»Klappern gehört zum Handwerk« ist zwar keine genuin niederrheinische Bauernweisheit. Aber keiner hatte sie derart verinnerlicht wie der bekennende Moerser und ehemalige Festival-Leiter Burkhard Hennen. Jahr für Jahr hatte er sich schon Wochen und Monate vorher als Dorfmarktschreier in Position gestellt, um nicht den Hauch eines Zweifels aufkommen zu lassen, dass an jedem Pfingstwochenende in Moers mindestens Festival-Geschichte geschrieben werden sollte. Wenn nicht gar Musikgeschichte. Mit »Exklusiv-Acts«, »Europa-Premieren« und »Deutschlands besten BigBands«. Heraus kam ein Programm, das immerhin mit den Sound-Aromen dieser Welt liebäugelte. Doch statt wie ehemals dabei auf musikalische Reibereien zu setzen, sorgte Hennen zuletzt nur noch für einen wohlig-bunten Basar, auf dem selbst ein Helge Schneider als Rock- und Jazz- Parodist auftreten durfte. Während die Tausenden Festival-Camper im Schlosspark und die überregionalen Feuilletons immer mehr weghörten.
Das soll wieder anders werden. Aber nicht mit dem Gründungsvater des Festivals, der 2005 und nach 34 Ausgaben die Brocken hinwarf – nach einem, wie er zum Abschied sagte, »zwölf Jahre langen Entfremdungsprozess« mit der städtischen Kulturverwaltung. Seinen Platz hat der Pate der aktuellen Kölner-Jazzszene und vor allem der langjährige Kämpfer für den Jazz-Standort NRW eingenommen: Reiner Michalke. Mit einer klar formulierten Marschrichtung: »Es soll wieder ein kontroverses Festival werden, das national und international wahrgenommen wird. So wie in den 70er Jahren.« Damals, als Moers mit zu den Epizentren des zeitgenössischen Jazz gehörte.
Als Free- und Fusion-Musiker wie Anthony Braxton, Volker Kriegel, Willem Breuker und Peter Brötzmann die Aktivposten waren und den Jazz-Mutterboden gehörig umgruben.
Auch für Michalke war Moers nach seinem ersten Besuch 1975 sofort wichtigster Bezugs- und Orientierungspunkt, um sich auf den neuesten Jazz-Stand zu bringen. Aber 30 Jahre später weiß Michalke allein durch seine 20-jährige Tätigkeit als Konzertprogrammchef des Kölner Stadtgarten, dass die Idiomatik des Jazz stets auf dem Sprung war und ist.
Pop und Rock, Ambiente und Worldmusic haben für ein ständiges Face-Lifting gesorgt, das bis heute anhält. Mit dem lexikalischen Genre-Begriff »Jazz« kann Michalke dementsprechend wenig anfangen. Für ihn ist es einfach aktuelle Musik, die er in Köln und nun eben auch in seiner ersten Moerser Spielzeit präsentieren will. Dazu zählt er den als »Artist in Residence« eingeladenen norwegischen Trompeter Arve Henriksen mit seinen elektro- akustischen Versuchsreihen genauso wie das Cologne Contemporary Jazz Orchestra mit seinem Tribute an die Trash-Metal-Band Slayer. Zu den Vertretern der Jetztzeit gehören außerdem das Pariser Multi-Kulti-Kollektiv Bojan Z., die zwischen Klezmer und Dub agierende Balkan Black Box, die isländischen Rock-Zerhäcksler von Mugison und nicht zuletzt das bruitistische Black-Power-Saxophon von Peter Brötzmann. »Mugison oder Jamie Ledell sind Musiker, die definitiv nicht aus dem Jazz kommen. Aber sie arbeiten sehr experimentell und sind damit dem Jazz wieder durchaus nahe. Zwischen Mugison und Peter Brötzmann liegen 40 Jahre. Aber sie haben mehr gemeinsam, als man es von der Papierform her denken würde.« Angesichts dieser stilistischen Diffusionen ist es kaum überraschend, dass Michalke am Festivaltitel »Moers-Festival« weiterhin festhält, um damit genau jene Offenheit zu signalisieren, die Hennen schon 1994 im Auge hatte, als er das »New Jazz« endgültig aus dem Logo entfernte. Überhaupt wollte Michalke bei Amtsantritt nicht alles bedingungslos umkrempeln. An dem viertägigen Format hat er grundlegend nichts verändert. Lediglich die traditionelle African Dance Night hat er wegen nicht zu erwartender Innovationen auf diesem Gebiet jetzt rausgeworfen. Und was die Parallelwelten aus Zirkuszeltbühne und angrenzender Zeltstadt angeht, versucht Michalke, das Publikum draußen neugierig zu machen, indem er das gesamte Programm auf lokaler Radio-UKW-Frequenz übertragen lässt. »Schließlich will ich kein lustiges Wald-und-Wiesen-Festival machen. Moers ist kein Reggae- oder Rock-Festival. In Moers sollen wieder die unruhigen Geister in der Musik ihren Platz haben. Die Musiker, die Widersprüche stellen und neues Material erforschen.« Auf die ganz großen Namen verzichtet Michalke daher konsequenterweise – nicht nur aus Budget-Gründen. Denn wie schon in den Aufbruchsjahren sollen Musiker im Mittelpunkt stehen, die Projekte gestalten wollen, die auf anderen Festivals nicht möglich sind.
