TEXT: ULRICH DEUTER
Das Ende der Stadt. Übermannshohe Mauern, verriegelte Tore, Schuppen, Gewerbehallen – ein lebloses Nebeneinander abweisender Strukturen. Die schadhafte Straße schlägt einen Haken, der Blick fällt in einen Hof, in dem sich braune Berge türmen. Die Arme von Baggern staksen kreischend dazwischen, die Mäuler zerren an Unerkennbarem: rostigem Kleinschrott? Stinkendem Müll? Das Ende der Stadt ist die Hafenstraße in Herne, Straße der Abfallverwertung, Schindanger unserer Zeit. Eine Sackgasse, die nur auf dem Stadtplan zurück in bewohnte Gefilde führt. In Wirklichkeit sperrt ein Verbotsschild, verriegelt ein Wall die Weiterfahrt. Ein Deich. Oben fegt ein eisiger Wind und kräuselt eine leere Wasserfläche, den Rhein-Herne-Kanal. Am jenseitigen Ufer schwarze Berge.
An manchen Samstagnachmittagen in den kommenden Monaten werden in diese verlorene Straße ein paar Busse einbiegen. In der Nähe des Knicks werden sie halten, zögernd werden die Menschen, die in ihnen gekommen sind, aussteigen und die trostlose Straße hinunterblicken. Es wird zu dämmern begonnen haben, fern am Deich wird trübes Laternenlicht schimmern. Nach und nach werden die Menschen die Straße entlang wandern, der Stelle entgegen, von der es nicht weitergeht. Wahrscheinlich werden sich diese Menschen bereits als Reisende fühlen, neugierig, unsicher, bleibebedürftig. Schon einiges haben sie hinter sich: zwei Theateraufführungen mit Namen und Stoff der Odyssee, Stücke düsteren Inhalts. Dazu Fahrten mit fremden Menschen kreuz und quer durchs Ruhrgebiet. Und nun dieses Stadtende hier, eine bedrohliche Situation überdies.
Das Ende der Stadt ist im Ruhrgebiet ein Ort, den es vieldutzendfach gibt. Das Ende der Stadt, das sind hier die Nahtstellen zwischen den unzähligen Einzelteilen, den wuchernden Siedlungsamöben. Das Ende der Stadt, das sind Unorte, die ihr Gesicht in der Vergangenheit verloren haben oder in der Zukunft eines zu gewinnen hoffen. Unorte, aber keine Endorte – immer geht es im Ruhrgebiet weiter, in die nächste Agglomeration, die nächste Stadt. Und so wird auch unsere Reisenden, wenn sie den Deich erklommen haben, etwas erwarten: ein Schiff, das sie aufnimmt und den Kanal abwärts trägt. Dem nächsten Unort entgegen.
Es sind diese Zwischenwelten, in die das Kulturhauptstadt-Theaterprojekt »Odyssee Europa« seine Zuschauer wirft. Sechs Bühnen haben sich zusammengeschlossen (Bochum, Dortmund, Essen, Moers, Mülheim, Oberhausen); sechs internationale Autoren haben sich von Homers Epos zu eigenen Stücken inspirieren lassen (s. K.WEST 02.2010). Alle Produktionen werden durch eine Theaterreise verbunden, die zwei volle Tage währt und die raumlaborberlin sich ausgedacht hat. Das ist ein Gruppe von Architekten und Stadtplanern mit Sitz in Berlin, die Interventionen im öffentlichen Raum als ihre Aufgabe sieht: Aktionen und temporäre bauliche Eingriffe, die zeigen sollen, dass und wie sich Menschen ganz konkret den Stadtraum zu eigen machen können. Stadtplanung und Architektur von unten, so könnte man das Konzept der Raumlaboranten nennen. Nicht die Draufsicht, die die beiden Baudisziplinen so viele Jahrzehnte lang prägte, leitet sie, sondern die aus Fußgängersicht gestellte Frage: Wer lebt hier? Was soll an diesem Ort in der Stadt passieren? Was ist dazu notwendig?
Einer der Mitbegründer und Macher von raumlaborberlin ist Jan Liesegang, gebürtiger Kölner, in Berlin lebend, studierter Architekt. Jahrgang 1968. »Wir sehen uns durchaus in der Tradition der 60er Jahre«, sagt Liesegang. »Mit dem Unterschied, dass wir nicht die gute Gesellschaft in der Zukunft als realistisches Ziel betrachten, sondern eher kleine Utopien zu bauen versuchen, die in der Gegenwart stattfinden.«
Liesegang managt das Odyssee-Projekt gemeinsam mit seinem Kollegen Matthias Rick; die Crew residiert selbst in einer Zwischenwelt: einem 50er-Jahre-Unhaus unweit der schicken Büros der Ruhr.2010-Verwaltung, im Schatten des schönsten Hochhauses, das Essen besitzt, des RWE-Turms. Die Zusammenarbeit mit Theatern und Theaterleuten ist raumlabor seit seinen Anfängen in den Berliner Wendejahren vertraut; in Ruhrgebiet hat die Gruppe zuletzt die »Eichbaum-Oper« betreut, den Versuch, in Zusammenarbeit mit dem Essener Theater eine verrufene U-Bahnstation an der Grenze Mülheim-Essen durch Kunstwerdung zu erlösen (s. K.WEST 07/08.2009).
