Frischer Wind im Kunstmuseum Bochum: Die neue Direktorin Noor Mertens holt die französischen Künstlerinnen Aurélie Ferruel und Florentine Guédon mit ungewöhnlichen Arbeiten ins Haus.
Es ist ein Jammer: Wenn man die beiden fantastischen großen Lehmskulpturen betrachtet, die die Künstlerinnen Aurélie Ferruel und Florentine Guédon für den großen Ausstellungsraum im Erdgeschoss des Kunstmuseums Bochum geschaffen haben, dann weiß man um ihre Vergänglichkeit. Zum Ende der Schau mit dem irritierenden Titel »Von den Vorfahren geleckt« sollen sie zerstört werden.
Sie sollen zerstört werden, weil sie fast unmöglich aufbewahrt werden können und weil die beiden Französinnen generell keinen Ewigkeitsanspruch an ihre Kunst haben. Sie sehen sie wie sich selbst als Teil von etwas Größerem, Fließendem: den Traditionen und Gebräuchen ihrer Vorfahren und Heimatregionen, Vendée und Normandie, und dem Wissen, das von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Darauf spielt auch der Titel an: In mehreren Sprachen – auch im Französischen – wird der Ausdruck »ungeleckter« oder »schlecht geleckter Bär« für eine unhöfliche oder schlecht erzogene Person verwendet. Er geht darauf zurück, dass die Römer dachten, ein junger Bär wäre noch unfertig und würde seine endgültige Form erst dadurch bekommen, dass seine Mutter ihn quasi »zurecht leckt«. Das ist ein schönes sprachliches Bild dafür, wie wir alle durch unsere Vorfahren geformt oder geprägt werden.
Aurélie Ferruel und Florentine Guédon, die bereits seit zwölf Jahren zusammenarbeiten, schaffen Lehmskulpturen, die dieses Bild auf eine sehr spannungsvolle und lustvolle Art ausdrücken – man hat Lust, sie zu entdecken, muss sich stark zurückhalten, um nicht mit der Hand über sie zu fahren. Sie sind geformt aus Lehm und Stroh, Naturmaterialien also, mit denen Menschen seit Urzeiten umgehen, sich ihre Umgebung gestalten. Das Spannende ist nun, dass die Künstlerinnen aus diesen Materialien, die sich eigentlich dagegen sperren, gerade oder glatt gezogen zu werden oder in rechten Winkeln zu verlaufen, Maschinen oder Teile davon formen.
Die eingangs erwähnten großen Skulpturen sehen aus, als würden sie aus den Versorgungsschächten über der Decke des Ausstellungsraums wachsen. Der Lehm formt Rohre und Metallklappen, Lüftungsausgänge. Unten ist klar ein nachgebildeter Motor zu erkennen: der Motor eines Traktors wie er in der Landwirtschaft verwendet wird. Schon in sich bergen die Skulpturen also einen Widerspruch zwischen Material und nachgebildetem Objekt. Dazu kommen kleine, farbige Glaskörper, die auf dem Lehm zu leben scheinen. Ein Mini-Wal, oder ist es eine riesige Amöbe? Zungen, die passend zum Speichel-Thema aus den braunen Wänden wachsen.
Das Spiel mit archaischen und modernen Elementen treiben die Künstlerinnen auch in bereits bestehenden Skulpturen. Die Besucher*innen gehen zuerst an einem Motorrad aus Lehm und Stroh vorbei, das mit abgewetzten Fahnen ausgestattet ist. Der Fahrer oder die Fahrerin liegt darauf und ist genau wie das Gefährt bröckelig, rissig, an vielen Stellen kommt das Stroh zum Vorschein – als würde sich die Natur der Maschinenwelt wieder bemächtigen oder sich als Grundlage für alles, was ist, wieder in den Vordergrund drängen.
Aurélie Ferruel und Florentine Guédon arbeiten zwar seit zwölf Jahren zusammen, aber sie teilen sich kein Studio und wohnen mehrere Autostunden voneinander entfernt. Sie kommunizieren schon lange, wie viele Menschen während der Corona-Zeit, auf digitalen Wegen. In ihrer Kunst bevorzugen die beiden unterschiedliche Materialien: Ferruel arbeitet vorwiegend mit Holz, Guédon mit Keramik und Textilien. Die Glasobjekte stellen sie gemeinsam mit Ferruels Partner her. Die Konstante in ihrer Arbeit ist, dass sie für jede Ausstellung gemeinsam eine oder mehrere Lehmskulpturen schaffen.
