Urban Sketcher streifen mit Stift, Pinsel und Malkasten durch die Städte und halten fest, was sie beobachten. Gebäude, Plätze, Straßen, Menschen in Cafés. Eine Begegnung in Bielefeld.
Siegfriedplatz, Bielefeld. Ein Sonntagnachmittag im Juni. Mal sonnig, mal wolkig, mal warm, mal windig. Auf den Treppenstufen vor der Bürgerwache sitzt Christian Tietze, in schwarzem T-Shirt und taubengrauer kurzer Hose, Zeichenblock auf dem Knie, Füller in der Hand, Rucksack vor sich, ein kleiner Aquarell-Farbkasten mit Wasserbehältern neben ihm. Er skizziert gerade die Altbauten, die sich links hinter Lindenbäumen aneinanderreihen. Mit schwarzer Tinte in lockeren Linien. Ein paar Meter weiter sitzt Hanna Stüker, mit hochgekrempelten Jeans, schwarzer Jacke und Sneakers. Auch die 36-Jährige hat ein Skizzenbuch auf den Knien und zeichnet: eine Laterne mit Mülleimer, Menschengruppen, die auf dem Siegfriedplatz picknicken oder einen Mann, der am anderen Ende des Platzes unter einem Baum an einem Stehtisch ebenfalls zeichnet. Schwarz-weiße Miniaturen im Comic-Stil.
Der Mann unter dem Baum ist Dominik Laffin. Der Stehtisch, an dem er Aquarellfarbkasten, Pinsel, Federmappe, Opernglas und E-Zigarette ausgebreitet hat, gehört zum Biergarten nebenan, der sich in einem knallgelben, ausrangierten Straßenbahnwagen befindet – inzwischen ein Markenzeichen von Bielefeld. Heute hat die Freiluftgastronomie geschlossen. Dominik Laffin bannt mit Strichen und Farben die gelbe Bürgerwache gegenüber aufs Papier: das Hauptgebäude mit Uhr, roten Ziegeldächern, Rundbogenfenstern und Dachgaube, die zwei Seitenflügel mit Kastenfenstern. In naturalistischer Manier. Einige hundert Meter entfernt, mitten auf dem Boden aus Backsteinen und Pflastersteinen, hat sich Friederike Riechmann im Schneidersitz niedergelassen. Um sie herum Rucksack, Aquarellkasten, Pinsel, Federmappe und eine Flasche Cola. Zeichenbuch auf dem Schoß. Sie koloriert ihre Vorzeichnung von der gelben Straßenbahn mit Biergarten unter den Linden. Im Kinderbuchstil.
Alle vier sind Urban Sketcher. Sie streifen mit Skizzenbüchern, Malkästen, Pinseln und Stiften durch die Städte und halten fest, was sie beobachten. Vor Ort. Direkt. Dann fotografieren sie ihre Zeichnungen und stellen sie ins Netz: Auf Webseiten oder in den sozialen Medien. Sie gehören der Gruppe »Zeichnen, Malen, Urban Sketching in Bielefeld« an, die Christian Tietze vor drei Jahren auf Facebook gegründet hat. Momentan zählt sie 65 Mitglieder, die sich regelmäßig zu sogenannten Sketchcrawls treffen, also zum gemeinsamen Zeichnen. Heute sind sieben Mitglieder auf dem Siegfriedplatz dabei. Das erste Treffen nach zweieinhalb Monaten Pause aufgrund der Corona-Kontaktsperren. Normalerweise zeichnen sie wöchentlich zusammen.
Die Gruppe um Christian Tietze hat die »Urban Sketchers Bielefeld« beerbt, die seit 2016 nicht mehr auf Facebook aktiv sind. Sie ist eine von über 50 Regionalgruppen in Deutschland und Nachbarländern, etwa Belgien, Luxemburg, Österreich, Schweiz und Polen. Die Urban Sketchers-Bewegung agiert weltweit. Der spanische Journalist und Illustrator Gabriel Campanario hatte sie 2007 in Seattle ins Leben gerufen. Zunächst auf der Online-Fotoplattform »Flickr«. Seine Mission: Zeichner*innen fördern, die das alltägliche Leben in ihrer Umgebung dokumentierten. Vor Ort, schnell und wahrhaftig. Campanario, der für die »Seattle Times« arbeitet, versteht den Urban Sketch als journalistische Zeichnung. Später gründete er einen Urban-Sketchers-Blog, für den aber nur von ihm auserwählte Künstler*innen zeichnen dürfen. Schließlich formte er aus Urban Sketchers eine gemeinnützige Organisation, die das Vor-Ort-Zeichnen als künstlerisches, erzählerisches und bildendes Genre verbreiten will. Zudem möchte sie Urban Sketcher quer über den Globus miteinander vernetzen. Mittlerweile haben sich die »urbanen Zeichner*innen« weltweit zu zahlreichen regionalen Gruppen zusammengeschlossen. Über Workshops und Symposien treffen sie sich auch auf internationalem Parkett.
