Die Museumslandschaft in Nordrhein-Westfalen ist in Bewegung. In mehr als zehn Museen haben neue Direktor*innen ihr Amt angetreten, die das Museum konsequent aus der Publikumsperspektive denken wollen.
Anfang September, Kunstmuseum Gelsenkirchen. Auf dem Programm steht eine Performance von Nezaket Ekici. Es ist gerappelt voll. Mit der Meisterschülerin von Performance-Legende Marina Abramović geht es auf einen Rundgang durch die Sammlung, die Ekici im Zuge ihrer Aktion »Nexus AT« auf eindringlich-eigenwillige Art interpretiert. Die Prozedur führt vorbei am Eingang zur Werkstatt des Museums. An der Tür fällt ein Schild ins Auge: »Kaffeepause 8.00-12.00. Mittagspause 12.00-17.00«. Zwischen den Pausen bitte nicht stören!«
Dass solche ironischen Verlautbarungen am Arbeitsplatz über die tatsächliche Produktivität nichts aussagen, ist bekannt. Für Julia Höner gilt das ebenfalls – und erst recht. Die Kulturwissenschaftlerin hat im Dezember 2022 die Leitung des Kunstmuseums Gelsenkirchen übernommen und in kurzer Zeit schon manches auf die Beine gestellt. Das städtische Museum in Buer, das trotz seiner vielfältigen Sammlung – Highlight sind die kinetischen Werke – vom Kunstbetrieb nicht eben mit Aufmerksamkeit verwöhnt wird, kann es gebrauchen.
»Auftakt in drei Akten«, so nennt Höner ihre Performance-Reihe, bei der Nezaket Ekici die Zweite im Bunde war. Eine programmatische Aktion, betont die Kunsthistorikerin: »Ich möchte mit meinem Programm ein Bewusstsein dafür schaffen, dass das Kunstmuseum eben nicht nur durch seine Sammlung Schätze bietet, sondern auch ein gegenwärtiger und schöpferischer Ort der künstlerischen Produktion sein kann.« Höner will »das Haus mit neuen Geschichten beleben und durch spartenübergreifende Kooperation – wie kürzlich mit dem Gelsenkirchener Musiktheater im Revier – neue Besucherinnen und Besucher für die Kunst begeistern«.
Den Kreis jener zu erweitern, auf die das Museum Anziehungskraft ausübt, das spielt für alle der mehr als zehn Museumsdirektor*innen, die in den vergangenen drei Jahren in Nordrhein-Westfalen Verantwortung übernommen haben, eine herausragende Rolle. Gleiches gilt für Kurator*innen, die an anderen Stellschrauben in NRW-Kunstinstitutionen drehen – beispielsweise für Britta Peters, deren Vertrag als Künstlerische Leiterin von Urbane Künste Ruhr erst kürzlich um weitere vier Jahre verlängert wurde, sowie für die deutsch-finnische Kunsthistorikerin Niina Valavuo, die seit dem 1. August für den Kunstverein Galerie Münsterland in Emsdetten verantwortlich zeichnet.
Die – ohnehin längst bröckelnde – Fassade des unnahbaren, bei vielen Berührungsängste auslösenden Kunsttempels wollen sie ersetzen durch eine Art gläsernes Museum. Ein Museum, das Transparenz und Willkommenskultur praktiziert, das Menschen verschiedener Bildungsgrade entgegenkommt, also »niederschwellig« ist, wie es inzwischen gern heißt. In den 70er Jahren prägte Hilmar Hoffmann, langjähriger Kulturdezernent in Frankfurt am Main, das Schlagwort von der »Kultur für alle«, die es zu verwirklichen gelte. Im Zeitalter der Inklusion erleben wir eine Renaissance dieses Ideals, eine Art »Kultur für alle 2.0«.
Noor Mertens, seit 2021 Chefin am Kunstmuseum Bochum, definiert ihr Haus als »offene Institution, in der sich Besucher*innen auf unterschiedliche Weisen treffen können«. Auch Linda Walther, die im Oktober 2022 ihr Amt als Direktorin des Museumszentrum Quadrat in Bottrop antrat, hat mit Wagenburg-Mentalität nichts am Hut: »Prinzipien, die ich verfolgen möchte, sind die Auseinandersetzung mit der eigenen Sammlung und Kooperationen mit starken Partner*innen«, so die Kunsthistorikerin, zuständig für die weltweit größte Museumssammlung mit Werken der Bauhaus-Legende Josef Albers. »Unsere nächste große Ausstellung entsteht gemeinsam mit Forscherinnen der Ruhr-Universität Bochum.«
Madeleine Frey, die ebenfalls im Oktober vor einem Jahr die Regie einer renommierten Kunstinstitution übernahm, nämlich des Max Ernst Museum Brühl des LVR, sucht ebenfalls die Tuchfühlung mit dem Publikum: »Alle sollen sich willkommen fühlen und ihre eigenen Kunstentdeckungen machen können. Auch junge Positionen sollen im Museum ihren Platz haben.« Konsequenz: Im kommenden Jahr steht neben einer Klassiker-Ausstellung, die sich der freundschaftlichen Verbindung zwischen dem Hausherrn Max Ernst und dem surrealistischen Bildhauer Alberto Giacometti widmet, eine Soloschau der deutschen Multimedia-Künstlerin Nevin Aladağ auf dem Programm.
