Im Mai geht das Ausstellungsprojekt »Ruhr Ding« wieder an den Start – diesmal zum Thema »Schlaf«. Kioske und Parkdecks stehen dann zum Wachen oder Tagträumen bereit.
Lauter Filmkulissen: Gefängnis und Polizeistation. Auch ein Schlafzimmer soll einziehen in die große alte Industriehalle. Im nächsten Frühjahr werden sich die Szenerien mit Geschichten füllen. Dann kommt Michel Gondry mit seiner »Home Movie Factory« zu Besuch. Den Oscar-prämierten Regisseur würde man eher in Hollywood vermuten, doch für das »Ruhr Ding« schaut er in Mülheim an der Ruhr vorbei. In der Halle, die das Haus der Vereine beherbergt, ist jede*r eingeladen, sich als Drehbuchautor*in, als Schauspieler*in, Kameramann oder -frau zu versuchen und in rekordverdächtiger Zeit von nur drei Stunden einen kleinen Do-it-yourself-Film zu produzieren.
Die Film-Fabrik ist eines von rund 20 »Ruhr Ding«-Projekten, die den Süden des Reviers im Mai und Juni 2023 für einige Wochen künstlerisch beleben werden. Neben Mülheim sind Essen und Witten Schauplätze des dezentralen Ausstellungsprojekts. Gondrys Arbeit passt perfekt ins vertraute Konzept: Immer wieder besetzt das »Ruhr Ding« überraschende Orte mit Kunstwerken, die Sparten übergreifend und oft zum Mitmachen gedacht sind. Am besten per Fahrrad oder auch mit Bus und Bahn soll man sich von einer Arbeit zur nächsten bewegen – von der Zeche durch den Park, am Fluss vorbei in die City…. Dabei werden die Werke meist eigens für diesen Anlass geschaffen. Sie sind ortsbezogen und offen für alle – auch ohne Eintrittskarte.
Die Idee stammt von Britta Peters, Leiterin der »Urbanen Künste Ruhr«, die bei ihrem »Ruhr Ding« jedes Mal eine andere thematische Klammer setzt: Die erste Ausgabe trat 2019 unter dem Titel »Territorien« an und rückte regionale und nationale Abgrenzungsbewegungen in den Fokus. Alle redeten damals vom Brexit, und auch der überall erstarkende Rechtspopulismus wurde diskutiert. 2021 dann hieß es »Ruhr Ding: Klima« – man ging die Erderwärmung an, schaute aber gleichzeitig auf das gesellschaftliche Klima.
Nun also steht die dritte und wohl letzte Ausgabe an. Ihr Motto »Schlaf« klingt vergleichsweise beliebig. Doch bietet das Schlagwort nicht nur Raum für allerhand Gedankenspiele. Es lässt sich auch in Beziehung bringen zur Region: Wer schläft, der träumt oft. Und wer wacht, der arbeitet die meiste Zeit. Die klare Trennung zwischen Schlaf, Freizeit und Erwerb habe erst mit der Industrialisierung in unseren Alltag gefunden, bemerkt Britta Peters. Und beobachtet, wie der alte Acht-Stunden-Rhythmus in unserer postindustriellen Zeit immer unwichtiger werde. Ein Prozess, der sich besonders klar im Ruhrgebiet abzeichne und dem Thema Schlaf hier eine eigene Bedeutung verleihe. Bis hin zum drohenden Verlust der nötigen Ruhephasen angesichts ständiger Verfügbarkeit im Digitalen – auch dies ein Gedanke, dem die Künstler*innen in ihren Werken immer wieder nachgehen.
