Wozu Musik? Diese Frage beschäftigt Alexander Kluge ein Leben lang, nicht erst seit seinem Film über »Die Macht der Gefühle« und das Kraftwerk Oper als »Tempel der Ernsthaftigkeit« von 1983.
Musik als lebensrettende Maßnahme. Die Rückholung der Toten wiederum ist ein mythisches Urmotiv, das in jüngerer Zeit unter anderem Heiner Müller wiederaufnahm, dessen Totenrede Alexander Kluge gehalten hat. Die Musik hilft auch bei der Totenrettung – wie in der Sage vom Sänger Orpheus mit der Leier, der seine geliebte Eurydike aus der Unterwelt heimzuholen sucht und scheitert, weil er das Vertrauen nicht aufbringt, ob sie ihm denn auch folgen würde aus dem Hades, und das Verbot, sich umzuwenden, missachtet.
Dieser zum zweiten Mal verlassene Orpheus hier nennt sich nun Eurydiko und wird von den Filmemachern als Sohn von Apoll und Nosferatu identifiziert, ist folglich auch Abkömmling des Murnau-Vampirs aus den Karpaten und lebenden Untoten. Seine verlorene Frau heißt von Stund’ an Orphea.
»Orphea« ist ein ungestüm lustvolles Spiel ohne Grenzen, dessen Limit höchstens der sperrangelweit offene Kunstkosmos ist, der von Homer, Ovid und Vergil über Monteverdi bis zu Sowjet-Heroen, Tschaikowsky, Rilke, Bergman und Bob Dylan und diversen prä- und post-kulturhistorischen Phänomenen reicht.
Der bald 90-jährige Kluge hat – gemeinsam mit dem philippinischen Allroundkünstler Khavn, der sein Enkel sein könnte, und mit Lilith Stangenberg, die als heavy Muse und Medium trancehafte Auftritte hat und das Totenreich bis nach Manila verlängert – einen phantastischen Experimentalfilmessay gedreht, der altgediente Gender-Vorzeichen kippt. In der ihm eigenen ingeniösen Weise blättert Kluge den Bildatlas vom Ägyptischen Totenbuch über den nazistischen Ost-Feldzug bis zu den Flüchtenden an Europas Gestade und Silicon Valley auf; es würde wenig wunder nehmen, wenn irgendwo zwischen den Bildern sogar die eine und einzige Weltformel versteckt wäre. Aus Kult, Magie und Geisterbeschwörung erwachsen Happenings, Aktionskunst und mediale Vermittlungen mit der Wundertrommel des Kinos als Zentrifuge. Kunst und Kino seien, so wird Ingmar Bergman zitiert, wie die Schlangenhaut eines toten Reptils, dessen Balg jedoch vitalisiert wird von darin wimmelnden Ameisen. Alexander Kluge ist der Herr über alle Ameisenheere.
»Orphea«, Regie: Alexander Kluge & Khavn, Deutschland 2019, 98 Min., Start: 22. Juli 2021