Ruhrtriennale-Intendantin Barbara Frey inszeniert »Das weite Land«. Ein Gespräch über Arthur Schnitzler, seine Tonalität und unsere Gegenwart, Todesangst, Trägheit und die Armee der Schatten.
»Auffallend ist, wie schlecht der Mann überhaupt in Ihren Dichtungen wegkommt, so schlecht, dass man versucht ist , an ein klein wenig Verleumdung zu glauben.« Schreibt ihm Lou Andreas-Salomé und spricht mit Blick auf sein, auf Arthur Schnitzlers »Ein Märchen« auch vom »überspannten Mann«. Sein Drama »Das weite Land«, das Barbara Frey mit dem Ensemble des Burgtheaters, darunter Bibiana Beglau und Michael Maertens, inszeniert, führt solche Männer und Frauen vor, die sind, was sie sind und darüber hinaus Repräsentant*innen einer Epoche, gerade auch als Gefühlsepoche.
Im Wien der Jahrhundertwende wurde das menschliche Haus ausgeräumt. Ein Kehraus: Egon Schiele malt den Menschen zum Lust-Skelett herab, Karl Kraus sucht ihn heim mit seinem publizistischen Jüngsten Gericht, Elias Canetti legt sein Wahnsystem bloß, Arnold Schönberg sticht ihm ins Ohr und pfeift auf Melodisches. Hofmannsthal erkennt die Ich- und Sprachkrise und wie die abstrakten Worte ihm »im Munde wie modrige Pilze« zerfallen. Und der Übervater Sigmund Freud nimmt ihm seinen Traum von der Herrschaft über Körper, Geist und Seele.
Arthur Schnitzler ist einer von ihnen. Seit seinem »Anatol« ein Spezialist für die Krankheit des Menschseins. Er überführt die Psychoanalyse in die Dichtung, ohne einen Begriff davon zu haben, mehr aus »geheimer Kenntnis« und »Intuition«, so Freud verwundert in einem Brief an ihn. Beide waren Männer des Buches, der jüdische Schriftsteller und Mediziner, und der jüdische Forscher, der mit seinen theoretischen Schriften auch Literatur schrieb.
Das ist der Befund. Das ist die Lage vor dem »Donnerschlag«, der das »Weltfest des Todes« ankündigt, so Thomas Mann auf der letzten Seite seines »Zauberberg«-Romans. Er meint den die europäische »Welt von Gestern« (Stefan Zweig) umstürzenden Ersten Weltkrieg.
Kein Gefühl für die Welt
All diese Künstler-Diagnostiker, Fackel-Träger, Untertage-Schürfende aber sind keine Schlafwandler, vielmehr aufgeweckt bis an die Schmerzgrenze. Barbara Frey erkennt bei ihnen ebenfalls »das Hellwache, Quecksilbrige«, besonders bei den – wie Schnitzler – jüdischen Intellektuellen und Künstlern und ihrer »Multiperspektivität«, die sie benötigt hätten zur Verteidigung gegen Angriffe. Taumeln und irre gehen tun ihre Zeitgenossen, Figuren und Patient*innen, kurzsichtig in ihren Eigeninteressen, Egoismen, Geschäften, Eitelkeiten, Neurasthenien und »Herzensschlampereien«.
Bei Schnitzler – »Das weite Land« wird 1910 wie selbstverständlich in St. Petersburg als einer europäischen Metropole uraufgeführt, 1911 folgen neben Berlin, Wien und Prag weitere Bühnen – ist es die Sexualität, der erotische Reigen mit Frau und Mann vom Einen zu der Anderen und »die Pausen zwischen der einen und der anderen, die sind ja auch nicht uninteressant«, die die Blaupause abgeben für Konflikte, moralische Zerrüttungen und eine »geschäftige Inaktivität«, so der Historiker Philipp Bloom.