Bei der Odyssee aber will raumlabor nur sehr wenig inszenieren: »Wir dachten, wir sollten keine siebte Geschichte erzählen.« Wer an einem Tag drei Theateraufführungen hintereinander anschaue, der brauche in den Stunden dazwischen vor allem eines: Entspannung. Zugleich jedoch soll er erleben, was die raumlabor-Leute am Ruhrgebiet fasziniert: »das Netzwerk der Infrastruktur hier, die mit einer wahnsinnigen Gewalt alles zusammenhält und überall durchstößt und die drunter und rüber geht.« Soll er nachempfinden, was die Erfinder von »Odyssee Europa« dazu trieb, Homers Epos im Ruhrgebiet neu ansiedeln zu wollen: die Analogie zwi-schen der dunklen Irrfahrt des Odysseus und dem dunklen Wuchern der Stadtlandschaft.
Nicht nur Odyssee Ruhrgebiet, sondern Odyssee Europa: Dass die Gemeinsamkeit des Kontinents zu bauen selbst eine Odyssee darstellt, das ist der andere Grundgedanke dieses Bühnenprojekts. Die Erfahrung des Ausgesetztseins; die Kraft der Suche; Verlust und Wiederaneignung von Heimat; die Begegnung mit dem Fremden; die Erkenntnis des eige-nen Schicksals – vor allem die sechs Theaterstücke haben sich hieran abgearbeitet, in, wie erwähnt, durchweg düsteren Bildern. raumlabor stellt dagegen einen potenziell spannenden, im Gegensatz zu den tödlichen Originalabenteuern des Odysseus auch nicht mehr allzu bedrohlichen Aspekt der Reise in den Mittelpunkt: die Begegnung mit Fremden, die Magie zwischen Gastgeber und Gast. Konkret: Wer »Odyssee Europa« bucht, bucht, wenn er will, einen Gastgeber mit. Der ihn zwischen der ersten und der zweiten Aufführung zu den Plätzen seines Ruhrgebiets fährt. Der ihn nach der dritten Aufführung spät am Abend abholt und ihm Herberge bietet. In der eigenen Wohnung. Die auf diese Weise möglichen Dramen der Begegnung zwischen völlig Fremden, sie sind es, die Jan Liesegang am meisten zu faszinieren scheinen. Auch wenn er nie erfahren wird, was seine um die 200 Gastgeber mit ihren Gästen erleben – Liesegang ist sicher, dass es auf jeden Fall prägend sein wird. »Das hat doch immer eine gewisse Radikalität, wenn man jemand Fremden mit nach Hause nimmt. Gerade dann, wenn es jemand ist, dem man sich sonst nie genähert hätte. Wenn vielleicht die Chemie nicht stimmt. Und man muss jetzt trotzdem da übernachten.«
Allerdings können diese Begegnungen auch völlig banal verlaufen. Wie Urlaubsbekanntschaften. Und dann? Das Theater, das schon früher und radikaler als die Stadtplanung seine Erfahrungen mit dem Authentischen gemacht hat, das angeblich außerhalb der Kunst existiere, weiß ein Lied davon zu singen, dass dieses Authentische nicht das Wahre, sondern das Klischierte ist. Den anderen Blick auf die Stadt, den sich raumlabor wünscht, wird man vom gewöhnlichen Stadtbewohner nicht erwarten dürfen. Und wahre Fremdheit kommt zwischen fernsehegalisierten Individuen ein und derselben Kultur und sozialen Schicht vermutlich auch nicht auf.
Ein todsicheres Abenteuer wäre gewesen, man hätte die ruhrgebietsfremden Theaterbesucher nach einer Aufführung ganz einfach gebeten, selbst den Weg in die nächste Stadt zum nächsten Theater zu finden. Möglicherweise würde »Odyssee Europa« dann, wie die Urirrfahrt, ebenfalls zehn Jahre dauern.
Odyssee-Reisetermine sind 27./28. Februar (Premiere) sowie 6./7. März, 13./14. März, 2./3. April und 22./23. Mai 2010. www.ruhr2010.de/odyssee-europa + www.odyssee-europa.de + www.raumlabor.net