Heute vor 100 Jahren: Die Epoche der »1920er!« lässt die Bundeskunsthalle Bonn in einer weit gefassten Ausstellung leuchten. »Im Kaleidoskop der Moderne« erscheinen Menschen, Maschinen und Metropolen.
Wir geraten in Schräglage, kippen aus dem Lot, kriegen die Kurve. Es stürzt auf uns ein, kreiselt, schneidet ein, überblendet, kantet gegeneinander, türmt sich auf, rast wie wild. Das Jahrzehnt tauscht die gerade Fläche und das Vollkommene gegen die Bruchlinie, den Torso. Die 1920er sind die Epoche der Asymmetrie. Einheit, oder was die Vorkriegswelt dafür hielt, ist zerborsten, zersplittert, zerstückelt – künstlerisch, politisch, sozial, erotisch. Rollende Räder, tanzende Beine, fliegende Buchstaben, stenografische Kürzel, Prothesen, die ihr behelfsmäßiges Wesen abwerfen. Von der »Fragmentierung der Welt« spricht der Historiker Philipp Blom. Ein Universum, in dem die Diagonale für Dynamik steht und das Ausrufezeichen regiert.
»Im Kaleidoskop der Moderne« sieht die Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle die Jahre nach der Urkatastrophe des Europäischen Krieges, den revolutionären Umstürzen und ideologischen Aufrüstungen von Sozialismus, Kapitalismus und Nationalismus. Das Instabile und Ruinöse, verursacht durch Inflation, Weltwirtschaftskrise und Börsencrash, nötigt und manipuliert Menschen, Gesellschaften und Staaten. Sie wurden amputiert, verkürzt, verbogen, provisorisch geflickt zurückgelassen – die Wundmale nehmen die Form des Neuen an. Die Resultate von 1918/19 und ihr revisionistisches Rumoren klingen als Echo durch unsere Tage: das gellende Kriegsgeräusch auf dem Kampffeld Ukraine.
Das Ganze in Einzelteile zerlegt. Bonn setzt die Arabesken zum Groß-Puzzle zusammen und inszeniert sie szenografisch wie auf einem Set. Gegliedert ist der von Agnieszka Lulińska kuratierte Schau-Parcours über die Roaring twenties in die drei Hauptkapitel »Metropolen – Menschenbilder – Lebenswelten«. Neben der chronologischen Einordnung halten sie Material in Hülle und Fülle bereit: Gemälde, Zeichnungen, architektonische Entwürfe, musikalische Aufnahmen, Fotografien, den die feministische Position blitzgescheit reflektierenden (fiktiven!) Briefwechsel von Lotte Laserstein und Friedel Haustein und viele dokumentarische Zeugnisse. Mehr als 70 Leihgeber, Museen und Institutionen, haben Objekte zur Verfügung gestellt, von Amsterdam, Berlin, London und Oslo über Wien, Budapest und Prag bis Riga, Tallinn und Warschau.
Immer Extreme
Collage, Fotomontage, Film und Fotografie sind das bevorzugte Transport- und Ausdrucksmittel für die Energie der Epoche. Der Bildungsbürger, der die Weimarer Republik noch auf ihren Namen getauft hatte, hat abgedankt, der Ingenieur und der Rennfahrer werden zum Idealtypus: homo faber, homo athleticus und homo artista wachsen aus einer Wurzel. »Der Mensch als Industriepalast«, so zitiert Philipp Blom in seinem Katalog-Essay einen Buchtitel des deutschen Arztes und populärwissenschaftlichen Autors Fritz Kahn.
Die Metropole und Megacity, wie sie Fortunato Depero verschachtelnd auskragend malt und Le Corbusier in ihrer Funktionalität und Organisation vordenkt, erobert sich den ersten Rang als Schauplatz: Berlin mit Döblins Alexanderplatz und seinen Galerien, Verlagen, Theatern, Kabaretts und dem Sportpalast. Das vom Optimismus des Kollektivs trunkene Moskau stanzt den Suprematismus und einen bombastischen Sowjetischen Realismus hervor. In Paris unterm eisernen Gerüst des Eiffelturms logiert die amerikanische Bohème – Josephine Baker trifft 1925 ein und findet Hemingway, die Fitzgeralds, Ezra Pound und Gertrude Stein vor.
Und dann die Stadt der Städte: New York, wo das schwarze Harlem den Rhythmus setzt, den Jazz über den Atlantik sendet und George Gershwin hinterher. Manhattans Straßenschluchten, überwachsen von den Skeletten der Hochhaus-Saurier, werden ikonisch (der erste auf dem Empire State Building endende King Kong-Film kam etwas zu spät, erst 1933, aber er hätte in die Zwanziger gepasst, ebenso Charlie Chaplin, der 1936 ins Räderwerk der »Modern Times« gerät). Babylon bildet die Metapher und das Synonym für das urban Wuchernde, lustvoll Unfromme, Himmelschreiende, Selbstvergessene. Immer Extreme.
Das Stahlrohr liefert das Konstruktionsprinzip für Gebäude, Möbel, dem sich auch der menschliche Körper anzupassen scheint, der andererseits seine Hüllen abwirft und Nudität am Strand, beim Sport, im Boxring oder auf der Bühne zelebriert. Arbeiten von El Lissitzky, Willi Baumeister oder Alice Lex-Nerlinger zeigen das Spannungsverhältnis des ‚neuen’ Menschen zwischen natürlichem Wachstum, maskenhaft mechanischer Reproduktion und verschraubter Apparatur.
