Ivo van Hove, der neue Intendant der Ruhrtriennale für drei Jahre, positioniert sich. Das Festivalmotto lautet: »Sehnsucht nach morgen«.
Zu den Kontinuitäten des seit zwei Jahrzehnten bestehenden Landes-Festivals in den ehemaligen Industrie-Hallen der Zechen und Kraftzentralen in Bochum, Duisburg, Essen und Gladbeck gehört der Austausch mit den holländisch-belgisch-flämischen Nachbarn. Beginnend mit dem Spiritus rector und Vordenker des Festivals, dem Opern-Neuerer Gerard Mortier aus Gent und Brüssel, der gleich in seiner ersten Saison Johan Simons mitgebracht und den späteren Nachfolger in ihm angelegt hatte.
Damals schon, sagte Ivo van Hove bei seiner Vorstellung als vom Aufsichtsrat der Kulturruhr bestimmter designierter Intendant 2024 bis 2026 für das mit jährlich 16 Millionen Euro ausgestattete Kunstereignis, habe er das Festival »lieben« gelernt. Nun lenkt er es selbst, stellt ein Motto über das Programm: »Longing for tomorrow« – »Sehnsucht nach morgen« und konzentriert es auf vier Wochen (16. August bis 15. September).
Noch etwas wird sich ändern, zu benennen mit dem Schlagwort Nachhaltigkeit. Das meint konkret, dass alle Produktionen, Oper und Schauspiel und alles dazwischen, zwar beim Festival zur Premiere kommen werden, aber danach in die Häuser der Kooperationspartner, inländischen und ausländischen, wechseln.
Vor ein paar Tagen, sagt Ivo van Hove Ende Januar in seinem Bochumer Büro, habe in Amsterdam seine Premiere des Musicals »Jesus Christ Superstar« stattgefunden. Und er wischt wieder, ohne Widerspruch zu erhalten, den Gegensatz von E und U vom Tisch. Es muss »ernsthaft, aber nicht schwer« sein.
Fünf Produktionen hat van Hove bislang dem NRW-Festival beigesteuert. Während mehrerer Jahrgänge war er mit seiner Toneelgroep, dem Internationalen Theater Amsterdam, präsent. Auch nach nebenan zu den Ruhrfestspielen wurde er eingeladen, mit der intensiv verdichteten Inszenierung von Hanya Yanagiharas Roman »Ein wenig Leben«.
Ein kurzer Blick darauf, weil die Aufführung als beispielhaft gelten kann für van Hoves Stilmethode. Das Buch erzählt im perspektivischen und chronologischen Wechsel von einer irreparablen Versehrtheit, von Liebe und Freundschaft und ihrer Deformation. Van Hove inszeniert ein Purgatorium der Traumata. Wie Yanagihara in ihrem Bestseller platzt er mitten hinein in das Freundes-Quartett auf einem Spielfeld, das Studio, Atelier, Wohnküche, Dancefloor und Behandlungszimmer für die Wunden von Jude, der Hauptperson, ist. An den Seiten der von Zuschauerreihen umstellten Bühne fließen als Videoprojektion Stadtansichten, deren Bilder kriseln, wenn auch wir den Blick abwenden möchten. Auf dieser Transitstation – in einer Ecke wird gekocht, in der nächsten gemalt, auf einer Liege Jude verarztet – ist das Raum-Zeit-Kontinuum aufgehoben, alles möglich und durchlässig. Die Zeit gerät aus den Fugen, errichtet kein festes Gebäude, sondern stapelt Trümmer. Das Spiel ist pur und wahrt den schmalen Freiraum zwischen Rollenfigur und Darsteller.
Polyglott und offen für Populäres
Ivo van Hove (Jahrgang 1958), der seit langem mit seinem Bühnenbildner-Partner Jan Versweyveld zusammenlebt, ist der polyglotteste der bisherigen Intendanten*innen. Seit den achtziger Jahren wird er von Amsterdam bis Berlin, Hamburg, München und Stuttgart, in London, Paris, Wien und New York engagiert und hat bereits das Holland Festival (1998 bis 2004) geleitet. Wie sein Kollege Johan Simons ist der Belgier mit dem »artistischen Projekt« vertraut, nicht theaterhaft etablierte Orte zu bespielen.