Im Kunstmuseum Bochum ist das ganze Spektrum ihres Schaffens ausgestellt. Dazu gehören auch kleine Holzskulpturen, die Hunde darstellen, und die man unbedingt anfassen soll. Sie lassen sich nämlich öffnen und bergen ein kleines Geheimnis: Skulpturen, die menschliche Körper oder Gesichter und ihre Gefühle darstellen. Hunde sind für die Künstlerinnen Geheimnishüter, weil sie immer mit der Familie, die sich ihrer angenommen hat, leben, Höhen und Tiefen mitbekommen.
Familiengeheimnissen und den Traditionen der Vorfahren auf der Spur, sind Aurélie Ferruel und Florentine Guédon auch in einer Arbeit von ganz anderer Materialität. Für ein großes Treffen ihrer beider Familien baten sie deren Mitglieder, sich bunte Kopfbedeckungen zu schaffen, die irgendwie ausdrücken, was sie gerne mögen, tun, welche Hobbys oder Leidenschaften sie haben. Die Kopfbedeckungen sind im Kunstmuseum ausgestellt und auch ein Foto vom großen Familientreffen, das draußen auf einem Feld stattgefunden hat. Es wirkt, als käme hier ein Stamm amerikanischer oder osteuropäischer Ureinwohner zusammen. Bloß, dass an ihren Kopfbedeckungen, die wie traditionelle Trachtenkleidung wirkt, ganz konkrete Gegenstände prangen – Schraubenschlüssel etwa oder Küchenwerkzeuge.
Keller des Kunstmuseums wird wieder genutzt
Eine Videoarbeit, in der die beiden auf wieder ganz andere Weise der eigenen Geschichte auf der Spur sind und die Geschichte des Kennenlernens ihrer Großeltern »nachtanzen«, ist im Keller des Kunstmuseums ausgestellt, den schon lange keine Besucher*innen mehr betreten haben. Allein an diesem Detail kann man erkennen, dass ein neuer Wind durch das Haus weht: Die neue Direktorin Noor Mertens, die im vergangenen Sommer nach 24 Jahren Hans Günter Golinski abgelöst hat, vertritt mit ihren 37 Jahren eine andere Generation und bringt neue Netzwerke und Interessen mit.
Den Kellerraum, der ganz früher einmal ein kaum besuchtes Café war und über eine Küchenausstattung, eine Toilette und eine kleine, abgeschlossene Terrasse verfügt, will sie in Zukunft häufiger nutzen – zum Beispiel bei der nächsten Ausstellung mit Ian Page oder wenn über Urbane Künste Ruhr der Österreicher Reinhold Zisser kommt und ein Konzept für den Raum entwickelt.
An der aktuellen Ausstellung »Von den Vorfahren geleckt« kann man noch mehr über Noor Mertens Stil lernen. »Ich bevorzuge eine intensive Zusammenarbeit mit Künstler*innen, die darüber hinaus geht, bloß bestehende Werke zu zeigen«, sagt die Direktorin. Deshalb hat sie Aurélie Ferruel und Florentine Guédon, deren Arbeitsweise sie bei einer Gruppenausstellung unter dem Motto »Temporäres Heimatmuseum« an ihrer letzten Station im Kunstverein Langenhagen bei Hannover kennengelernt hat, gebeten, sich mit dem Raum auseinanderzusetzen und spezifisch für ihn zu arbeiten. Drei Wochen haben die Künstlerinnen in Bochum gewohnt und mit dem Team des Hauses Lehm hergestellt und geformt.
In den großen Ausstellungsraum im Erdgeschoss will Noor Mertens in Zukunft häufiger installativ-skulpturale Werke bringen. »Er eignet sich nicht so gut für zweidimensionale Arbeiten an den Wänden«, sagt sie. Und auch auf die weitere Gestaltung des Gartens, der durch die großen Fenster zu sehen ist, freut sich ihr Team. Dieses Team wird sich unter Noor Mertens weiter verändern: Für die Stelle des stellvertretenden Museumsleiters Sepp Hiekisch-Picard, der in den Ruhestand geht, sucht das Haus ein*e Kurator*in, die einen »experimentellen Ansatz mit einer integrativen und einladenden Haltung« verbindet und das Thema Diversifizierung in den Blick nimmt.
Kunstmuseum Bochum, »Von den Vorfahren geleckt«
Bis 19. Juni