Musiktheater bei der Ruhrtriennale: »Ich geh unter lauter Schatten« beschäftigt sich in Gedichten und Gesängen mit letzten Fragen. »Haus« nach dem Kammerzyklus von Sarah Nemtsov misst den Raum neu aus.
Was ist denn das für eine Zeit –?
Die Wälder sind voll von Traumgetier.
Wenn ich nur wüsste, wer immer so schreit.
Weiß nicht einmal, ob es regnet oder schneit,
ob du erfrierst auf dem Weg zu mir –
Der Schweizer Schriftsteller und Buchdrucker Alexander Xaver Gwerder (1923 bis 1952) hat die Entfremdung von sich und der Welt zum Thema seiner Gedichte gemacht. Sein Leben war eine kontinuierliche Rebellion gegen das spießige Bürgertum und dessen Ordnungsvorstellungen, mit widersprüchlichen Konsequenzen: Zeitweise ein Hitler-Bewunderer, protestierte er nach dem Krieg gegen den Militärdienst, führte eine konfliktreiche Ehe und versuchte sich 1952 gemeinsam mit seiner 19-jährigen Geliebten in Südfrankreich umzubringen ‒ sie überlebte, Gwerder starb mit 29 Jahren.
»Ich geh unter lauter Schatten«, der Titel von Gwerders oben zitiertem Gedicht, steht auch über einem Musiktheater-Projekt bei der Ruhrtriennale. Das tragische Schicksal des Dichters spielt dabei keine zentrale Rolle ‒ aber es ist für die Regisseurin Elisabeth Stöppler und das Festivalteam eine Anregung, sich noch einmal mit dem Thema Tod zu beschäftigen. Schon 2021 wurden die numinosen, grotesken, gewaltsamen oder schicksalhaften Aspekte des Todes von unterschiedlichen theatralen Seiten beleuchtet. In dieser Saison dominiert das Motiv der Schwellenüberschreitung und die Frage, welche Welt uns jenseits der bekannten und manchmal unerträglich gewordenen Erfahrungen erwartet. Wobei es für die Musikdramaturgin Barbara Eckle diesmal weniger um Schrecken, Schuld und Sühne geht: »In diesem Jahr wird schöner gestorben oder versöhnlicher oder auch mit einem offeneren Ende.« Und welche menschliche Ausdrucksform könnte die nicht-erfahrbare Dimension des Lebens ‒ nämlich sein Ende ‒ besser mit Sinn und Sinnlichkeit versehen als die Kunst?
Grenzerfahrungen
Im Musiktheater »Ich geh unter lauter Schatten« erklingen mehrere Konzertwerke über Grenzerfahrungen. Im Zentrum stehen die Quatre chants pour franchir le seuil (Vier Gesänge zur Überschreitung der Schwelle), ein Gesangszyklus für Sopran und Ensemble des Franzosen Gérard Grisey, der 1998 mit 52 Jahren an einem Aneurysma starb. Jahrzehnte lang hatte Grisey eher »abstrakt« komponiert und auf höchst brillante Weise die wissenschaftliche Frequenzanalyse von Klängen in davon abgeleitete, faszinierende »„espaces acoustiques« laufen lassen. Dass er ausgerechnet in seinem letzten Werk, den Quatre chants, konkret wurde, ist als Vorahnung und Vorübung der eigenen Schwellenüberschreitung gedeutet worden. »Jeder muss seinen eigenen Tod sterben können«, sagt Barbara Eckle, »man muss das lernen. Und manchmal empfindet man den Tod eben nicht als Fallbeil, nach dem alles zu Ende ist, sondern als eine Öffnung, als einen Weg ins Licht.«
Die Lichtmetapher erscheint bei Grisey im zweiten Gesang nach fragmentarisch erhaltenen Inschriften auf ägyptischen Sarkophagen. Aber auch das Hand-Anlegen ans eigene Leben spielt eine Rolle. Und zuletzt, in einem zarten Wiegenlied, steht einmal mehr die Erhellung nach dem Dunkel: »Ich öffnete ein Fenster, und das Tageslicht fiel auf meine Wange …« Die Regisseurin Elisabeth Stöppler will den Gesangspart der Quatre chants auf vier Sängerinnen verteilen, die auf ihren Wanderungen durch den hohen Saal 1 der Bochumer Jahrhunderthalle jeweils ihren individuellen Tod erleben; der Bühnenbildner Hermann Feuchter hat dafür Stege vorgesehen, die ins Reich der Schatten führen.
