthistorikerin: »Ich möchte mit meinem Programm ein Bewusstsein dafür schaffen, dass das Kunstmuseum eben nicht nur durch seine Sammlung Schätze bietet, sondern auch ein gegenwärtiger und schöpferischer Ort der künstlerischen Produktion sein kann.« Höner will »das Haus mit neuen Geschichten beleben und durch spartenübergreifende Kooperation – wie kürzlich mit dem Gelsenkirchener Musiktheater im Revier – neue Besucherinnen und Besucher für die Kunst begeistern«.
Den Kreis jener zu erweitern, auf die das Museum Anziehungskraft ausübt, das spielt für alle der mehr als zehn Museumsdirektor*innen, die in den vergangenen drei Jahren in Nordrhein-Westfalen Verantwortung übernommen haben, eine herausragende Rolle. Gleiches gilt für Kurator*innen, die an anderen Stellschrauben in NRW-Kunstinstitutionen drehen – beispielsweise für Britta Peters, deren Vertrag als Künstlerische Leiterin von Urbane Künste Ruhr erst kürzlich um weitere vier Jahre verlängert wurde, sowie für die deutsch-finnische Kunsthistorikerin Niina Valavuo, die seit dem 1. August für den Kunstverein Galerie Münsterland in Emsdetten verantwortlich zeichnet.
Die – ohnehin längst bröckelnde – Fassade des unnahbaren, bei vielen Berührungsängste auslösenden Kunsttempels wollen sie ersetzen durch eine Art gläsernes Museum. Ein Museum, das Transparenz und Willkommenskultur praktiziert, das Menschen verschiedener Bildungsgrade entgegenkommt, also »niederschwellig« ist, wie es inzwischen gern heißt. In den 70er Jahren prägte Hilmar Hoffmann, langjähriger Kulturdezernent in Frankfurt am Main, das Schlagwort von der »Kultur für alle«, die es zu verwirklichen gelte. Im Zeitalter der Inklusion erleben wir eine Renaissance dieses Ideals, eine Art »Kultur für alle 2.0«.
Noor Mertens, seit 2021 Chefin am Kunstmuseum Bochum, definiert ihr Haus als »offene Institution, in der sich Besucher*innen auf unterschiedliche Weisen treffen können«. Auch Linda Walther, die im Oktober 2022 ihr Amt als Direktorin des Museumszentrum Quadrat in Bottrop antrat, hat mit Wagenburg-Mentalität nichts am Hut: »Prinzipien, die ich verfolgen möchte, sind die Auseinandersetzung mit der eigenen Sammlung und Kooperationen mit starken Partner*innen«, so die Kunsthistorikerin, zuständig für die weltweit größte Museumssammlung mit Werken der Bauhaus-Legende Josef Albers. »Unsere nächste große Ausstellung entsteht gemeinsam mit Forscherinnen der Ruhr-Universität Bochum.«
Madeleine Frey, die ebenfalls im Oktober vor einem Jahr die Regie einer renommierten Kunstinstitution übernahm, nämlich des Max Ernst Museum Brühl des LVR, sucht ebenfalls die Tuchfühlung mit dem Publikum: »Alle sollen sich willkommen fühlen und ihre eigenen Kunstentdeckungen machen können. Auch junge Positionen sollen im Museum ihren Platz haben.« Konsequenz: Im kommenden Jahr steht neben einer Klassiker-Ausstellung, die sich der freundschaftlichen Verbindung zwischen dem Hausherrn Max Ernst und dem surrealistischen Bildhauer Alberto Giacometti widmet, eine Soloschau der deutschen Multimedia-Künstlerin Nevin Aladağ auf dem Programm.
