TEXT: INGO JUKNAT
Seien wir ehrlich, gute Musikbücher sind selten. Oft sind es buchhalterisch zusammengetragene Anekdotensammlungen, deren Relevanz für Nicht-Fans gegen Null geht. Man erfährt, dass John Lennon am 1.3.1966 eine Saite gerissen ist oder Neil Young mal bei den Pfadfindern war. Manchmal tauchen aber auch Titel auf, die eine ganze Zeit wiederauferstehen lassen und den Rahmen reiner Musikhistorie sprengen. »Ratinger Hof« von Ralf Zeigermann ist so ein Buch. Es handelt von der gleichnamigen Kneipe in Düsseldorf, die zur Keimzelle des Punk und der New Wave in Deutschland wurde. Die Geschichte ist schon einmal erzählt worden, 2002, in Jürgen Teipels »Verschwende Deine Jugend«. Stellt sich die Frage: Fügt dieser neue Band ihr etwas hinzu?
Das tut er. Da wären zunächst die Fotos. Viele der Anekdoten aus »Verschwende Deine Jugend« bekommen nun ein Gesicht. Wer wissen will, wie die legendäre Gänsefedern-Performance der Band Minus Delta T aussah, was die englische Band Wire im Hof getrieben hat, oder wo die Flipper standen, an denen die Protagonisten ihre Jugend verschwendet haben – voilà. Dabei richtet sich »Ratinger Hof« nicht nur an jene, die sich mit der Geschichte von Punk und New Wave auskennen. Man kann den Band auch als allgemeine Pop-Archäologie betrachten, die vergangene Moden, Gesten und manchmal sogar Tanzstile ausgräbt.
Es lohnt sich, genau hinzuschauen. Auch – und gerade – bei den Bildern, die menschenleer sind. Was die Besucher im »Hof« bewegte, entdeckt man nicht zuletzt an der Klowand. »Erst der Arm / und dann das Bein / und dann das ganze Popperschwein«, »Nieder mit den langhaarigen Lockenköpfen«, »Jazz: reaktionäre Musik für reaktionäre Leute« – die krakeligen Inschriften wirken wie Höhlenmalereien einer Zeit, in der musikalische Vorlieben noch mit heiligem Ernst verhandelt wurden. Politisches wurde eher an den Wänden im Hauptraum thematisiert. Hier finden sich die Themenkreise der später 70er und frühen 80er wieder: Soli-Statements für Hausbesetzer, Polizeistaatsparanoia, Schmidt-Bashing, das volle Programm eben, sofern man Punk war. Interessanter und geradezu rührend wirkt die Rubrik mit Flyern und Postern, manche davon selbst gemalt und fotokopiert, andere professionell und beinahe ikonisch. Die viel zitierte Vernetzung von Kunst und Musik im Ratinger Hof wird hier greifbar.
Und dann sind da natürlich die Konzerte. Wie viele es waren, weiß niemand mehr. Der Querschnitt in diesem Buch wirkt einigermaßen repräsentativ. Es ist eine Mischung aus berühmten und mittlerweile vergessen Bands. Aus der ersten Kategorie die Fehlfarben, Krupps oder DAF, aus der zweiten Male (die erste Punkband Deutschlands), Minus Delta T oder Östro 430, eine reine Frauenband. Die Perspektiven wechseln – mal schaut man auf die Bühne, auf Menschen am Mikro, in der Luft oder am Boden, mal in die gebannt-verschwitzten Gesichter des Publikums. Wie aufregend die einheimische Popmusik war, bevor die Neue Deutsche Welle alles trivialisierte, man kann es auf diesen Fotos erahnen.
Zugegeben, schön war er nicht, der Ratinger Hof. Aber das sollte er auch nicht sein. Carmen Knoebel, die langjährige Betreiberin, hatte ihn als Gegenentwurf zum plüschigen Späthippiemuff geplant. Die gewollte Sterilität kann man auf den Bildern des leeren Hofs gut erkennen. Außer ein paar Spiegeln und Neonröhren gibt es fast keine Deko, es herrscht die Ästhetik eines Wartesaals. Und tatsächlich war es ja nicht so, als hätten hier jeden Tag die Wände gewackelt. Oft hing man einfach nur ab. Auch von diesem Teil erzählt der Bildband – von Jugendlichen beim Flippern, Rauchen und Raufen. Man kann eben nicht jeden Tag Revolution machen.
Ralf Zeigermann (Hg.): Ratinger Hof. Fotos und Geschichten, 170 S., Robert Wiegner Verlag, Königswinter 2010