Einen »dezidiert partizipativen Ansatz« verfolgt auch Florence Thurmes – sie kam im März 2022 an das Museum Ostwall im Dortmunder U, wo sie gemeinsam mit Regina Selter eine Doppelspitze bildet. Ihr Haus, das sich auf Expressionismus, Fluxus und zeitgenössische Kunst spezialisiert hat, sieht Thurmes in dieser Hinsicht gut aufgestellt: »Die Idee, dass das Museum ein ‚dritter Ort‘ sein kann, wurde schon in der Geschichte des Museums angelegt, mit langen Öffnungszeiten (1953) oder der Gründung der ersten Kindermalstube in Deutschland (1961).«
Nach dem Elfenbeinturm, wo einst nicht wenige Museumsleute ihre ‚splendid isolation‘ genossen, sehnt sich offenbar keiner der interviewten Museumsdirektor*innen zurück. Thomas Schmäschke schon gar nicht. Der Kulturwissenschaftler, der im August 2022 die Direktion des Gustav-Lübcke-Museums Hamm übernahm, vereint Pragmatismus mit intellektuellem Anspruch: »Es geht darum, die lebensweltliche Realität der Menschen zu berücksichtigen, abzubilden und somit Relevanz zu erzeugen«, so Schmäschke. In dem Mehrspartenhaus – neben angewandter und bildender Kunst sind hier auch noch Archäologie und Stadtgeschichte vertreten – konnte er bereits »das lange brach liegende Museumscafé wiedereröffnen, eine Sonderausstellung mit der Stadtgesellschaft verwirklichen und die Familienfreundlichkeit erhöhen«. In diesem Monat startet die große Sonderausstellung »Music! Feel the Beat«. Hierbei kooperiert das Museum mit der Musikschule Hamm.
Das Museum als Ort der Synergie
Im Kreise der NRW-Museumsdirektor*innen, die erst seit kurzem am Ruder sitzen, zählt Shao-Lan Hertel zu den Newcomerinnen. Erst im Juli war sie als Leiterin des Kölner Museums für Ostasiatische Kunst (MOK) angetreten. Die Asien-Expertin (sie studierte Ostasiatische Kunstgeschichte und Sinologie) möchte »die Sichtbarkeit des Museums zum einen vor Ort weiter stärken. Zugleich müssen wir auch deutschlandweit präsenter werden.« Um dieses Ziel zu erreichen, hat Hertel viele Ideen – so plant sie für die nächste Museumsnacht Köln am 4. Noevember im MOK »Resonanzräume«. Ziel ist, sagt Shao-Lan Hertel, »das Museum als Haus, Ort und Raum im erweiterten Sinne des Dialogs und Austauschs, des Echos und der Synergie, ‚resonativ‘ spürbar und erfahrbar zu machen«. Eine Klang-Werkstatt für Kinder und Führungen mit musikalischen Bezügen sollen dabei helfen.
Konnte sich Shao-Lan Hertel als Museumsdirektorin immerhin zaghaft warmlaufen, so sitzt Stefanie Kreuzer noch in den Startblöcken: Erst seit dem 1. Oktober ist sie Chefin des Kunstmuseums Mülheim an der Ruhr. Ein Haus, das mit der Expressionismus-Sammlung Ziegler und einem umfangreichen grafischen Bestand punkten kann. Allerdings ist das städtische Museum wegen einer Rundumsanierung seit mehreren Jahren geschlossen. Die Wiedereröffnung ist für 2024 geplant. Dann, da ist sich Kreuzer sicher, wird ihr Haus »ein Impulsgeber für Projekte sein, die die Institution ‚Museum im 21. Jahrhundert‘ thematisieren«.
