Der südafrikanische Künstler William Kentridge, der in der Region unter anderem für seine sensationelle Inszenierung »The Head and The Load« bei der Ruhrtriennale bekannt ist, hat in Essen den mit 10.000 Euro dotierten Folkwang-Preis 2024 erhalten. Das Museum Folkwang zeigt zusammen mit den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 2025 eine große Doppelausstellung zu seinem 70. Geburtstag. Zeit, ihn einmal nach seiner Verbindung zu Deutschland zu fragen – und den essentiellen Grundlagen seiner Kunst. Dass dazu die Arbeit mit den Händen zählt, spürt man beim Interview im Lesesaal des Museums Folkwang, während dem er beständig mit den Fingern über den Tisch streicht.
kultur.west: Herr Kentridge, die große Doppelausstellung zu Ihrem 70. Geburtstag findet in Essen und Dresden statt. Sie haben Schuberts »Winterreise« visualisiert, »Woyzeck« und »Lulu« inszeniert. Was hat es mit dieser starken Verbindung zu Deutschland und der deutschen Kultur auf sich?
KENTRIDGE: Da ist die Geschichte von Erich Maria Remarque, der in die USA emigrierte. Die Menschen fragten ihn: »Haben Sie kein Heimweh nach Deutschland?« Und er antwortete: »Warum sollte ich Heimweh haben? Ich bin Jude.« Da gibt es also eine etwas merkwürdige Verbindung durch die schwierige Geschichte Deutschlands. Jüdisch zu sein (William Kentridge hat jüdische Wurzeln, Anm.) ist also mit Sicherheit eine Verbindung – zu einem unbekannten, angstbesetzten Ort. Büchners »Woyzeck« habe ich als Teenager entdeckt und war wie vom Blitz getroffen von seiner Kraft. Genauso ging es mir mit den Künstlern der Neuen Sachlichkeit. Das waren Menschen, die es nicht vermieden haben, über menschliche, soziale und politische Probleme zu arbeiten, die zum Beispiel nicht einfach rein abstrakt gemalt haben wie die New York School. Ich habe immer danach Ausschau gehalten, welche Stränge der modernen Kunst die Verbindung zur realen Welt aufrecht gehalten haben.
kultur.west: Gibt es in Deutschland ein spezielles Publikum mit einem besonderen Verständnis für Ihre Kunst?
KENTRIDGE: Das denke ich eigentlich nicht. Ich meine, ich war immer eher erstaunt, dass die Menschen sich hier für unsere Produktionen interessieren. Was für mich auch eine Rolle spielt, ist dass ich in Deutschland außerhalb der englischsprachigen Theatertradition arbeiten kann. Wenn ich mit Stoffen wie »Woyzeck« umgehe, lastet nicht all das Wissen um diese Tradition schwer auf meinen Schultern, sondern ich kann freier und einfacher das Risiko eingehen, etwa Kürzungen vorzunehmen oder Sachen zu verändern. Es wäre für mich wesentlich schwieriger, Shakespeare zu inszenieren als einen Text aus Frankreich oder Deutschland. Ich fühle mich dann nicht beladen mit den ganzen Erinnerungen an andere Bearbeitungen dieser Stoffe. Ich bin immer interessiert an Missverständnissen, auch kulturellen Missverständnissen oder Übersetzungsfehlern und den Möglichkeiten, die sich daraus ergeben.
kultur.west: Sie sagten einmal, dass Sie auch von bestimmten deutschen Wörtern fasziniert sind wie zum Beispiel »Torschlusspanik«?
KENTRIDGE: Die deutsche Sprache kann Wörter offenbar endlos aneinanderreihen. Hier hat man die »Tür«, das »Schließen« und die »Panik«. Ganz unterschiedliche Worte kommen da in einem Wort zusammen und bilden einen ganzen Komplex von Gedanken.
kultur.west: Fühlen Sie Torschlusspanik, wo Sie auf die 70 zugehen?
KENTRIDGE: Eigentlich nicht. Ich denke nicht: Oh nein, ich kann jetzt kein Opernsänger mehr werden oder Schauspieler oder Ballet-Tänzer. Diese Gedanken, die es früher einmal gab, kommen nicht mehr. Wenn ich 70 Jahre alt werde, dann ist das also schon eine Lebensphase nach der Torschlusspanik. Heute hat sich das Gefühl durchgesetzt: Da ist nur eine Tür. Ich wünschte, da wären andere Türen, aber ich denke, ich habe meine gefunden. Wenn ich eine neue finden würde, würde sie mich wahrscheinlich an denselben Ort führen. Ein anderes deutsches Wort, das mich immer interessiert hat, war »Tummelplatz« in der Bedeutung, die Sigmund Freud ihm gegeben hat. Ein Ort der freien Entfaltung der Gedanken, des Dinge entstehen lassen.
kultur.west: Was ist das Essentielle an Ihrer Kunst? Die Ideen oder Gedanken dahinter – oder das einfach Machen?
