Eine neue Fußgängerampel leuchtet am Berliner Platz, dem überdimensionalen Kreisverkehr im Norden der Essener Innenstadt. Der zugehörige Überweg führt dorthin, wo sonst niemand hingeht: Auf die Verkehrsinsel in der Mitte. Dieses Rondell überrascht mit einer wunderbar wilden Blumenwiese, auf der nun Holzrahmen für Hochbeete liegen. »Wenn ich den Rahmen über die Margeriten stülpe und draußen einmal abmähe, kultiviere ich das mehr oder weniger wilde Wachstum. Dann wird es für den Menschen lesbar und sieht auf einmal aus wie ein geordnetes Beet«, erklärt Markus Ambach, der mit seinem Projektbüro seit 20 Jahren Kunst im öffentlichen Raum macht.
Die gerahmten Blüten sind ein zufällig entstandenes Werk, denn eigentlich hatten die Kurator*innen eine gemähte Wiese erwartet und die Hochbeete für die eigene Gärtnerarbeit bestellt. Auf der unattraktiven, dreispurig umfahrenen Fläche zwischen Einkaufszentrum und Ikea wurde außerdem ein kreislauffähiges Tiny-House errichtet, auch ein Klimacamp von Fridays for Future ist hier neuerdings zu finden. »Eco-Village« nennt Ambach die so belebte Insel – sie ist das Zentrum des Projekts »Folkwang und die Stadt«, das mit insgesamt 18 Arbeiten an 15 Schauplätze in der Essener City Nord gezogen ist.
»Vor drei Jahren haben wir mit ‚Folkwang und die Stadt‘ einen Prozess in Gang gesetzt, um das Museum zur Stadt hin und zu ihren vielfältigen Gemeinschaften zu öffnen«, erläutert dazu der Direktor des Museum Folkwang, Peter Gorschlüter, der die große Outdoor-Ausstellung gemeinsam mit Markus Ambach kuratiert hat. Pate stand dabei der Folkwang-Gedanke des Museumsgründers Karl Ernst Osthaus, der Kultur, Stadt und Leben miteinander vereinen wollte.
Vor 100 Jahren wurde Osthaus‘ Sammlung von Hagen nach Essen verkauft und dort im Folkwang Museum weitergeführt. »Osthaus verfolgte mehr als nur die Gründung eines Museums«, erläutert Peter Gorschlüter die Hintergründe des Projektes, mit dem das Museum nun hinaus zieht. »Osthaus siedelte Künstler*innen in der Stadt an, beauftragte Gestalter*innen und Architekt*innen mit neuen Entwürfen, organisierte Schaufenster-Wettbewerbe, gründete eine Schule und plante neue Bezirke. Mit all dem wollte er das Ruhrgebiet nachhaltig verändern. Diesem Erbe fühlen wir uns verpflichtet.«
Immer häufiger bewegen sich Museen und andere Kulturinstitutionen aus ihren Häusern hinaus, in die Gesellschaft hinein. So machen sie ein Angebot wortwörtlich ohne Hemmschwelle. Kulturelle Inhalte lassen sich damit an neue Zielgruppen vermitteln. Markus Ambach sieht es aber vor allem als Gelegenheit zur Interaktion zwischen Kunst und normalem Leben – Hochkultur trifft Alltagskultur. »Der Kunstdiskurs kann zu den allgemeinen Problemen etwas sagen«, so der Kurator. »Er muss sich aber dafür auch mit den Lebensrealitäten auseinandersetzen, zum Beispiel der Menschen vor Ort.«
