K.WEST: Ist Arbeit sinnvoll?
SIMONS: Nicht immer. (lacht) Hängt davon ab, was man tut.
K.WEST: Viele wissen nicht, was sie tun…
PERCEVAL: Ich glaube, dass Arbeit sehr stark verbunden ist mit Freiheit. Wenn sie sich nicht wenigstens um ein Gefühl von Freiheit bereichert, hat es keinen Sinn, weniger finanziell, als seelisch betrachtet.
K.WEST: Vielleicht ist nicht Freiheit von Arbeit das Ziel, sondern Freiheit in der Wahl der Arbeit und ihrer Bedingungen; Stichworte sind einerseits Selbstverwirklichung und zum anderen Entfremdung. Da ist der Künstler gelegentlich in privilegierter Situation.
PERCEVAL: So fühle ich mich jeden Tag, privilegiert, dass ich diesen Beruf machen darf. Was für ein Luxus, in einem Probenraum zu sitzen…
SIMONS: Genau.
PERCEVAL: …und sich mit einer Gruppe von Menschen Gedanken zu machen, nicht nur über einen Text, sondern über das Leben, die Gesellschaft etc. Das empfinde ich als Reichtum – und als Glück, das mir zugefallen ist. Ich habe dieses Glück zwar gesucht. Aber dass es sich realisiert hat, war Glück.
SIMONS: So sehe ich es auch. Wir haben ein Plakat zu meiner Pasolini-»Accattone«-Inszenierung gemacht. Darauf steht: »Arbeit stinkt«. Für viele Leute ist das so.
K.WEST: Hier, im Revier, stank die Arbeit besonders. Herr Simons, Sie ziehen mit »Accattone« nach Dinslaken, in die Halle Lohberg. Voll in den Kiez. Und hatten dort einen Briefwechsel mit Dinslakens stellvertretendem Bürgermeister Eyüp Yildiz, der Sie kritisch zur Ruhrtriennale und seinem möglichen bzw. unmöglichen Festival-Publikum befragte.
PERCEVAL: Lassen Sie mich noch eine Bemerkung machen. Unser Theater ist geprägt vom bürgerlichen Kanon, ohne Bürgertum würde das Theater nicht überleben, und gleichzeitig ist es unser Gefängnis und der grausame Ausschluss einer Mehrheit, gegenüber der wir uns anscheinend nicht zu öffnen verstehen. Probleme und Vorurteile wirken dabei von zwei Seiten, die Eingeladenen reagieren und kommen auch nicht. Ich habe Versuche mit anderen sozialen Milieus unternommen, nicht nur in Antwerpen. Es hat nie geklappt.
SIMONS: Diese Erfahrung habe ich schon in den 1980er/90er Jahren mit meiner Gruppe Hollandia gemacht. Es hat nicht geklappt. Auf unser Motiv »Seid umschlungen«, mit dem wir jedermann ansprechen wollen, hat der stellvertretende Bürgermeister von Dinslaken, Eyüp Yildiz, reagiert. Lohberg ist ein vornehmlich türkisch geprägtes Viertel. Und ist in die Schlagzeilen geraten, weil bis zu 25 Salafisten gezählt wurden, von denen einige nach Syrien und in den Irak gereist sind, um für den »IS« zu kämpfen. Also ein schwieriges Terrain für unsere Hochkultur. Herr Yildiz fragte: Sind wir wirklich gemeint? Soll ich mich auch umschlungen fühlen? Klar, er hat auch Recht. Er kritisiert, dass die sogenannte Hochkultur die Leute dort nicht bei der Hand genommen, sie nicht mit ins Zentrum unserer Kultur und Kunst genommen hätte. Darüber müssen wir diskutieren. Aber es ist von uns alles andere als ausgrenzend gemeint. Luk und ich etwa kommen beide aus einfachen Familien. Beide machen wir Aufführungen über das Thema Arbeit, mit Pasolini und Zola.
