Patrick Hahn ist mit seinen 26 Jahren der jüngste Generalmusikdirektor im deutschsprachigen Bereich. Der Leiter des Wuppertaler Sinfonieorchesters unterspielt diese öffentlichkeitswirksame Rolle mit angenehmem Understatement.
Wenn man Patrick Hahn gegenübersitzt, ist man mit einem einem angenehmen Gegensatz konfrontiert. Der in Graz Geborene ist seit Beginn der laufenden Saison neuer Generalmusikdirektor (GMD) des Sinfonieorchesters Wuppertal – hat also eine hohe Position in einem gesellschaftlichen Bereich, der von Menschen jenseits der (mindestens) 50 bestimmt wird. Er ist aber erst 26 Jahre alt – und war noch nicht einmal ein Wunderkind!
Feuilletons und Kulturformate in Rundfunk und Fernsehen landauf landab haben über die Personalie Patrick Hahn berichtet. Er ist der jüngste GMD eines Orchesters im deutschsprachigen Bereich, in mindestens der Hälfte aller Überschriften wird er als »Shootingstar der Klassikszene« bezeichnet. Trifft man ihn in seinem neuen Refugium, kann man die Schnappatmung angesichts dieses Hypes allerdings erstmal einstellen, denn dort schrumpft er auf Lebensgröße. Sein Büro an der Rückseite des Opernhaus erlaubt einen Blick auf die Wuppertal-Barmener Tristesse mit Bahnlinie und lässt gerade genug Platz, dass er neben dem Stutzflügel noch jemanden empfangen kann.
»Ja, es stimmt, meine Mutter war Bürokauffrau und mein Vater Schlosser«, erzählt er mit feinem österreichischen Akzent – und macht sich auch sonst nicht größer als er ist. Sein Haushalt sei kein sonderlich musikalischer gewesen, auch nicht in den Vorgängergenerationen. »Mein Opa hat mal Ziehharmonika gespielt«, erinnert er sich nach einigem Kramen im Gedächtnis. Genau wie seine zwei Brüder habe er als Kind Blockflötenunterricht erhalten und als einziger Feuer gefangen. Nicht für die Blockflöte, sondern für die Musik an sich hat er fortan gebrannt. Findige Lehrer erkannten sein Talent und empfahlen ihn weiter. Bald bekam er Klavierunterricht und sang im Knabenchor im 20 Minuten von seinem Heimatdorf entfernten Graz.
In der Heimat selbst übernahm er bereits als Jugendlicher den Kirchenchor – und so erübrigt sich auch die Frage, ob es nicht eine merkwürdige Situation sei, zum Beispiel in der Wuppertaler Stadthalle als 26-jähriger Dirigent einem großen Klangkörper mit gestandenen Musiker*innen gegenüberzutreten. Im Kirchenchor hat er als 15-jähriger 70-jährige Sängerinnen und Sänger angeleitet. »Die hatten Lust und ich hatte Lust«, erinnert er sich, »das war also kein Problem«. Und auch heute macht er meistens gute Erfahrungen: »Wenn ich auf wirklich gute Ensembles treffe, wo die Mitglieder mit sich im Reinen sind, dann spielt es keine Rolle, wie alt jemand da vorne ist.«
Ganz raus aus der Diskussion um sein Alter wird Patrick Hahn erstmal wahrscheinlich trotzdem nicht kommen. In unserer Gesellschaft, die ziemlich klar vorgibt, in welchem Lebensalter man in welchen Positionen zu kommen, wann man welchen Interessen nachzugehen hat, ist er ein Faszinosum. Dem Philipp-Amthor-Phänomen, also als alt wirkender Mensch im jungen Körper manchmal ein bisschen albern zu wirken, entgeht er, weil er so entspannt und mit feiner Selbstironie stehen kann zu seiner besonderen Biographie. »Als Kind war ich schon immer irgendwie außerordentlich im Vergleich zu meinem Mitschülern«, erzählt er. Er hat sich nicht für Fußball interessiert und nicht für den »Mainstream der Radiostationen«, sondern für klassische Musik. »Es war mit wurscht, wenn meine Mitschüler damit wenig anfangen konnten. Ich hatte ja die Gleichaltrigen im Knabenchor.«
Seit er zwölf Jahre alt wurde, war Patrick Hahn klar: »Ich will Musiker werden.« Die Frage war nur: Was für eine Art Musiker? Er studierte zwar schon mit elf Jahren Klavier in Graz, aber er ahnte, dass es zum professionellen Konzertpianisten nicht reichen würde. »Dafür habe ich zu ungern geübt.« Dieselbe Haltung brachte er der Schule gegenüber auf: »Ich war eher Gelegenheitsschüler.« Das heißt, er hat den Stoff mit links eben so gut bewältigt wie er es brauchte. Dafür komponierte er mit zwölf Jahren seine erste Oper. Er saß nach einem Auftritt mit seinem Chorleiter in einem Gasthaus und löffelte an einer Suppe – deshalb heißt die Oper »Die Frittatensuppe«. Aber auch in der Rückschau auf dieses Ereignis, das doch irgendwie nach Wunderkind klingt, bewahrt der GMD sein Understatement: »Ich hatte Komponieren nicht gelernt und konnte es natürlich auch nicht. Die Oper war eine schlechte Mozart-Kopie, learning by doing.«
Immerhin stand er bei der selbst organisierten Uraufführung zum ersten Mal vor einem Orchester und die Zukunft war mehr oder weniger besiegelt. Ebenfalls in Graz (Warum in die Ferne schweifen?) studierte er Dirigat und Korrepetition, belegte Meisterkurse bei zwei der größten Dirigenten aller Zeiten, Kurt Masur und Bernard Haitink, und wechselten dann sogar doch einmal den Kontinent, ging als Fellow nach Aspen, Colorado. »Heute bin ich zu 99 Prozent Dirigent«, sagt er. Komponiert hat er zum letzten Mal 2019 für den Chor des Bayrischen Rundfunks.