KENTRIDGE: Es ist das Tun, das einfach Machen. Das Zeichnen. Zeichnungen bilden immer die Basis meiner Prozesse. Ich versuche zu erkennen, welche neuen Ideen aus der Aktivität heraus entstehen. Also das Machen, das Zeichnen als ein Weg des Denkens. Ich frage mich natürlich: Ist das ein legitimer Weg, die Welt zu verstehen, über das rein rationale Denken hinaus zu gehen? Man verbindet sich auf diese Art mit einer Art Strom des Unbewussten, aber ich glaube, es ist nicht zufällig, was da auftaucht. Es ist freies Assoziieren, aber diese Assoziation ist eingebunden in Erinnerungen, Gedanken, in ein Verständnis der Dinge, das in uns steckt. Man kann es dann plötzlich erkennen, wenn eine Zeichnung sich entwickelt, zum Leben erwacht auf einer Bühne. Das erzeugt ein Echo in uns, das fühlen wir. Die Alternative wäre, erst eine Geschichte, ein Skript niederzuschreiben, bevor man ein Bühnengeschehen entwickelt. Aber es aus dem Tun heraus zu entwickeln entspricht auch einer anderen Art, die Welt zu sehen und zu verstehen.
kultur.west: Ist die Kraft des einfach Machens auch ein politisches Statement? Sollte man nicht gegen drängende Probleme wie den Klimawandel auch mehr ins Tun kommen, ins Ausprobieren?
KENTRIDGE: Es geht mir zuallererst darum, zu erkennen, welche Kraft wir mit der Möglichkeit des Tuns haben. Wir haben im 20. Jahrhundert gesehen: Wenn die Menschen glauben, dass sie eine große Idee haben, die Lösung für alle Probleme, dann kann das in einem großen Desaster enden. Es ist die Geschichte von vermeintlichen Sicherheiten, die zu Millionen von Toten führten. Wenn Menschen dachten, sie wüssten, was das Beste für andere Menschen ist, erwies sich das fast immer als großer Fehler. Wir sollten daraus lernen, nach kleineren, partikularen, lokalen Lösungen und Antworten zu suchen, zu verstehen, dass wir sehr unterschiedliche Wege brauchen. Genau wie meine Zeichnungen wird Geschichte nicht entdeckt, sondern gemacht.
kultur.west: Ihre Art des Machens ist sehr analog, sehr haptisch. Sie müssen den Kohlestift in der Hand halten, das Zeichnen fühlen.
KENTRIDGE: Es ist auch wichtig für mich, herumzulaufen, zu sprechen. Wenn ich nur dasitze und nachdenke, hängt mein Kopf irgendwann fest.
kultur.west: Denken Sie, es ist gefährlich, dass immer mehr Menschen einfach dasitzen und sich nur in digitalen Sphären bewegen?
KENTRIDGE: Für mich ist das kaum vorstellbar, ein Künstler zu sein, der nur am Computer arbeitet. Ich weiß, dass es viele gibt, und dass daraus interessante Kunst entstehen kann. Ich nehme an, dass ich schon eine gewisse skeptische Grundhaltung gegenüber der digitalen Welt oder den neuen Möglichkeiten durch Künstliche Intelligenz habe. Ich bin allerdings sicher, es wird eine Zeit geben, wo wir einen Roman lesen und denken: »Oh mein Gott, was für ein fabelhaftes Buch!«, und es stellt sich heraus, er basiert nur auf einer Reihe von Prompts, mit denen eine KI gefüttert wurde. Ich mag gute Detektiv-Geschichten und Thriller und ich vermute, es wird nicht mehr lange dauern, bis man KI-Programme etwa mit allen Büchern von Georges Simenon füttert und sie neue Bücher schreibt, die vom Stil der Originale nicht zu unterscheiden sind. Das Beängstigende an KI ist, dass sie uns zeigt, auf welch niedrigem Level Kunst gemacht wird. Viele mittelmäßige Dinge, die Menschen tun, können einfach ersetzt werden. Das ist übrigens ein Grund dafür, warum ich in Johannesburg das »Center For The Less Good Idea« gegründet habe. Es geht mir darum, zu verstehen, dass es eine Qualität hat, wenn man nicht weiß, was man tut, wenn man keinen Prompt hat.
kultur.west: Sie haben mal gesagt, ihr Erfolg basiert auf verschiedenen Erlebnissen des Scheiterns. Was meinten Sie?