Eigentlich sollen Urban Sketcher ihre Stadt-Bilder im Geiste eines Manifests anfertigen. Es enthält acht Regeln, etwa »nach direkter Beobachtung« zu zeichnen. Heißt: Keine Fotos, nicht aus der Erinnerung, nicht nachbearbeiten. Die Bielefelder Urban Sketcher nehmen das nicht allzu ernst. »Ich finde solche Regeln einengend. Wenn ich zeichne, fotografiere ich oft Sachen oder zeichne von Fotos ab, die ich nicht selber gemacht habe«, sagt Hanna Stüker. Dominik Laffin ist noch radikaler: »Interessiert mich alles nicht. Manchmal wird man auch nicht fertig.« So erging es dem 47-Jährigen, als er auf einer Bank an der Haltestelle »Landgericht«, unweit von seiner Wohnung, das »Gutzeitcafe« in Strich und Farbe festhalten wollte. »Ich habe gemessen, wie hoch und breit das Gebäude ist, habe die Fenster gezählt, die Proportionen vorgezeichnet, und nach vier Stunden wurde mir langsam kalt. Dann habe ich Fotos von Licht und Schatten gemacht und zu Hause den Rest fertiggemalt.«
Doch andere Regeln aus dem »Urban Sketchers Manifest« befolgen die Bielefelder Stadt-Zeichner*innen schon, zum Beispiel: »Wir unterstützen einander.« Das gemeinschaftliche und solidarische Miteinander animierte sie, der Facebook-Gruppe beizutreten. »Vor Leuten im öffentlichen Raum zu malen, ist am Anfang etwas ganz Komisches. Dafür braucht man so eine Bewegung, weil die wenigsten sich das alleine trauen«, bekennt die 29-jährige Friederike Riechmann. »Zeichnen kann ich auch im stillen Kämmerlein zu Hause, aber so kann ich mich austauschen mit den anderen. Man kann sich gegenseitig inspirieren und korrigieren«, sagt Dominik Laffin. So kommentiert Christian Tietze auf Facebook etwa Hanna Stükers comichafte Zeichnung von Linden und Altbauten am Siegfriedplatz: »Ich mag die Blattschatten sehr gern, heben sich super vom Haus ab.« Die grafischen Werke online zu stellen, fordert übrigens auch das Manifest.
In der Bielefelder Gruppe gehen die meisten Mitglieder kreativen Berufen nach. Hanna Stüker arbeitet als Grafikerin und Illustratorin für eine Werbeagentur, Dominik Laffin ist ebenfalls Grafiker, Friederike Riechmann Medienschaffende. Aber auch Hobby-Zeichner*innen sind in der Community willkommen. Christian Tietze, der Initiator der Gruppe, ist als Software-Entwickler tätig. Der 33-Jährige zeichnet seit der Schulzeit. Eindrücke aus der Umgebung zu skizzieren, empfindet er als »Achtsamkeitspraxis: auf die Umwelt achten, den Kopf frei machen.«
Randzonen im Visier
Die Welt mit Stift und Pinsel aufzuzeichnen, heißt auch: sich die Städte bewusster, intensiver und exakter anzueignen. »Man sieht viele Details, auf die man gar nicht geachtet hat. Zum Beispiel ist diese Uhr an der Bürgerwache recht markant, aber ich habe sie noch nie so besonders angeguckt, und ich saß hier schon oft mit Freunden rum«, erzählt Dominik Laffin. Friederike Riechmann meint, seit sie der Bielefelder Gruppe beigetreten sei, habe sie noch nie so viele Cafés besucht. Hanna Stüker, die gern Architekturen zeichnet, achtet etwa verstärkt auf Hausgiebel. Die Urban Sketcher bezeugen ihre Umgebung aber auch demokratisch. Für sie gibt es keine zeichnungsunwürdigen Motive. Sie widmen sich allseits bekannten Sehenswürdigkeiten wie der Bürgerwache oder der Gastro-Tram. Sie nehmen aber auch die städtischen Randzonen ins Visier: Orte, die für viele unscheinbar, unattraktiv oder gar unwirtlich wirken, aber aus dem urbanen Gefüge nicht wegzudenken sind und sogar Poesie entfalten können. So malte Christian Tietze zwei riesige Kugelgasbehälter nahe des Teutoburger Waldes in Bielefeld-Gadderbaum. Die beiden Industriedenkmäler rosten momentan vor sich hin. Bei Tietze leuchten sie blaugrün, inmitten von blühenden Bäumen und Wiesen. Daraufhin kommentierte ein User: »Sehen bei Dir nicht so gruselig aus wie in echt.«
Mehr zu den Urban Sketchers Bielefeld auf Facebook unter: https://www.facebook.com/groups/usk.bielefeld/.
Infos zu Urban Sketchers in Deutschland finden sich unter: http://germany.urbansketchers.org