Einen »dezidiert partizipativen Ansatz« verfolgt auch Florence Thurmes – sie kam im März 2022 an das Museum Ostwall im Dortmunder U, wo sie gemeinsam mit Regina Selter eine Doppelspitze bildet. Ihr Haus, das sich auf Expressionismus, Fluxus und zeitgenössische Kunst spezialisiert hat, sieht Thurmes in dieser Hinsicht gut aufgestellt: »Die Idee, dass das Museum ein ‚dritter Ort‘ sein kann, wurde schon in der Geschichte des Museums angelegt, mit langen Öffnungszeiten (1953) oder der Gründung der ersten Kindermalstube in Deutschland (1961).«
Nach dem Elfenbeinturm, wo einst nicht wenige Museumsleute ihre ‚splendid isolation‘ genossen, sehnt sich offenbar keiner der interviewten Museumsdirektor*innen zurück. Thomas Schmäschke schon gar nicht. Der Kulturwissenschaftler, der im August 2022 die Direktion des Gustav-Lübcke-Museums Hamm übernahm, vereint Pragmatismus mit intellektuellem Anspruch: »Es geht darum, die lebensweltliche Realität der Menschen zu berücksichtigen, abzubilden und somit Relevanz zu erzeugen«, so Schmäschke. In dem Mehrspartenhaus – neben angewandter und bildender Kunst sind hier auch noch Archäologie und Stadtgeschichte vertreten – konnte er bereits »das lange brach liegende Museumscafé wiedereröffnen, eine Sonderausstellung mit der Stadtgesellschaft verwirklichen und die Familienfreundlichkeit erhöhen«. In diesem Monat startet die große Sonderausstellung »Music! Feel the Beat«. Hierbei kooperiert das Museum mit der Musikschule Hamm.
Das Museum als Ort der Synergie
Im Kreise der NRW-Museumsdirektor*innen, die erst seit kurzem am Ruder sitzen, zählt Shao-Lan Hertel zu den Newcomerinnen. Erst im Juli war sie als Leiterin des Kölner Museums für Ostasiatische Kunst (MOK) angetreten. Die Asien-Expertin (sie studierte Ostasiatische Kunstgeschichte und Sinologie) möchte »die Sichtbarkeit des Museums zum einen vor Ort weiter stärken. Zugleich müssen wir auch deutschlandweit präsenter werden.« Um dieses Ziel zu erreichen, hat Hertel viele Ideen – so plant sie für die nächste Museumsnacht Köln am 4. Noevember im MOK »Resonanzräume«. Ziel ist, sagt Shao-Lan Hertel, »das Museum als Haus, Ort und Raum im erweiterten Sinne des Dialogs und Austauschs, des Echos und der Synergie, ‚resonativ‘ spürbar und erfahrbar zu machen«. Eine Klang-Werkstatt für Kinder und Führungen mit musikalischen Bezügen sollen dabei helfen.
Konnte sich Shao-Lan Hertel als Museumsdirektorin immerhin zaghaft warmlaufen, so sitzt Stefanie Kreuzer noch in den Startblöcken: Erst seit dem 1. Oktober ist sie Chefin des Kunstmuseums Mülheim an der Ruhr. Ein Haus, das mit der Expressionismus-Sammlung Ziegler und einem umfangreichen grafischen Bestand punkten kann. Allerdings ist das städtische Museum wegen einer Rundumsanierung seit mehreren Jahren geschlossen. Die Wiedereröffnung ist für 2024 geplant. Dann, da ist sich Kreuzer sicher, wird ihr Haus »ein Impulsgeber für Projekte sein, die die Institution ‚Museum im 21. Jahrhundert‘ thematisieren«.