KENTRIDGE: Es gab einfach viele Sachen, die ich ausprobiert habe: Es fing damit an, dass ich mit Ölfarben malen wollte. Ich war aber sehr schlecht darin, mit der Farbe umzugehen, wusste nicht so wirklich, was ich tue. Ich war so schlecht, dass klar wurde: Ich muss etwas anderes machen. So kam ich unter anderem zur Kohle-Zeichnung. Ich war auch interessiert an Theater und wollte Schauspieler werden – aber daran bin ich komplett gescheitert. Ich konnte sehen, welche Flexibilität andere Schauspieler mit auf die Bühne brachten, welches Verständnis dafür, was die Regie von ihnen haben möchte. Ich war in verschiedenen Rollen einfach nicht so gut wie die anderen, das war sonnenklar.
kultur.west: Aber sie haben es wieder versucht und sind besser gescheitert – wie es im berühmten Zitat von Beckett heißt?
KENTRIDGE: Das Scheitern hat sich jedesmal schmerzhaft angefühlt, wie ein richtiges Scheitern eben. Das, was ich erreicht habe, habe ich nie dadurch erreicht, dass ich eine gute Idee hatte und diese umgesetzt habe, sondern immer nur aus dem Resultat meiner Versuche, wenn ich im Rückblick sehen konnte, was ich gemacht habe. Zum Beispiel: Wenn man eine Kohlezeichnung beendet hat und lässt sie liegen und sie bekommt grauen Spuren… In den ersten Jahren habe ich immer versucht, sie perfekt auszuführen und diese grauen Spuren des Verwischens absolut zu vermeiden, habe mich dafür entschuldigt, wenn es passiert. Es brauchte jemanden, der mir sagte: »Hör auf, dich zu beschweren. Diese grauen Spuren sind gerade in den Animationen das wirklich Interessante!« Dann konnte ich mit anderen Augen darauf blicken und sagen: »Oh ja, du hast Recht.« Ich habe es erst im Rückblick verstanden. Die Technik gibt dir die Ideen ein.
kultur.west: Sie arbeiten seit langer Zeit zu Themen wie Kolonialismus oder der Apartheidsgeschichte in Ihrer Heimat Südafrika. Diese Themen sind jetzt sehr groß geworden im Kulturbetrieb. Sehen Sie sich als Pionier?
KENTRIDGE: Ich habe ein Projekt über den Völkermord an den Herero in »Deutsch-Südwestafrika« gemacht, das war 2013 oder 2014. Erst in den Jahren danach wurde das ein wirklich großes Thema auch in Deutschland. Es hatten natürlich schon viele Historiker dazu gearbeitet, aber für mich war das eine Entdeckung und für große Teile des Publikums auch. Als ich »The Head and The Load« gemacht habe, 2018 bei der Ruhrtriennale zu sehen, wo es um die Zwangsverpflichtung von Menschen aus Afrika als Soldaten im Ersten Weltkrieg ging, gab es schon einiges an Literatur dazu. Ich war also nicht unbedingt ein Pionier oder Anführer einer neuen Bewegung. In meiner aktuellen Arbeit »The Great Yes, the Great No«, die 2025 bei den Ruhrfestpielen gezeigt wird, geht es um eine Reise über den Atlantik während des Zweiten Weltkriegs und die Themen Kolonialismus und Sklaverei. Ich konnte auf sehr viel Material zurückgreifen, auch einen Film. Da hat sich in den vergangenen Jahren viel getan.
Das künstlerische Werk von William Kentridge (Jahrgang 1955) findet seit Jahrzehnten weltweit Beachtung. International bekannt wurde der Südafrikaner in den 1990er Jahren mit animierten Kurzfilmen, die auf Kohlezeichnungen basieren und die Geschichte Südafrikas im 20. Jahrhundert thematisieren. Zeichnungen bleiben bis heute die Grundlage seines Schaffens, das auch Druckgrafik, Skulptur und Tapisserie umfasst. Seine Kunst greift Themen wie Kolonialismus und gesellschaftliche Utopien auf und setzt sich für Menschenrechte und Menschenwürde ein. Er entwickelt auch Stücke für das Puppentheater und inszenierte als Regisseur an den großen Opernhäusern der Welt. Seit einigen Jahren konzipiert er eigene Kammeropern.
Bei den Ruhrfestspielen, die neben den Théâtres de la Ville de Luxembourg das Stück auch co-produzieren, ist Kentridges »The Great Yes, The Great No« zu sehen. Die Deutschlandpremiere findet am 6. Juni 2025 im Ruhrfestspielhaus statt (weitere Termine am 7. und 8. Juni 2025).
Zu Kentridges 70. Geburtstag organisieren das Museum Folkwang in Essen und die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden von September 2025 bis Januar 2026 ein gemeinsames Ausstellungsprojekt: »Listen to the Echo«.
Für September 2025 plant das Bochumer Schauspielhaus mit William Kentridge ein transkontinentales Theaterprojekt: Unter dem Arbeitstitel »The Future is ours!/ Die Zukunft sind wir!« soll mit dem Centre For The Less Good Idea eine Inszenierung entstehen, für die südafrikanische Künstler*innen mit Darsteller*innen des Schauspielhauses zusammenarbeiten.