Lachend erzählt er, wo seine frühesten Inszenierungen stattgefunden hätten, als in Belgien das Theater »schrecklich« gewesen sei: die erste in einer Wäscherei, die zweite im architektonisch noch nicht urban gestylten Hafen von Antwerpen, während draußen die Prostituierten vorbeistrichen, die nächste – eine Szene aus Botho Strauß’ »Groß und klein« – in privaten Wohnungen.
Hallen, Industrieareale, widerständige Orte sind für ihn keine Fremdkörper: »Sie sind für mich ein Vorteil, kein Nachteil«. Man wolle »die Hallen umarmen, so dass sie ein Freund werden«.
Er schaut auf ein enormes Werk zurück, vielgestaltig, oft auf Shakespeare zurückkommend, auch Tennessee Williams und Eugene O’Neill, Susan Sontag, Marguerite Duras, Molière und die antiken Dramatiker finden sich und filmische Stoffe von Antonioni, Bergman, Cassavetes, Pasolini, Visconti sowie die Bearbeitung der Cowboy-Love Story vom »Brokeback Mountain« für das Musiktheater, denn auch der Oper widmet er sich seit mehr als 20 Jahren. Musik bedeutet ihm, unabhängig vom Genre, stets viel, selbst wenn sie einmal auf seinen Bühnen nicht erklingt: »Dann ist die Stille hörbar«.
Sein Ziel sei es, die Ruhrtriennale »international orientiert auszurichten als bestes Theater für so viele verschiedene und diverse Menschen wie möglich«. Die bevorzugt »extremen« Aufführungen sollen alle Genres umspannen und spartenübergreifend die von Mortier initiierten Kreationen fortsetzen, ergänzt um zeitgenössische Rock- und Popmusik. Er will damit auch die Zuschauerbasis verbreitern, nachdenkend darüber: »was man zeigt, wie man darüber spricht, wie man es bewirbt«.
Das David Bowie-Musical »Lazarus« hat übrigens van Hove uraufgeführt, in New York. Ben Brantley, Theaterkritiker der New York Times, nannte ihn einen »maximalen Minimalisten«. Auf die Frage, ob das Festival demnächst vielleicht ein Musical oder die europäische Erstaufführung eines Broadway-Erfolgs erwarten lassen könne, antwortet Ivo van Hove vorsichtig, das sei »nicht ausgeschlossen: Es gibt einige gute Produktionen, auf die sich ein näherer Blick lohnt.« Ein neues Musical-Projekt, komponiert von dem Singer-Songwriter Rufus Wainwright, sei überdies in Vorbereitung.
Vor eineinhalb Jahren sprach er über den Wandel der Öffentlichkeit, auch im Theater und seinem Publikum: dass der Bürger zum einen als Mitglied der Gesellschaft Verantwortung trage und zugleich dem Impuls folge, sich selbst zu bestimmen und seinen eigenen Wünschen zu leben, was in seinem massiven Ausdruck kaum mehr rückgängig zu machen sei.
»Ein Festival bietet den Menschen die Möglichkeit, über die Welt nachzudenken, in der wir leben, über die Paradiese, die wir verloren haben und über die Paradiese, nach denen wir uns sehnen.«
Ivo van Hove
Das zeitlich nach vorn gerichtete Programm-Motto und sein utopischer Impetus fragt angesichts einer Welt in Aufruhr und der Menschheitskrisen – erbitterte Diskurse der Identitätspolitik, Gewalt, die ganze Gesellschaften bannt, »der Krieg der Natur gegen uns und unser Krieg gegen die Natur«, so van Hove – nach möglichen neuen Paradiesen. Und er ergänzt: »Ein Festival bietet den Menschen die Möglichkeit, über die Welt nachzudenken, in der wir leben, über die Paradiese, die wir verloren haben und über die Paradiese, nach denen wir uns sehnen. Es ist eine Plattform für neue Phänomene und kann ein aktives Diskussionsforum sein. Das ist in der heutigen Zeit besonders wichtig.