Frey stimmt zu: »geschäftig bei ihrem persönlichen Programm und völlig inaktiv bezogen auf eine übergeordnete Agenda. Sie haben kein Gefühl für die Welt und ihre Verantwortung darin«. Diese Gesellschaft komme ihr vor »wie ein heruntergekommener Termitenbau, in dem sich alles aufs Innerste zusammengezogen hat und ein Bewusstsein für die Gesamtarchitektur« fehle. Da verbindet sich die damalige Vorkriegsepoche mit unserer. Wobei Frey erklärt: »Dystopien sind mir zu billig. Mich beschäftigt die Analyse.« Mit Blick auf den Diagnostiker Schnitzler erinnert sie eine auf Flaubert bezogene Sentenz: »Sezieren ist eine Rache«.
Rache wofür? Womöglich für das Begehen der siebenten Todsünde – acedia, der Trägheit. In dieser Gleichgültigkeit erkennt Frey eine »Schutzfunktion gegenüber der absoluten Todesangst, die im Zentrum des Stücks steht«. Nur, funktionieren tue es nicht. Angefangen bei Friedrich Hofreiter, diesem Don Juan, für den »Sexualität der einzige Transmitter« sei und der weibliche Körper konsumiere, um das Sterben zu verleugnen.
Keine Ruhezone
Die seelische Entfremdung, Liebes-Betrug und leere Lust, Lüge und Selbstlüge, Strafe und Selbstbestrafung zwischen dem Ehepaar Friedrich und Genia Hofreiter, ihren Amouren und dem Freundeskreis in »Das weite Land« liegen wie ein Schattenriss auf der brüchigen Fassade aller Lebensbereiche. Der Ehrbegriff ist fad geworden. Die bürgerliche Klasse hat ihre eigene einst progressive Verfasstheit entwertet. Gleichgültigkeit ist es, die 1914 die vierjährige Urkatastrophe mitverursacht, an deren Ende das Schaffen neuer Ordnungen doch wiederum nur einen anderen Zwischenzustand statuiert, der nach zwei Jahrzehnten der Unruhe und Erregung auf ein noch grausigeres »Weltfest« hinausläuft.
Sie könne »keine Ruhezone finden in den fünf Akten«, sagt Frey, »nur Mutmaßungen, Argwohn, Verdacht, Sucht zu überwachen, keine Zärtlichkeit, keine Freundschaft«. Vielmehr »eine schwarze Zone« zwischen zwei Toden, dem Suizid am Beginn und einem unsinnigen Tod im Duell zum Ende. Jede Bemerkung der Figuren falle wie »ein Axthieb«. Nein, das sei kein Plauderton, wie er sich mit Schnitzler gemeinhin verbinde, vielleicht um ihn im Parlando zu verharmlosen. Die Musikerin Barbara Frey hat ein empfindliches Gehör. »Es ist ein anderer Alarmzustand. Von der ersten Zeile an wird bar bezahlt.«
Schnitzler schreibt Spreng-Sätze. Aber es schallt kein Ruf wie Donnerhall, vielmehr erklingt eine Melodie, die von dem um einige Jahrzehnte älteren Wiener Franz Schubert hätte komponiert sein können. Bei dem war der Tod auch ständiger Begleiter. Wie hält Frey es mit Schnitzlers Sprache, seiner Tonalität, wie sie sagt: »Im Wandel der Zeiten ändern sich auch Tonalitäten«. Sie sei knapp und scharf gestellt und gehe nicht in die Breite.
Mit ihrem Ensemble, erzählt Barbara Frey, habe sie sich Jean-Pierre Melvilles filmisches Kriegsdrama »Armee im Schatten« von 1969 angeschaut über Frankreich während der Besatzung: Résistance und Konspiration, Verrat und Misstrauen. Jeder des anderen möglicher Feind. Schnitzlers Drama ist auch ein Stück ‚Schwarze Serie’, seine Figuren bilden eine andere Armee der Schatten.
Arthur Schnitzler, »Das weite Land«, Regie: Barbara Frey
Premiere: 20. August, Aufführungen.: 22., 24. bis 26. August
Jahrhunderthalle Bochum