Mit Blick auf das »Ruhr Ding« heißt es ebenfalls wach bleiben – auch ohne digitale Nötigungen. Zum Beispiel für die Fahrradtour gut 15 Kilometer durch die postindustrielle Ruhr-Landschaft nach Essen-Steele, wo das Ausstellungsprojekt einen zweiten Hotspot aufschlagen wird. Nicht etwa, weil die Kulisse so malerisch, der Ort so sehenswert wäre. Ganz im Gegenteil bietet dieser Teil von Essen ein treffendes Beispiel für die katastrophal verfehlte Städteplanung der 1960er und 70er Jahre. Hunderte Altbauten wurden in Steele abgerissen, machten Platz für die neue Einkaufsstadt. Peters zitiert den Titel einer Doktorarbeit, die sich mit dem urbanen Desaster beschäftigt: »Endstation Größenwahn«. Es scheint bezeichnend, dass sie als Kuratorin gerade diesen Ort für ihr »Ruhr Ding« wählt.
Stephanie Lüning wird einen städtischen Platz in Steele mit traumhaft buntem Schaum fluten. Zum einmaligen Spektakel kommt eine mehrwöchig schäumende Arbeit: Lüning hat bereits Erfahrungen gesammelt mit Pkw, die zu scheinbar unerschöpflichen Schaumquellen werden. Als Standort in Steele kommt ein Parkdeck infrage. Als weitere Schauplätze hat das »Ruhr Ding« dort etwa einen Kiosk im Auge, den Wojciech Bakowski aus Warschau in eine Art Guckkasten mit alptraumhaftem Inhalt verwandeln will. Und eine Mietwohnung im Center Carrée. Dort möchte die polnische Künstlerin Alicja Rogalska das Thema Frauen und Finanzen angehen – künstlerisch aber auch ganz praktisch mit einer Beratung, die montags und dienstags für persönliche Geld-Gespräche zur Verfügung stehen soll.
Gut beraten, könnte man dann noch einen Abstecher nach Witten einplanen, wo das »Ruhr Ding« einen Hauch von Luxus verbreiten wird. Denn das Wiener Theaterkollektiv God‘s Entertainment will den als Theater- und Konzertsaal genutzten imposanten Saalbau mit einem Kreuzfahrtschiff-Ambiente ausstatten. Das Gefühl von gediegener Geborgenheit könnte hier allerdings gestört werden durch eine riesige Kraken-Skulptur, die, platsch auf dem Dach des Baus postiert, ihre acht Arme ausbreiten soll.
Nachtarbeit in Witten
Witten ist ein kleiner Ausnahmeort im Ruhrgebiet, geprägt durch die Universität Witten-Herdecke und ihre Studierenden. Doch hat auch hier die Industriearbeit weiterhin einen Platz. Um die 5000 Leute arbeiten in Schichten, man hört das Stahlwerk auch bei Nacht.
Melanie Manchot wird nachtaktiv. Die gebürtige Wittenerin bringt in ihrer für das »Ruhr Ding« realisierten Videoarbeit sieben Orte im Revier bei Nacht zusammen. Und acht Einheimische – Frauen, die im weitesten Sinne Nachtarbeit ausführen. Eine Reinigungskraft etwa, eine Schichtarbeiterin, eine Bäckerin, eine Pflegekraft, eine Pole-Tänzerin führen den Betrachter, die Betrachterin durch Zeche, Villa, Saalbau… Und am Ende zur Eisbahn auf Zeche Zollverein, wo alle Protagonistinnen in einer hypnotischen Schlusssequenz der Arbeit zusammenkommen sollen.
Ein wenig Entspannung verspricht zum Abschluss ein Besuch in der profanierten Kirche Sankt Bonifatius in Gelsenkirchen, wo Irena Haiduk auf Dauer ihren »Healing Complex« installiert hat. Ein Ort, an dem man das Miteinander erleben und sich obendrein erholen kann – zum Beispiel beim Brot backen im Gemeinschafts-Ofen.
Trotz erholsamer Brotzeit scheint aber jetzt schon klar: Dieses »Ruhr Ding: Schlaf« lässt sich kaum in einer Schicht bewältigen. Ein, zwei Schlafphasen wird es schon brauchen, will man all die Arbeiten ausgeruht erleben.