Jedenfalls sollte ein Festival immer ein Feuerwerk sein, das wir in Zeitlupe explodieren sehen, es sollte das Publikum überraschen und begeistern. Ein Festival kann helfen, die Menschen zu sensibilisieren, ihre Empathie triggern und sie neugierig auf andere machen.«
Van Hove mit seinen durchdachten Konzepten ist ein intellektueller Ausforscher und Vergegenwärtiger, offen für den experimentellen Charakter der darstellenden Kunst; und er kann breitenwirksam den Unterhaltungsanspruch erfüllen. Der Tony-Gewinner macht sich nicht bange vor Populärem, hat den Knüller »Rent« und Tony Kushners hollywoodeske Aids-Politrevue »Angels in America« inszeniert. Für ihn bestehe die Scheidung zwischen kommerziell und subventioniert nicht, nur eine solche zwischen gut und schlecht.
Starke symbolische Setzungen
Existentielle Krisenmomente zu belichten, ist nicht genreabhängig. Laborsituationen und dramaturgisch ambulante Situationen herzustellen, sind ein Modell seiner Arbeiten, die starke symbolische Setzungen kennen. Die Figuren kommentieren häufig ihre Rollen, stehen neben sich und schauen aus Abstand reflektiert auf ihr Spiel und Wesen. Dramatische Wirkung schafft auch die musikalische Struktur: als Subtext. In Viscontis »Rocco und seine Brüder« etwa (ebenfalls bei der Ruhrtriennale vorgestellt) waren es Songs der Sixties, ein spätes Beethoven-Streichquartett und das Opus 5 von Anton Webern; außerdem erzeugten vier Kammermusiker an Mischpulten Elektroniksound, der sich ins apokalyptische Rauschen gesteigert hat.
Ein großer Wurf gelang van Hove mit seiner exquisiten Trilogie von Romanen des Niederländers Louis Couperus, beginnend mit »Die stille Kraft«, sich fortsetzend mit »Die Dinge, die vorübergehen« und »Kleine Seelen«, ebenfalls für die Ruhrtriennale. Die Aufführungen wurden auch zur literarischen Entdeckung für das deutsche Publikum aus dem Zwischenraum von symbolischer Dichtung und realistischer Erzählung. Der Verfall von Familien und Lebensentwürfen, die Lebenslüge, das Scheitern finden darin Ausdruck. Die indonesische Kolonial-Erzählung von der »Stillen Kraft« etwa hatte Van Hove im Salzlager der Kokerei Zollverein ganz in Dunst gehüllt. Über einem Bretter-Geviert versprühten Düsen Wasser, das in Güssen herabstürzte oder fein nieselte. Das schwül-feuchte Klima absorbierte die Energien. Es gab keine Ruhe, keine Intimität, alles lag zu Tage. Mit exakt präparierten Dialogen wurde die Essenz des Romans in seiner analytischen, erotischen und emotionalen Kraft gewahrt und ihm hohe Wirksamkeit zugetraut.
Ob der Intendant selbst der markanteste Regisseur für sein Festival sein oder wie sehr er als Künstler zurücktreten solle, beantwortet er so: »Während meiner gesamten Karriere als künstlerischer Leiter habe ich immer wieder Regisseure und Regisseurinnen eingeladen, die eine völlig andere Vision oder einen völlig anderen Stil des Theatermachens haben als ich. Ich sehe die Ruhrtriennale als Treffpunkt für eine Vielfalt an Spielstilen und Ansichten, Auffassungen und Kulturen an. Ich bin als Regisseur nur ein Teil davon.«
Und schließlich möchte er auf noch etwas hinweisen: In dem Wort Festival stecke als Anteil auch FEST.
August – September 2023