K.WEST: Zwei sehr unterschiedliche Positionen. Bei Pasolini ist das soziale Element nur eines, darunter oder darüber liegt eine katholisch geprägte mythische Schicht. Es ist die, auch erotische, Fantasie von einem Arbeiter. Wobei Accattone – übersetzt: der Bettler – ja ein Nicht-Arbeitender ist.
SIMONS: Accattone fragt immer wieder die anderen: Warum geht ihr überhaupt zur Arbeit? Er, als Nicht-Arbeitender, ist der Höchste in der Hierarchie. Er darf das fragen. Für ihn ist Arbeit nutzlos. Sein Körper, obwohl stark und groß, ist, findet er, nicht für Arbeit geschaffen.
K.WEST: Der Gegenbegriff zur Arbeit ist Muße, was die Antike als idealen Zustand beschrieb. Was noch bei Proust schön war, Eleganz und Stil besaß, gilt dann bald nichts mehr. Der Müßiggänger wird zum Schmarotzer und Tagedieb. Eine parasitäre Existenz.
SIMONS: Pasolini unterlegt Accattones Schicksal mit der Musik von Bach, um ihm den Ausdruck einer geschwärzten Leidensgeschichte zu geben. Wir folgen ihm darin, das heißt Philippe Herreweghe und sein Collegium Vocale Gent, die der Aufführung 50 Minuten Bach schenken. Mit den Kantaten bekommt es die Dimension zwischen Himmel und Erde. Das ist weniger konkret als bei Zola.
PERCEVAL: Zolas Welt ist scheinbar naturalistisch, realistisch, aber dahinter gibt es auch eine mythische Dimension. Wenn man seine Symbolkraft mitliest, handelt sein Werk einerseits vom Menschen in einem Darwin’schen Prozess hin zur eigenen Befreiung; aber es steckt darin auch der Gedanke der Befreiung von seinem Sklavenstatus des Bestialischen, vom Zustand des Triebhaft-Animalischem, von Sex und Alkohol hin zur Läuterung und zu höherem Bewusstsein. Es enthält eine metaphorische Kraft und den philosophischen Glauben, dass der Mensch Teil einer Natur ist, die sich weiterentwickelt. Im Prozess zur Individuation.
K.WEST: Zolas Zyklus der Rougon-Macquart besteht aus 20 Bänden.
PERCEVAL: Aus denen wir neun Romane ausgewählt haben und daraus sieben Motive nehmen. Wir fangen an mit »Doktor Pascal« und »Der Totschläger«. Das skizzierte Leitmotiv gilt auch für die Folgebände »Germinal« und »Bestie Mensch«. Tatsächlich glaubte Zola, dass der Mensch sich nicht bloß über Arbeit definiert, sondern sich auch durch sie zu befreien vermag. Es ist die Epoche, in der der Glaube an Technik, an Ökonomie, an das Machbare einen Höhepunkt erlebt und dann seine Krise, 1912 beim Untergang der Titanic und dem nahenden Ersten Weltkrieg.
K.WEST: »Arbeitslose sind Arbeitssuchende, also äußerst wichtig als Archäologen der Gesellschaft.«, hat Christoph Schlingensief gesagt.
PERCEVAL: Schön. Ja, sie fördern zutage, womit wir nicht konfrontiert werden möchten. Interessant finde ich den Kontrast, dass wir Zola jetzt bei der Ruhrtriennale spielen, 150 Jahre später, und in einer geologischen und ökonomischen Wüste stehen. Das, woraus sich der Mensch damals bei uns befreien musste, passiert jetzt in China, Indien, Südamerika.
K.WEST: Auch eine familiäre Wüste.
PERCEVAL: Während wir durch ein männliches Bild Gottes geprägt sind, beginnt Zola mit einer Urmutter – ein buddhistischer Gedanke. Diese Tante Dide ist die Stamm-Mutter der sich in zwei Zweige auseinander entwickelnden Rougon-Macquarts, die schon 20 Jahre schweigt, auf ihren Tod wartet und wütend ist auf ihre Familie. Es ist der Verlust des Paradieses.
SIMONS: Höllenfahrten und das verlorene Paradies – Generalthemen unseres Festivals. Die große Strafe Gottes ist, dass er nicht existiert. Sage ich als Protestant.