Top-Stars wie Al Jarreau oder Bobby McFerrin wären für ihn zukünftig nur interessant, wenn sie sich auf ungewöhnliche Konstellationen einlassen. Wie etwa nun, wenn sich Gitarrist John Scofield mit dem norwegischen Sound- Tüftler Bugge Wesseltoft an Drum’n’Bass und Dancefloor versucht. Oder wenn beim zweiten europäisch-amerikanischen Dialog der Trompeter Nils Petter Molvaer auf den Avantgarde- Bassisten und Herbie Hancock-Produzenten Bill Laswell trifft.
Dass Reiner Michalke innerhalb eines Jahres dieses Programm zusammenstellen konnte, verdankt er seinen guten Kontakten, die er in den letzten Jahrzehnten als vielgereister Jazz-Nomade zu den internationalen Festivals und durch seinen Job beim Stadtgarten aufgebaut hat. Dabei hatte ihm Burkhard Hennen zunächst noch abgeraten: »Er wollte, dass das Festival mit ihm aufhört. Die Rolle, die Burkhard eingenommen hat, war jedoch sehr egoistisch – im Sinne der Musik und in der Entwicklung der Musik.« Für Michalke bot sich damit jedoch nicht nur Chance, etwas zu machen, was über den monatlich zu besetzenden Spielplan des Stadtgarten hinausgeht.
Als erfahrener Jazz-Manager, der 1978 die Kölner Jazz-Haus-Initiative gründete, das Jazz-Programm der Kölner Musiktriennale verantwortet und seit 1984 für Bündnis 90/ Die Grünen im Kulturausschuss des Kölner Stadtrates sitzt, sieht er in Moers das Potenzial, um für das etwas brachliegende Jazz-Land NRW die nötige Lobby zu bekommen. »Die Städte in NRW stehen alle im Wettbewerb und machen damit Berlin das Leben sehr leicht.
Ich spüre permanente Abwanderung nach Berlin, weil es sich als Zentrum definiert. Es hat sich als Fehler erwiesen, dass wir auf eine egalitäre Kulturpolitik gesetzt und kein kulturelles Zentrum bejaht haben. Musiker brauchen Spielstätten, Inspirationen aus Film und Bildender Kunst – das bietet Berlin. Früher war das Köln, als Berlin noch Bonn war.« Um den Jazz wieder ins öffentliche Bewusstsein zurückzubringen, ist Michalke dementsprechend kein Weg zu weit und zu lang. Schon beim früheren NRW-Kultusminister Hans Schwier hatte er sich vergeblich um eine Förderstruktur bemüht, überall wurde Michalke den Eindruck nicht los, dass er anscheinend der Erste war, der das Thema Jazz auf die Tagesordnung brachte. Selbst in Berlin schaute ihn ein Ressortleiter des Kulturstaatsministers verdutzt an – mit der Frage: »Wird Jazz heute überhaupt noch gespielt?« Bei einem Namen aber zuckt Michalke besonders zusammen: dem seines Parteifreundes Michael Vesper.
»Die Kulturpolitik von Michael Vesper, die ja immerhin fünf Jahre andauern durfte, war verheerend – für den gesamten Bereich der freien Kultur, zu der auch der Jazz gehört und bei dem völliges Desinteresse herrschte. Michael ist einfach kein Kulturpolitiker.« Doch der Schwarze Peter gebührt da nicht allein der Politik. Im Gegensatz zu den Niederlanden, wo sich vor 30 Jahren ausgewiesene Musiker wie Han Bennink und Misha Mengelberg für die entsprechenden Subventionen stark machten und mit dem Amsterdamer Bimhuis »den für mich weltweit besten Platz für diese Musik« gründeten, hielt sich die entsprechend bedeutende Jazz-Generation in Deutschland vornehm zurück. An vielversprechendem Musiker-Nachwuchs scheint es jedenfalls heute dennoch nicht zu mangeln. Immerhin gastiert in Moers mit dem Cologne Contemporary Orchestra »die spannendste Big Band der freien Kölner Szene«. Ein Superlativ zwar wie zu besten Hennen-Zeiten.Doch wohl nur so lässt sich die Aufmerksamkeit wecken für den Jazz. //
2. bis 5. Juni 2006; www.moers.de/festival