Stichwort »Museum im 21. Jahrhundert«: Dazu hat auch Nico Anklam einiges beizutragen. 2021 übernahm der Kunsthistoriker die Direktion der Kunsthalle Recklinghausen – in Personalunion leitet er die Städtischen Museen der Festspielstadt. Die ersten Ankäufe von Videos für die Sammlung stehen ebenso auf seiner Haben-Seite wie die Verdopplung der Instagram-Follower. Anklam ist ein Mann mit Pioniergeist: Flo Kasearu aus Estland, Ângela Ferreira aus Mosambik und Marianne Berenhaut aus Belgien, diesen hierzulande kaum bekannten Künstlerinnen ermöglichte er eine erste deutsche Einzelausstellung. Den internationalen Kurs will Anklam fortsetzen: »Ich gebe das Haus im nächsten Jahr erstmals behutsam in andere kuratorische Hände, unter anderem mit einer ‚Rochade‘.« Dann würden der Ausstellungsraum TickTack aus Antwerpen und die Kunsthalle die Orte tauschen. 2025 steht in Recklinghausen ein Jubiläum an – dann feiert die Kunsthalle ihr 75-jähriges Bestehen.« Nico Anklam: »Da sind wir jetzt schon tief in den Planungen.«
Kultur für alle, Inklusion, Barrierefreiheit, Familienfreundlichkeit, das scheinen derzeit dominante Themen im Museumsalltag zu sein – jedenfalls wenn man die Einschätzungen der von uns konsultierten Direktor*innen zugrunde legt. Neben dem Vermitteln gehören zu den Kernaufgaben des Museums aber auch Sammeln, Bewahren und Forschen. Hierfür braucht es qualifiziertes Personal. Da scheint trotz notorisch leerer Kassen der öffentlichen Hand einiges in Bewegung zu sein. Noor Mertens freut sich, dass sie das Team des Kunstmuseums Bochum um mehrere Fachkräfte erweitern konnte – »gemeinsam entwickeln wir die Zukunftsstrategie für das Museum«. Thomas Schmäschke vom Gustav-Lübcke-Museum Hamm verweist gar auf »den größten personellen Umbruch in der über 100-jährigen Geschichte des Museums«. Shao-Lan Hertel beklagt zwar den »gravierenden Personalmangel« am Museum für Ostasiatische Kunst in Köln, zeigt sich aber optimistisch für die Zukunft: »Das wird sich ändern.«
Weil das Museum nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern in einem Gebäude, das die Bedingungen für die Präsentation von Kunst vorgibt, fällt die Museumsarchitektur bei kuratorischen Überlegungen stets ins Gewicht. Das Kunstmuseum Gelsenkirchen ist hierfür ein gutes Beispiel: Das Stammhaus, eine Gründerzeit-Villa, erhielt 1984 Verstärkung durch einen Erweiterungsbau von Albrecht E. Wittig – eine Brücke verbindet die beiden heterogenen Teile. »Das Gebäude«, erklärt Julia Höner, »ist ein Beispiel für die architektonische Postmoderne und hebt sich von anderen Museumsbauten in der Region ab.« Künftig wolle sie auch die Museumsarchitektur neu erschließen. Das kommende Jahr bietet dafür eine ideale Gelegenheit – dann feiert der Wittig-Bau seinen 40. Geburtstag. Das letzte Quartal dieses Jahres steht auch im Kunstmuseum Bochum ganz im Zeichen eines 40-jährigen Jubiläums; der von den Architekten Jørgen Bo & Vilhelm Wohlert entworfene Museumsbau leistet seit vier Jahrzehnten gute Dienste. Zwölf Künstlerinnen hat Noor Mertens eingeladen, um sich »mit der Infrastruktur ‚Museum‘ auseinanderzusetzen«.
Ein Jubiläum kommt auch Shao-Lan Hertel gelegen, um die Aufmerksamkeit auf die Architektur des Museums für Ostasiatische Kunst in Köln zu lenken. Kunio Maekawa (1905-1986), der Erbauer des 1977 eröffneten »Highlights der modernistischen Architektur« (Hertel), hätte 2025 seinen 120. Geburtstag begehen können. Aus diesem Anlass plant die MOK-Direktorin eine große Sonderausstellung zum Thema Architektur in Ostasien.
Überhaupt: Zukunftspläne, Zukunftsvisionen, wie sieht es damit aus in jenen Museen, von denen hier die Rede ist? Im Kunstmuseum Gelsenkirchen arbeitet Julia Höner am Feinschliff für eine schon am 13. Oktober beginnende Gruppenausstellung zur konkreten Kunst – im Zentrum steht der pakistanische Künstler Imran Mir (1950-2014). Wenig später, am 22. Oktober, eröffnet Linda Walther vom Josef Albers Museum Quadrat, Bottrop, die Gruppenausstellung »Kochen Putzen Sorgen. Care-Arbeit in der Kunst seit 1960«.
Derweil stellt Florence Thurmes in Dortmund die Weichen für ein Projekt, das im April 2024 startet: »Ausgehend vom Schwerpunkt der ‚Environments‘ in der Ausstellungsgeschichte des Museum Ostwall zeigen wir eine Ausstellung, die sich explizit an Kinder und Familien richtet und die der Frage nachgeht: Was ist kindgerechte Kunst?« Museen, die Kindern Spaß machen und Erwachsene intellektuell herausfordern, das klingt nach der Quadratur des Kreises. Für dieses Kunststück scheinen die Museen in NRW gut gerüstet zu sein.