Eine Handvoll Arbeiter – den Vorschlaghammer geschultert und eine schwere Gasflasche im Schlepptau. Als kämen sie gerade von der Schicht und hätten sich nun neugierig vor den Plakaten versammelt, die an einer Mauer hochgehalten werden. Sie werben für die Ruhr-Festspiele 1949 – auf dem Programm steht Goethes »Faust« mit Bernhard Minetti in der Titelrolle.
Das offenbar gestellte Foto ist eines der ganz frühen, die in der Foto-Ausstellung »Sie stellen sich vor. Ansichten der Zuschauer« zusammenkommen. Es geht um 75 Jahre Ruhrfestspiele. Zum Jubiläum stehen dabei nicht Bühnenstars und große Inszenierungen im Rampenlicht. Die kleine Ausstellung richtet den Blick ins Publikum.
Ob die Arbeiter von 1949 mit Hammer und Flasche auch dazu gehörten? Vielleicht haben sie sich ja am Abend in Schale geschmissen und sind zum Städtischen Saalbau an der Dorstener Straße in Recklinghausen gezogen. Das zumindest würde passen zum Gründungsmythos der »Arbeiterfestspiele«: »Kunst für Kohle – Kohle für Kunst.« Man hatte sich auf die Fahnen geschrieben, der Arbeiterschaft die klassische Kultur nahezubringen. Trotzdem dürfte der Bergmann, vor allem in den Anfangsjahren, eher eine Ausnahme im Publikum gewesen sein, vermutet Kurator Andreas Rossmann in seinem Katalog-Essay.
Entlang der Fotos kann der Journalist einen Wandel im Selbstverständnis der Spiele festmachen. Vom Malocher als Musterbeispiel des Gasts verschiebt sich das Bild: 1960 hat keiner mehr sein Werkzeug über der Schulter. Stattdessen werben Männer und Frauen in sommerlichen Wirtschaftswunder-Outfits mit Einkaufstüte in der Hand für die Veranstaltung. Fünf Jahre später können die Ruhrfestspiele dann umziehen in ihr neues Haus auf dem Grünen Hügel – ein Bau, der Fotografen wie Besucher herausfordert. In einigen Bildern der Ausstellung sind ihre zögerlichen Annäherungsversuche an die monumentale Architektur aus grauem Basalt-Lava festgehalten.
Für diese ersten Jahrzehnte fanden sich in den Archiven schöne und oft auch vielsagende Bildbeispiele. Doch insgesamt erwies sich die reizvolle Ausstellungsidee in der Umsetzung als unerwartet kompliziert. Denn aus der Zeit zwischen 1971 und 2005 war die Ausbeute an Zuschauer-Fotos mehr als knapp – hier gibt es so gut wie gar keine brauchbaren Aufnahmen. Ein leicht unscharfer »Zufallsfund« aus dem Jahr 1982 mit vielen Gästen beim zwanglosen Kaffee muss als Lückenfüller reichen.
Erst Anfang der 2000er Jahre gerät das Publikum der Ruhrfestspiele wieder ins Visier. Das zweite Kapitel der Schau startet 2006. Da sieht man sie in Scharen zu den Festspielen ziehen und im Freien unter Sonnenschirmen pausieren. Gedränge herrscht im Foyer des 1998 renovierten Gebäudes, das mit einem vorgesetzten Kubus aus Stahl und Glas nun viel heller und leichter wirkt. Großer Applaus im ausverkauften Haus. Ganz mulmig wird einem heute mit Blick auf so viele Menschen ohne Maske und Mindestabstand. Das jüngste Foto der Ausstellung stammt von 2020 und wurde vor dem Festspielhaus aufgenommen. Vater und Tochter fahren mit dem Fahrrad an der Glasfassade vorüber – in diesem Jahr durfte keiner hinein.
Bis 20. Juni 2021, Vorplatz Ruhrfestspielhaus, Recklinghausen