50 Jahre werden die Mülheimer Theatertage im kommenden Jahr alt. Unsere Autorin war 20 Jahre im Publikum. Was macht das Format eigentlich aus? Eine Liebeserklärung.
Eine schöne Leiche möchte Frau Schlüter aus dem vierten Stock sein. Der Fruchtsaftlieferant soll sie finden. Im roten Kleid. Die perfektionistische Frau Schlüter hat alles bis ins Detail geplant, doch spätestens als überraschend der Hausmeister kommt, um den Abfluss zu reparieren, ist es vorbei mit all ihren morbiden Plänen. »Mein junges idiotisches Herz« von Anja Hilling war mein persönlicher Beginn der Mülheimer Theatertage, wunderbar komisch, sarkastisch und gleichzeitig tragisch – immer genau so auf der Grenze, dass es mir regelrecht körperlich unangenehm war. Eine Entdeckung! Bis heute schaue ich mir in ganz Deutschland die neuen Stücke von Anja Hilling an, obwohl sie längst vom Radar der Mülheimer Theatertage verschwunden ist.
Dafür genau ist das Festival gut: Entdeckungen von Autor*innen von Theaterstücken. Denn hier wird der mit 15.000 Euro dotierte Dramatikpreis vergeben, das ist einzigartig. Nicht die Inszenierung wird bewertet, nicht das Schauspiel, auch nicht das Bühnenbild oder die Kostüme, es ist das, was dahinter steht, die Grundlage von allem: der Text. Dafür wird in Mülheim ein ziemlicher Aufwand getrieben: Ein Auswahlgremium sichtet die Uraufführungen und manchmal auch die Zweitaufführungen im deutschsprachigen Raum, liest die Stücke und diskutiert, bis sie die sieben Favoriten für das Festival der Gegenwartsdramatik und damit die Auswahl für die Jury herausgearbeitet haben. Dass es hier um den Text geht, ist zugleich eine Herausforderung an das Publikum, das unterscheiden muss zwischen Text und Inszenierung. Denn das Publikum ist bei den Mülheimer Theatertagen nicht passiv, sondern wird aktiv eingebunden: Von Beginn an gab es eine Publikumsstimme, die als gleichwertige Jurystimme gezählt wurde, seit 2003 gibt es den eigenen Publikumspreis.
Witzig oder wortkarg
Nach jedem Stück darf man abstimmen, wie es einem gefallen hat. Und wenn man wie ich die übriggebliebenen Stimmzettel aufhebt, weiß man auch nach Jahren noch, dass einem 2012 »Das Ding« von Philipp Löhle im Gegensatz zum restlichen Publikum nur so »mittel« gefallen hat. Überzeugungsarbeit können die Autor*innen noch im Publikumsgespräch leisten, das es im Anschluss an jede Aufführung gibt. Da gibt es dann die Eloquenten, die Witzigen, die Wortkargen oder auch die, die es schaffen, das Publikum innerhalb von Sekunden gegen sich aufzubringen. Die gibt es auch unter den Zusehenden – aber die Zahl der pensionierten Studiendirektor*innen, die sich mit Textbuch in der Hand immer zuerst gemeldet haben, um den Unterschied zwischen Inszenierung und der Stelle auf Seite 27 zu hinterfragen, ist in den letzten Jahren zurückgegangen. Leider sind dadurch die Publikumsgespräche auch ein bisschen matter geworden, Kritik wird kaum noch geäußert, die Fragen richten sich weniger an den Text als an die Inszenierung oder die Darstellung. Da sollte ich mir allerdings auch an die eigene Nase fassen – habe ich mich doch in den 20 Jahren nicht ein einziges Mal gemeldet. Aber jetzt muss ich mich immerhin nicht mehr schämen, weil ich mir die Stücktexte nicht besorgt habe, sie werden nämlich inzwischen für den Festivalzeitraum auf der Website der »Stücke« zur Verfügung gestellt, so dass ich wenigstens nicht mehr ganz so unvorbereitet bin.
Kaum Vorbereitung ist aber auch Teil meiner Strategie für die Theatertage: Ich gehe vorurteilsfrei in alle Stücke. Ohne zu schauen, ob mich etwas besonders interessiert, oder wie die Kritiken waren. Bin ich doch sicher, dass das Auswahlgremium sich die Arbeit gemacht hat, das Beste in meine Nähe zu holen. Welch ein Luxus! Auch wenn mir bis heute unklar ist, worum es in »Mala Zementbaum« von Armin Petras und Thomas Lawinky bei den Stücken 2007 eigentlich ging und warum der Bühnenboden immer weiter abgebaut wurde. Aber die Maus hat super gespielt! In Mülheim habe ich meine erste Jelinek gesehen, und danach noch sehr viele. Nach meinem ersten Pollesch habe ich mit großer Irritation den Jubelsturm des Publikums betrachtet. Mir nach meiner ersten Loher ihre Stücke zum Lesen besorgt. Und insgesamt eine große Liebe zum Theater gefunden.
1976 gab’s 10.000 D-Mark
Wenn man alle Stücke gesehen hat, wird auch die öffentliche Jurydiskussion zum persönlichen Theater-Bildungsprogramm. Wo gibt es sonst die Möglichkeit, Expert*innen beim Streitgespräch über Theaterstücke zuzuhören? Auch wenn einen so manches Mal der Gedanke überfällt, dass der Abend womöglich nie enden wird, oder dass weder Jury noch Moderation wissen, was als nächstes passieren muss, ist am Ende doch klar, warum sich die Jury für das eine und gegen die anderen entschieden hat. Das strenge Regelwerk legt auch fest, dass nur bepreist werden kann, was in Mülheim zu sehen ist. Immer wieder konnten Stücke nicht gezeigt werden, aus technischen Gründen, wegen Krankheit oder weil die Theater keine Zeit für Gastspiele hatten. In manchen Jahren, gerade in den 1980ern, waren nur vier Stücke im Programm. Im Corona-Jahr 2020 konnte gar nichts gezeigt werden, das Preisgeld wurde unter den Nominierten aufgeteilt. Und ja: 2021 habe ich vor dem Fernseher gesessen und mir die Streams angesehen! Natürlich!
Manchmal bedauere ich, dass ich nicht früher schon dabei war, als Nominierungen und Preisvergabe in der Presse noch kritisch kommentiert wurden und die Großautoren des Theaterbetriebs nominiert waren, die heute quasi Klassiker sind. Bei den ersten Mülheimer Theatertagen »Stücke ’76« ging Franz Xaver Kroetz mit dem Stück »Das Nest« als Sieger hervor. 10.000 D-Mark gab es dafür. Allerdings war das damals noch eine rein männliche Veranstaltung: Alle Dramatiker waren Männer, das gesamte Auswahlgremium und die Jury. Da kann man ja schon froh sein, dass Frauen überhaupt im Publikum sein durften. In den ersten Jahren soll es einen riesigen Ansturm auf die Karten gegeben haben. Heute ist es meistens gut abverkauft, rasend schnell ausverkauft nur selten. Das Festival steht auch in der öffentlichen Wahrnehmung ein bisschen im Schatten des zeitgleich stattfindenden Berliner Theatertreffens. Dabei wünsche ich ihm unbedingt mehr Aufmerksamkeit, es ist so schön uneitel und publikumsorientiert. Andererseits: Das größte Drama wäre, wenn ich keine Karten mehr abbekommen würde!
Die 50. Mülheimer Theatertage »Stücke« finden vom 10. bis 31. Mai 2025 statt.