Stichwort »Museum im 21. Jahrhundert«: Dazu hat auch Nico Anklam einiges beizutragen. 2021 übernahm der Kunsthistoriker die Direktion der Kunsthalle Recklinghausen – in Personalunion leitet er die Städtischen Museen der Festspielstadt. Die ersten Ankäufe von Videos für die Sammlung stehen ebenso auf seiner Haben-Seite wie die Verdopplung der Instagram-Follower. Anklam ist ein Mann mit Pioniergeist: Flo Kasearu aus Estland, Ângela Ferreira aus Mosambik und Marianne Berenhaut aus Belgien, diesen hierzulande kaum bekannten Künstlerinnen ermöglichte er eine erste deutsche Einzelausstellung. Den internationalen Kurs will Anklam fortsetzen: »Ich gebe das Haus im nächsten Jahr erstmals behutsam in andere kuratorische Hände, unter anderem mit einer ‚Rochade‘.« Dann würden der Ausstellungsraum TickTack aus Antwerpen und die Kunsthalle die Orte tauschen. 2025 steht in Recklinghausen ein Jubiläum an – dann feiert die Kunsthalle ihr 75-jähriges Bestehen.« Nico Anklam: »Da sind wir jetzt schon tief in den Planungen.«
Kultur für alle, Inklusion, Barrierefreiheit, Familienfreundlichkeit, das scheinen derzeit dominante Themen im Museumsalltag zu sein – jedenfalls wenn man die Einschätzungen der von uns konsultierten Direktor*innen zugrunde legt. Neben dem Vermitteln gehören zu den Kernaufgaben des Museums aber auch Sammeln, Bewahren und Forschen. Hierfür braucht es qualifiziertes Personal. Da scheint trotz notorisch leerer Kassen der öffentlichen Hand einiges in Bewegung zu sein. Noor Mertens freut sich, dass sie das Team des Kunstmuseums Bochum um mehrere Fachkräfte erweitern konnte – »gemeinsam entwickeln wir die Zukunftsstrategie für das Museum«. Thomas Schmäschke vom Gustav-Lübcke-Museum Hamm verweist gar auf »den größten personellen Umbruch in der über 100-jährigen Geschichte des Museums«. Shao-Lan Hertel beklagt zwar den »gravierenden Personalmangel« am Museum für Ostasiatische Kunst in Köln, zeigt sich aber optimistisch für die Zukunft: »Das wird sich ändern.«
Weil das Museum nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern in einem Gebäude, das die Bedingungen für die Präsentation von Kunst vorgibt, fällt die Museumsarchitektur bei kuratorischen Überlegungen stets ins Gewicht. Das Kunstmuseum Gelsenkirchen ist hierfür ein gutes Beispiel: Das Stammhaus, eine Gründerzeit-Villa, erhielt 1984 Verstärkung durch einen Erweiterungsbau von Albrecht E. Wittig – eine Brücke verbindet die beiden heterogenen Teile. »Das Gebäude«, erklärt Julia Höner, »ist ein Beispiel für die architektonische Postmoderne und hebt sich von anderen Museumsbauten in der Region ab.« Künftig wolle sie auch die Museumsarchitektur neu erschließen. Das kommende Jahr bietet dafür eine ideale Gelegenheit – dann feiert der Wittig-Bau seinen 40. Geburtstag. Das letzte Quartal dieses Jahres steht auch im Kunstmuseum Bochum ganz im Zeichen eines 40-jährigen Jubiläums; der von den Architekten Jørgen Bo & Vilhelm Wohlert entworfene Museumsbau leistet seit vier Jahrzehnten gute Dienste. Zwölf Künstlerinnen hat Noor Mertens eingeladen, um sich »mit der Infrastruktur ‚Museum‘ auseinanderzusetzen«.
Ein Jubiläum kommt auch Shao-Lan Hertel gelegen, um die Aufmerksamkeit auf die Architektur des Museums für Ostasiatische Kunst in Köln zu lenken. Kunio Maekawa (1905-1986), der Erbauer des 1977 eröffneten »Highlights der modernistischen Architektur« (Hertel), hätte 2025 seinen 120. Geburtstag begehen können. Aus diesem Anlass plant die MOK-Direktorin eine große Sonderausstellung zum Thema Architektur in Ostasien.
Überhaupt: Zukunftspläne, Zukunftsvisionen, wie sieht es damit aus in jenen Museen, von denen hier die Rede ist? Im Kunstmuseum Gelsenkirchen arbeitet Julia Höner am Feinschliff für eine schon am 13. Oktober beginnende Gruppenausstellung zur konkreten Kunst – im Zentrum steht der pakistanische Künstler Imran Mir (1950-2014). Wenig später, am 22. Oktober, eröffnet Linda Walther vom Josef Albers Museum Quadrat, Bottrop, die Gruppenausstellung »Kochen Putzen Sorgen. Care-Arbeit in der Kunst seit 1960«.
Derweil stellt Florence Thurmes in Dortmund die Weichen für ein Projekt, das im April 2024 startet: »Ausgehend vom Schwerpunkt der ‚Environments‘ in der Ausstellungsgeschichte des Museum Ostwall zeigen wir eine Ausstellung, die sich explizit an Kinder und Familien richtet und die der Frage nachgeht: Was ist kindgerechte Kunst?« Museen, die Kindern Spaß machen und Erwachsene intellektuell herausfordern, das klingt nach der Quadratur des Kreises. Für dieses Kunststück scheinen die Museen in NRW gut gerüstet zu sein.