Überall und gleichzeitig ist Avantgarde, Experiment, Emanzipation, technische und wissenschaftliche Zukunftsgestaltung, blitzen Facetten von Fortschritt im zirkulären Austausch.
Die Frau motorisiert sich und sitzt als »Girldriver« am Steuer – Tamara de Lempicka stellt ihren Geschlechtsgenossinnen bildnerisch dafür lässig, cool und mondän die Fahrerlaubnis aus. Sie bekommt Wahlrecht, raucht, stöpselt als Fräulein vom Amt, stöckelt ins Büro oder geht allein auf Weltreise (höchstens in Begleitung ihres Bruders, wie die allgegenwärtigen Erika und Klaus Mann). Sie kreiert sich zur Garçonne (amerikanisch: Flapper), trägt Kurzhaarfrisur, Hosen, Smoking oder befreiend fließende Kleider in schmaler Silhouette, wie sie Coco Chanel, Sonia Delaunay, Sarah Lipska und Madeleine Vionnet entwerfen. Die Schauspielerin Louise Brooks repräsentiert mit dem von dem polnisch-stämmigen Pariser Star-Coiffeur Antoni Cierplikowski frisierten Bubikopf den Phänotyp, Irmgard Keuns »Kunstseidenes Mädchen« tut es ihr literarisch nach.
»Wege zu Kraft und Schönheit«, so ein ertüchtigender Filmtitel von 1925, öffnen sich. Körper- und manchmal auch deren Schmerzgrenzen weiten sich, Identitätsfestschreibungen lockern sich. Die dem Surrealismus zugehörige Fotokünstlerin Claude Cahun deutet mit sich selbst als Modell Geschlechterrollen radikal um. Im Pariser Nachtlokal »Monocle« – wie auch im Berliner Nachtleben – amüsieren sich die Gäste beim gleichgeschlechtlichen Spiel und bei sexuellen Sensationen, während Cahun den existentiellen Ernstfall probt.
Egon Schiele, der 1918 der Spanischen Grippe erlag, hatte dem entblößten Leib unter die Haut bis auf die Knochen geschaut. Sein Erbe setzt sich fort, indem sich Abbild und Zerrbild annähern. Fernand Léger demontiert die Harmonie des Menschen und legt sein Inneres als Röhrensystem frei, Otto Dix demaskiert ihn bis zur Fratze. Umbo verwandelt den »Rasenden Reporter« Egon Erwin Kisch zum Blechkameraden und Roboterwesen mit Grammophon-Ohren und Propeller-Beinen. Kasimir Malewitsch, Oskar Schlemmer, Heinrich Hoerle oder deren ungarischer Maler-Kollege Sándor Bortnyk basteln das Individuum zur Figurine um. »Le tumulte noir« nennt Paul Colin seine hinreißende Zeichnungs-Mappe, in der neben anderen Maurice Chevalier und Josephine Baker wie Gliedermann und Marionette scheinbar knochenlos über die Blätter schwingen.
»Die Maschine kennt keine Hemmungen«, schreibt die amerikanische Dichterin Mina Loy 1923. Das weibliche Automatengeschöpf als Kreatur des Bösen (Brigitte Helm), dessen Panzerung an Rudolf Bellings metallische Skulpturen erinnert, und die unterjochte Masse Mensch durchkämpfen gegeneinander Fritz Langs Science-Fiction-Film »Metropolis«. Zwischen Utopie und Dystopie schwankend, evoziert die hybride Ufa-Produktion am Ende die Vermittlung von Hand und Hirn durch das Herz.
Im Kontrast zu diesen Entwürfen einer am Futur orientierten, elektrifizierten, kommunizierenden, Tempo und mobil machenden Gegenwart behauptet sich – neben den Delirien der Dada-Bewegung – die mahnende Darstellung des Sozialen. Die Beschädigten drohen in der Zentrifuge Zukunft an den Rand und darüber hinaus geschleudert zu werden. Käthe Kollwitz’ unbestechlicher Blick auf das Elend des Industrieproletariats, Conrad Felixmüllers müder Zeitungsjunge, August Sanders Fotogalerie der Gesichter, Christian Schads neusachliche sezierende Porträts und die Lyrik und Dramen des Dichter-Genies in Lederjacke, Brecht, oder die Romane von Fallada und Kästner sprechen die Sprache der Ernüchterung und nehmen die Misere in den Blick, die sich nicht hinweg tanzen, schminken und montieren lässt.
Wie vertragen sich Autonomie und Massengesellschaft, wie die allgemein erhitzte Betriebstemperatur und Beschleunigung und der wachsende Anspruch auf individuelles Glück in der persönlichen Ruhezone? Fragen von Damals für unser Heute und Morgen. Die 1920er sind, ausgehend vom Brennpunkt 1918, bis zur Demarkationslinie 1933 zu betrachten. Unsere 2020er Jahre kennen immerhin schon ihre zwei Anfangsmarkierungen, den Beginn der Pandemie im März 2020 und den 24. Februar 2022.
»1920er! Im Kaleidoskop der Moderne«
Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn
1. April bis 30. Juli 2023
Katalog, Sandstein Verlag, Dresden, 264 S., zahlreiche Abb., 42 Euro