K.WEST: Eine andere Höllenfahrt ist Wagners »Rheingold«, das Sie, Johan Simons, inszenieren. Die Gier nach Gold und Macht als Vertragsbruch, Betrug und tiefe Schuldverstrickung.
SIMONS: Ich bin überzeugt, Wagner hat das speziell fürs Ruhrgebiet geschrieben, umso überzeugter, seitdem ich unter Tage gewesen bin, rund 1200 Meter in der Tiefe. Alberichs Reich. Kaum zu glauben, dass dort unten gearbeitet wurde – und noch wird. Ich habe geschwitzt wie wild und war sehr ängstlich und das schon bei unserem touristischen unter-Tage-Fahren. In den fünfziger Jahren, hörte ich, war fast eine halbe Million Bergleute unter Tage beschäftigt, bis Ende 2015 sollen es nur noch 8000 sein. Alberich hat sie entlassen.
PERCEVAL: Zola beschreibt das drastisch in »Germinal«. Mein Großvater war auch Bergmann, hat angefangen mit 14 und geschuftet bis er 50 war; gestorben ist er dann an einer Staublunge.
K.WEST: Patrice Chéreau hat Wagners »Ring« in seine Entstehungszeit situiert, in das bürgerliche Industriezeitalter.
SIMONS: Das ist auch bei uns so, die Jahrhunderthalle Bochum ist schon aus sich selbst heraus ein industrieller Raum. Unser »Rheingold« ist im Ruhrgebiet verortet, zur Hoch-Zeit der Krupps mit den entsprechenden Referenzen. Ich kann Wagner manchmal hassen, weil es so pathetisch ist. Aber auch sehr lieben. Wagner, befreundet mit Bakunin, interessiert an Marx und von revolutionärer Kraft, übt natürlich Kritik am entstehenden Kapitalismus.
K.WEST: Zurück zur Arbeit, geistlich betrachtet. Luk Perceval, Sie haben sich, ursprünglich Katholik, dem Buddhismus zugewandt. Wie hält man es da mit der Arbeit?
PERCEVAL: Alles wird gedacht im Rahmen des Karmas. Wenn Leben Leiden ist, parallel zum Christentum mit Jesus am Kreuz, glaubt der Buddhismus nicht an Erlösung im Himmel oder Verdammnis der Hölle, an Belohnen oder Strafe, sondern glaubt an Befreiung vom Leiden während des Lebens, gerade auch indem man die Einsicht in die Vergänglichkeit von allem verinnerlicht, etwa durch Meditation. Was die Arbeit betrifft, sieht man sie als Teil dieses Prozesses. Ein Hauptziel ist, keine negativen Spuren zu hinterlassen. Man arbeitet im Bewusstsein für das, was man zurücklässt, für das und für den, der nach einem kommt. Es geht nicht primär um Profit. In Bangkok gibt es ein Kloster mit Mönchen, die die besten Börsenspekulanten sind. Mit den Gewinnen leisten sie soziale Hilfe. Ziel ist immer das Ganze – wie kreiert man durch seine Haltung, seine Arbeit einen Beitrag zum kosmischen Zusammenhang in der Welt der Erscheinungen. Ganz konkret: Wenn man Suppe zubereitet, wird nichts weggeworfen. Man hinterlässt keine negativen Spuren. Sondern fragt, was bleibt übrig an positiver Wirkung.
K.WEST: Verantwortlichkeit, Nachhaltigkeit, Achtsamkeit. Das würde durchaus passen zum Evangelischen Kirchentag.
SIMONS: Die Katholiken sind viel näher dran am Buddhismus, als die Protestanten. Im Katholischen ist man an Rituale gewöhnt, der Protestantismus glaubt an das Wort. Die Bibel sagt: »Am Anfang war das Wort«. Das wurde uns als Kind vorgebetet. Das ist belastend. Man kann das kaum je verlieren.
K.WEST: Funktioniert der Protestantismus da nicht wie die Psychoanalyse, wo das intellektuelle Begreifen forciert wird und sich an das Formulieren und Aussprechen des Wortes koppelt?
