Urbane Künste Ruhr: Die »Grand Snail Tour« erkundet das Ruhrgebiet – und zwar gründlich. In allen 53 Revierstädten macht sie Halt und wird künstlerisch aktiv.
Es ist Zeit, die Sachen zu packen. Für eine Reise der Urbanen Künste Ruhr: Die »Grand Snail Tour« führt nicht in ferne Länder, dafür erkundet sie das Ruhrgebiet – und zwar gründlich. In allen 53 Revierstädten macht sie Halt und wird künstlerisch aktiv. Einpacken, auspacken, aufbauen, abräumen – die Ausrüstung für so ein Unternehmen muss extrem mobil sein. Erste Ideen sind realisiert, andere gehen in Produktion.
Der Trailer steht bereit – ein Anhänger, wie man ihn vom Wochenmarkt kennt. Doch wollen die Urbanen Künste Ruhr nicht mit Kürbis oder Kartoffeln, sondern mit Kunst die Kundschaft catchen. Dabei bleibt die Schwelle niedrig, im wahrsten Sinne. Denn die Leiterin der Urbanen Künste Ruhr, Britta Peters, der Kurator für Outreach, Julian Rauter, und ihr Team haben für ihre »Grand Snail Tour« ein Modell gewählt, das sich fast ebenerdig absenken lässt und mit ein paar Schwellen schnell zum barrierefreien Hauptquartier wird. Außerdem kann man alle vier Wände nach Lust und Laune zu- oder aufklappen und so eine offene, einladende Situation schaffen.
Was das Innenleben des Wagens und das Drumherum angeht, verlässt man sich auf Künstler*innen – einige wurden schon im Vorfeld an Bord geholt, andere werden im Laufe der Reise hinzustoßen und mit ihren mobilen Ideen das immer noch weithin statische Verständnis des Kunstwerks an der Wand, auf dem Sockel oder im Depot in ganz und gar wandelbare Dimensionen führen.
Ein Kronleuchter, der das Wifi sucht
Manches ist in Planung, einige Kunstwerke schon fertig: Vorhänge, mit denen man sich abschirmen kann. Kissen zum Gemütlich-Machen, Klapptische zum Zusammensitzen, wärmende Decken für die kalte Jahreszeit. Auch eine Theke, die sich zum Beispiel in ein Regal verwandeln lässt, ist im Bau. Sogar eine Art Kronleuchter, der das Wifi sucht, gehört zum künstlerischen Equipment, das ständig weiterwächst und jeweils nach Bedarf zum Einsatz kommt. Es hängt vom Ort ab, was die Urbanen Künste Ruhr aus ihrer »Toolbox« zaubern.
Da findet sich zum Beispiel auch eine komplett mobile Minigolfanlage – ausgeheckt von den Bochumer Landschaftsarchitekten Sebastian Sowa und Gianluca Torini, kurz Sowatorini. Als flexible Banden dienen dicke rote, schwer gefüllte Schläuche, dazu gibt es ein transportables Mini-Golf-Loch. Außerdem Schläger, Bälle, Schreibblöcke wie beim herkömmlichen Spiel. Das war’s. Denn für den Rest werden die Gegebenheiten vor Ort genutzt: Über Bordsteine, Bänke und Rampen, durch Regenrinnen und an Blumenkübeln vorbei wird das Bällchen manövriert.
So schärfen die Minigolfer*innen spielend ihre Wahrnehmung für die unmittelbare Umgebung, gewinnen mit dem Schläger in der Hand einen ganz neuen Blick auf die eigene Stadt. Das Werk sei ortsspezifisch, bemerkt Sebastian Sowa, dabei aber nicht an einen bestimmten Ort gebunden. Ob Marktplatz oder Busbahnhof, alles kommt infrage und überall wird das Match Gemeinschaft stiften – wer minigolft schon allein?
Bewegliche Werke
Auch an den Tischen, die Nils Norman für die »Grand Snail Tour« kreiert hat, rückt man am besten zusammen. Und fängt dann sicher sehr bald an, gemeinsam zu rätseln, welche Häuser auf den Platten zu sehen sind. Ein Kiosk in Essen Steele, das Terrassenhaus Girondelle in Bochum… Nils Norman hat nur Beispiele aus dem Revier gewählt und auf die MDF-Platten aufgezogen. Der Clou: Jede Platte hat ihren eigenen Zuschnitt, der dem Umriss des Architektur-Motivs folgt. Das raffinierte Design kontrastiert mit schnöden Klappbeinen, wie man sie vom Biertisch kennt. »Ich wollte auch einen Bezug zu etwas herstellen, das einem deutschen Publikum sehr vertraut ist«, erklärt Norman, der sich als Künstler immer wieder mit mobilen Arbeiten beschäftigt hat und schon vor über 20 Jahren eine komplette Bibliothek im Bus entwarf.
Das Interesse für bewegliche Werke verbindet Nils Norman mit Kasia Fudakowski, die Kissen und Vorhänge zur Ausstattung des Snail-Tour-Trailers beisteuert. Das eigenwillige Design der Heimtextilien basiert auf histologischen Aufnahmen, die Fudakowski aus der frei zugänglichen Bilddatenbank Wikimedia Commons gefischt hat. Krebs oder Schlaganfall, Demenz oder Bluthochdruck – zu jeder Krankheit fand sie das passende Bild und verwandelt es durch Spiegelung, Farbe und Vervielfältigung in ornamentale Stoffmuster. Wobei es der Künstlerin vor allem um den Wandel der Gefühle im Zusammenhang mit Krankheit und Tod geht. Nichts bleibt, wie es ist.
Mit ihren langen Stoffbahnen kann man Dinge verdecken und enthüllen, Räume schaffen oder Bühnen bauen. Sie liebe es, mit flexiblen Strukturen zu spielen, bei denen der Gedanke, dass sie sich verändern können, schon in der Konzeption angelegt ist, so Fudakowski. »Dauerhaftigkeit in der Kunst wurde lange Zeit überbewertet – und Veränderung ist der natürlichste Zustand, den es gibt.«
Stationen der »Grand Snail Tour«
»Lesen in Wesel«, 10. Oktober, 15.30 bis 19.30 Uhr
»Loslassen in Hamminkeln«, 31. Oktober, 15.30 bis 19.30 Uhr