Aber sie sind im Laufe des Abends nicht allein: Das Chorwerk Ruhr wird das innovative Stück Nuits für zwölf Stimmen a cappella beisteuern, mit dem Iannis Xenakis 1967 den politischen Gefangenen in seiner von den Obristen kontrollierten Heimat Griechenland eine Stimme gab. Der Chor spielt auch eine gewichtige Rolle in Claude Viviers Werk mit dem prophetischen Titel »Glaubst du an die Unsterblichkeit der Seele« ‒ dem letzten Opus der Frankokanadiers mit der abgründigen Biografie, der mit 34 Jahren in Paris von einem Strichjungen auf brutale Weise ermordet wurde. Fast könnte man aufgrund der Andeutungen im Opus ultimum vermuten, dass dieser Tod nicht im Affekt stattfand, sondern als grausames Ritual geplant war ‒ eine inszenierte Schwellenüberschreitung.
Mit dem Projekt »Ich geh unter lauter Schatten« knüpft die Ruhrtriennale offensiver als im letzten Jahr an die Idee der »Kreationen« an ‒ damit hatte der Festivalgründer Gerard Mortier vor zwanzig Jahren den Dialog mit der besonderen Industrie-Architektur eingeläutet. In der Rückschau gerieten diese Dialoge höchst unterschiedlich. Neben der schieren Größe der Hallen und der erst allmählich gewachsenen Infrastruktur war es vor allem der morbide Charme der Turbinenhallen und Kraftzentralen mit ihren dinosaurierhaften Maschinenrelikten, der als Inspiration und Hindernis gleichzeitig wirkte. Schon Mortier war die Revier-Nostalgie suspekt, ach seine Nachfolger*innen versuchten den Kontext von Arbeit und Geschichte durch heutige Themen und Theaterformen neu erlebbar zu machen. Die Dramaturgin Barbara Eckle sieht es jedenfalls als große Chance für das Genre Musiktheater, »dass man aus diesen Räumen, die einfach keine klassischen Musiktheater-Räume sind, das Genre anders denken und neu konfigurieren kann. Für mich sind das Orte, wo etwas ausprobiert werden kann, das andere dann vielleicht weiterdenken und in einem Kanon des Möglichen aufnehmen können«.
Solche neuen »Konfigurationen« darf man vor allem von »Haus« erwarten, einer »musiktheatralen Raumperformance« nach dem gleichnamigen Kammerzyklus der Berliner Komponistin Sarah Nemtsov.
Dies ist ein dunkles Haus, sehr groß.
Ich selbst habe es gebaut.
Zelle für Zelle aus einer stillen Ecke …
So lauten die ersten Zeilen des Gedichts von Sylvia Plath, das Nemtsov als Ausgangspunkt für ihr eigenes tönendes Haus aus »Keller«, »Kammer«, »Zimmern«, »Halle« und »Luke« dient (einige Stück wurden im Auftrag der Ruhrtriennale komponiert). Das Haus als Metapher für einen Lebensraum, der Schutz bietet, organisch wächst und schrumpft, aber auch einengen und den Atem nehmen kann ‒ das soll sich in der sehr körperlichen, elektronisch angereicherten Musik, aber auch in der Inszenierung von Heinrich Horwitz spiegeln.
Horwitz hat gemeinsam mit der Videokünstlerin Rosa Wernecke eine Mischung aus Installation und Parcours entworfen, der durch normalerweise unzugängliche Räume der Turbinenhalle auf dem Gebiet des einstigen »Bochumer Vereins« führt. Geplant ist ein Spektakel aus Choreografie, Videoszenerie, Prozession und Live-Musik ‒ kulminierend im Bespielen der Fassade der Turbinenhalle mit Bildern und Nemtsovs drummed variation für Kaoss Pad, das die Techno-Beats liefert. Dafür ein nicht wenig chaotisches Drumset: »eine Art Schrotthaufen, Sägeblatt und verbeultes Becken statt Hihat, Eimer ähnlich wie bei streetdrums, ein Karton, Stuhl oder eine Bierkiste«, so Nemtsov. Gewiss eine eigenwillig originelle Art, die Überreste von Arbeit und Alltag im Ruhrgebiet wieder lebbar und fruchtbar zu machen.
»Ich geh unter lauter Schatten«, Premiere: 11. August, Auff.: 12., 13., 15., 18. 8., Jahrhunderthalle Bochum
»Haus«, szenische Uraufführung: 31. August, Auff.: 1., 2., 3., 4. und 7. September, Turbinenhalle an der Jahrhunderthalle Bochum