PERCEVAL: Und Misstrauen hegt gegenüber dem, was man nicht erklären kann. Der Emotion. Der Intuition.
SIMONS: Jawohl, Misstrauen gegen das Nicht-Erklärbare. Das ist der Protestantismus auch. Deshalb sind die flämischen Maler auch andere Maler als die niederländischen. Mondrian ist für mich ein Protestant, selbst wenn er Katholik gewesen ist, weil er nicht dem Bild traut. Er traut nicht der Vorstellung.
PERCEVAL: Er ordnet den Raum.
K.WEST: Im Protestantismus, Puritanismus und Calvinismus besonders, ist Erfolg Gottesdienst. Gnadengewissheit erhält derjenige, der sich durch Arbeit profiliert. Max Weber hat in »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« den Willen zur Arbeit mit asketischem Konsumverzicht verbunden. Kein Glück oder nur das Glück freiwilligen Entbehrens.
SIMONS: Aber am liebsten mit viel Geld. Kennzeichnend dafür ist, dass man in Holland das Geld für seine Kinder bewahrt. Man arbeitet nicht für sich selbst, sondern die Folgegeneration. Das ist sehr mit unserer Mentalität verbunden.
PERCEVAL: Wir in Flandern sind gepresst zwischen Katholizismus und Calvinismus. Und geprägt durch 600 Jahre Unterdrückung. Man ist katholisch, aber geht nicht in die Kirche, oder nur, um danach Geschäfte zu machen oder Politik. Da wird das Land regiert oder verteilt. Das ist keine gelebte Religion, sondern Schein. Die Flamen sind auch faul. Andererseits und das ist schön, man tut es auf seine Weise. Der Flame macht es so, wie es ihm gefällt. Wir haben nicht den Ehrgeiz der Holländer, die Welt zu erobern. Man boxt sich durch, zuletzt, weil man solche Wut gegen das Land hat – das macht stark, denken Sie an Brel oder Simenon, die sind geflüchtet nach Frankreich. Es fehlt mir in Flandern oft der Ehrgeiz, dabei liegt im Ehrgeiz doch Freude und Disziplin unterwegs dahin, etwas zu realisieren.
K.WEST: Dieses Erhebende, Positive, Heiter-Feierliche, dieses »Jesu, meine Freude« spürt man auch bei Bach. Nicht wahr, Johan Simons?
SIMONS: Hör mal, Bach war kein katholischer Mensch. (lacht) Aber Bach wird am besten gespielt von den Flamen, dem katholischen Herreweghe. Die Protestanten missverstehen Bach, indem sie sagen, er sei Mathematiker. Nein, er ist überhaupt kein Mathematiker, er ist sehr sinnlich. Bach trifft mit seiner Musik in den Bauch. Bei den Protestanten muss es über den Kopf gehen, den soll man klar halten. Wer seinem Gefühl folgt, begeht Sünde. Man soll Struktur haben. Es ist falsch zu denken, Bach ginge es um Struktur. Nein, es geht ihm um Gefühl.
K.WEST: Sagen wir es also mit einer von Bachs Kirchenkantaten: »Ich habe genug«.
Pier Paolo Pasolini, J.S. Bach, »Accattone«, 14., 15., 19., 20., 22., 23. August 2015; Kohlenmischhalle, Zeche Lohberg, Dinslaken. Eine Produktion der Ruhrtriennale und des NTGent. Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Mit freundlicher Unterstützung der RAG-Stiftung und der RAG Montan Immobilien.
Emile Zola, »Liebe. Trilogie meiner Familie 1«, 9. bis 13. September 2015; Gießhalle, Landschaftspark Duisburg-Nord. Eine Produktion der Ruhrtriennale und des Thalia Theater Hamburg.
Richard Wagner, »Das Rheingold«, 12., 16., 18., 20., 22., 24., 26. September 2015, Jahrhunderthalle Bochum. Eine Produktion der Ruhrtriennale. Gefördert von der Kunststiftung NRW.