»Es gibt so viele tolle Komponisten. Warum sollte ich das auch noch machen?«
Patrick Hahn
In den vielen Medienberichten über den »Shooting-Star« kann man überraschende Seiten Patrick Hahns kennenlernen. Das WDR-Magazin »West-Art« zeigt ihn bei der Performance eines Georg-Kreißler-Kabaretts am Klavier. Da zeigt er auf einmal ungeahnte Präsenz, feuert die Worte ab wie Kanonensalven und lässt die Finger über die Tasten fliegen. Wow! »Kreißlers Lieder sind so gehaltvoll, klug, geistreich, wortgewandt, sie changieren zwischen Komik und Tragik« schwärmt er. Drei Programme mit ihnen hat er schon gemacht und wird sie dieses Jahr auch wieder spielen, im Juni auch in Wuppertal, denn am 18. Juli 2022 wäre Kreißler 100 Jahre alt geworden.
Und dann ist da noch dieser Bericht aus dem Bayrischen Rundfunk, in dem Patrick Hahn von Verhör-Kommissar Clemens Nicol streng befragt (und ob seines Alters konsequent geduzt wird): »Lieblings-Musiker-Witz«? – »Was haben ein Kondom und ein Dirigent gemeinsam? Mit ist sicherer – ohne ist schöner.« Der GMD teilt diesen Ausschnitt zwar in seinem Instagram-Kanal, der über 1600 Follower hat. Als besonders Social-Media-affinen Menschen bezeichnet er sich trotzdem nicht.
Er hat auch keine ungeahnt irrwitzigen Pläne für das Wuppertaler Sinfonieorchester, zu dem er gelangt ist wie die Jungfrau zum Kinde – nämlich, weil er 2020 zufällig als Gastdirigent vorbeischaute als seine Vorgängerin Julia Jones ihren Weggang verkündete. Die Chemie stimmte und er verguckte sich außerdem in den außergewöhnlich schönen Konzertsaal der Stadthalle Wuppertal. »Wir sind ein A-Orchester, aber kein international bekanntes Tournee-Orchester«, sagt er. »Wir müssen hier vor Ort liefern und die Bevölkerung mitnehmen.«
Dieser Bevölkerung jubelt er gerne mal persönliche Favoriten wie Charles Ives, Alfred Schnittke oder Bernd Alois Zimmermann unter, die als nicht ganz einfach gelten. Aber er hält sie auch immer bei der Stange, indem es dazu dann noch einen schöne Tschaikowsky oder anderes klassisch-romantisches gibt. Seine Konzertprogramme bekommen Neugier erregende Titel wie »Hamburg, meine Perle«, wenn Carl Philipp Emanuel Bachs »Hamburger Sinfonie G-Dur« gespielt wird. Und besonders freut er sich auf Richard Wagners »Tannhäuser«, den er am 6. März im Opernhaus als musikalischer Leiter zur Premiere bringt. Aber all das wäre eben nichts ungewöhnliches, wenn der Mensch, der in diesem Bereich wirkt, nicht erst 26 Jahre alt wäre.
Nächste Aufführungen mit Patrick Hahn:
Tannhäuser: 11., 27. März, 30. April, 19. und 26. Juni, Opernhaus Wuppertal
Bachs »Hamburger Sinfonie« u.a.: 13./14. März, Historische Stadthalle Wuppertal
Bruchs »Schottische Fantasie« u.a., 3./4. April, Historische Stadthalle Wuppertal
Mossolows »Eisengießerei« u.a.:24. April, Historische Stadthalle Wuppertal
Strauss »Vorspiel aus ›Ariaden auf Naxos«/ Bartóks »Herzog Blaubarts Burg«:
8. und 15. Mai, 11., 17. und 24. Juni, Opernhaus Wuppertal