So sind viele der ehrenamtlichen Initiativen in Essen an »Folkwang und die Stadt« beteiligt. In der »Expo Alternativ« in einem ehemaligen Fahrradgeschäft präsentieren sich Bürgerprojekte zu Foodsharing, Computerreparatur, Stadttauben oder zur Verständigung zwischen den Kulturen. Auch im Zentrum von »Folkwang und die Stadt« auf dem Berliner Platz zeigt sich das: Es ist kein Kunst-Ausstellungsort, sondern Präsentationsfläche von Initiativen zu Klimaschutz und Nachhaltigkeit. »Ich finde das Ineinanderlaufen der Bereiche und die Gefahr, die darin liegt, unheimlich kreativ«, begründet Markus Ambach den weit gefassten Kunstbegriff. »Das ist für mich ein gestalterischer Faktor, weil beide anfangen, voneinander zu lernen.«
In jedem Fall gibt es neue Impulse, auch für das Publikum. Und für das Folkwang Museum, wie dessen Direktor Peter Gorschlüter betont: »Es ging und geht uns bei diesem Projekt nicht darum, mehr Besucher*innen ins Museum zu locken, sondern das Haus weiter zu öffnen für einen breiten gesellschaftlichen Diskurs und Teilhabe.«
Tätowieren wie Dürer
Im Schaufenster des Tattoo-Studios »Art Faktors« kuratiert die spanische Wahl-Essenerin Myriam Black eine Ausstellung zur Geschichte und Kunst der Tätowierung. Myriam Black hat das Handwerk bei einem Meister gelernt, der vornehmlich Dürer auf Arme, Beine, Bauch und Rücken seiner Kunden gestochen hat. Jetzt macht sie mit der Kunst-Tätowierung weiter: Als Vorlagen dafür hat der britische Künstler Jeremy Deller vier expressionistische Linolschnitte aus der Sammlung des Museum Folkwang ausgewählt. Aber Achtung: jedes Motiv gibt es nur einmal.
Nicht mitnehmen!
Die Wohnbeispiele in Möbelhäusern sind für gewöhnlich gestaltet bis ins letzte Detail: Bett, Tisch, Regale, Sessel, alles passt zu den erdachten Bewohnern, auch die Bilder an den Wänden. Im Essener IKEA werden unter dem Titel »Folkvangar« die Wanddekorationen nun aber neu geordnet: Kurator Rene Grohnert hat dazu aus der Sammlung des Deutschen Plakat Museums im Folkwang Stücke ausgewählt. Manche passen zu den Möbeln, andere sorgen aber auch für Irritationen.
Lichtsignale in die Freiheit
Seit Jahren leitet die Essener Künstlerin Anne Berlit Kunstworkshops im Gefängnis. Mit der Arbeit »Licht am Ende des Tunnels« verweist sie auf eine Praxis von Gefängnisinsass*innen, die sich nachts Nachrichten per Taschenlampe über den Hof zukommen lassen. An einer stilisierten Litfaßsäule schicken Gefangene der JVA ihre Nachrichten nun in die Stadt – Passant*innen können Rückmeldung geben und Fragen stellen. Eine Kontaktaufnahme in die verschlossene Parallelgesellschaft hinein.
Tanz die Kunst
Seit Jahren ist der ehemalige Club »Naked« in der Essener Rottstraße geschlossen. Jetzt wird darin wieder getanzt – in der Videoinstallation »Universal Tongue« von Anouk Kruithof aus der Sammlung des Museum Folkwang. Auf acht großformatigen Projektionsflächen, die bis hoch in den Luftraum der Galerie reichen, bewegen sich Menschen und Communities aus der ganzen Welt und laden zum Mittanzen ein.
Die Zukunft ist jetzt
In der Filminstallation »Kempinski« des französisch-algerischen Künstlers Neïl Beloufa berichten Menschen aus Mali von ihren Zukunftsvisionen. Sie erzählen jedoch in der Gegenwartsform, so als seien ihre Träume bereits Wirklichkeit geworden. Es ist nur eine kleine rhetorische Verschiebung, die aber für starke Irritationen sorgt. Das Werk ist inmitten der »Expo Alternativ« zu sehen, wo sich ehrenamtliche Initiativen aus Essen präsentieren.
Folkwang und die Stadt
Bis 7. August