TEXT ANDREAS WILINK
Woher kommt der Klang? Von überall her. Man dreht, wendet sich und reckt den Hals nach dem Verursacher. Er kommt von oben herab aus den Stahlverstrebungen der Jahrhunderthalle, aus ungeahnten, unsichtbaren Winkeln, aus einer Wellblechhütte, die über Schienen fährt, steigt mit den Musikern aus den Tiefen. Ohr und Auge haben zu tun, um sich zu orientieren und sich an die Entfernungen zu gewöhnen. Urbi et Orbi. Metronom, Glocken, Pauke, Schlagwerk hört man heraus, als läute es zum Aufbruch des Tages – oder zu Allerseelen. Christoph Marthaler inszeniert für die Ruhrtriennale Charles Ives’ „Universe, Incomplete“ als bescheidenes, aber imponierendes Welttheater, das die Fülle des Menschseins auskomponiert und den Weltenkreis heilig-profan aus dem Geist der Utopie ausschreitet.
Aber en miniature, als Pastiche, in Variationen. Es werden kleine Inseln geschaffen, in denen etwas statthat: als Solo, im Quartett, als komplette Formation. Es ist eine Meditation über die Zeit, wie sie geht und vergeht und stille steht. „Zum Raum wird hier die Zeit“, um es mit Wagners „Parsifal“ zu sagen. Während der 140 Minuten lässt sich die Erfahrung eines anderen Zustands machen.
Nie wohl seit Beginn der Ruhrtriennale wurde die Hallen-Architektur und -Struktur so einfach belassen, so suggestiv aufgeladen, so sinnreich schlicht und freisinnig genutzt. Gerard Mortier, Freund Marthalers, wird diese Kreation aus seiner Ferne beglückend finden.
Raum und Klang kommen bei dem frühen Avantgardisten Charles Ives zusammen. Sechs Symphonien hat er geschrieben. Die sechste blieb Fragment und ist als „Universe Symphony“ ein Vorhaben, mit dem sich der US-Amerikaner (1874-1954) vier Jahrzehnte beschäftigt hatte, für das er Gewaltiges plante und das sich die Zuhörer buchstäblich erobern sollten. Die kompositorische Sonderheit des Versicherungskaufmanns, der die Musik nicht professionell betreiben wollte, aus Furcht, er könne korrumpiert werden, wie Marthaler anerkennend sagt, fasziniert den Theatermacher.
Das Publikum sitzt auf einer steilen Tribüne, indes unter Titus Engels Leitung Musiker (die Bochumer Symphoniker, verstärkt um Kollegen aus Köln, Essen und Detmold) Sänger, Tänzer, Akteure unterwegs sind, streunen und sich zerstreuen. In der riesigen Halle stehen Klaviere, Kirchenbänke, Reihen rot bezogener Kinosessel, ein langer, langer Tisch mit Stühlen, die hölzerne Fassade eines Kirchleins. Manche Requisiten, (Ausstattung: Anna Viebrock und Thilo Albers) wirken, als seien sie hier schon immer zuhause gewesen.
An einem Kontrollhäuschen wartet eine Handvoll Leute, denen sparsam Einlass gewährt wird. Gruppenweise oder einzeln verteilen sie sich. Manchmal sprechen sie. Die ersten Sätze heißen: „Na, ja, zum Glück ist heute Samstag. Freitag wäre zu früh und Sonntag zu spät.“ Es gibt absurd poetische Text-Einsprengsel und Nonsens zu hören, auch chorische Passagen, in denen etwa „Freedom“ intoniert und gegrölt wird, bis es verhallt. Mandelstam und Hamlet werden zitiert, der 11. September, der 3. Oktober und der 15. März. Die Bedeutung bleibt offen. Erklärt wird nichts.
Die Darsteller platzieren sich, gestikulieren stumm wie im Dialog mit sich oder einem wesenlosen Gegenüber, malen Luftzeichen, verknäueln sich in Leibesübungen, robben über Tischflächen in der langsamen Bewegungsart der Schnecke. Oft müssen sie weite Wege zurücklegen: Heimatlose, die ihrem Vordermann auf die Schulter tippen und um Kontakt zu ersuchen scheinen. Fremd bin ich ausgezogen… Plötzlich hängt ein amputierter riesiger Pappmaché- Tyrannosaurus-Rex am Seil. Sänger, Schauspieler, Tänzer fallen ins babylonisch Vielsprachige; aber es ist weniger Drohung als Verheißung. Sie veranstalten ein Tanztheater der Losgelassenen, der Verstörten und Versehrten, die gegen Wände, gegen den Anderen, gegen sich selbst, gegen Symmetrie und Harmonie anrennen und sich verschrauben.
Ives (dessen Werk hier mit sich selbst in Beziehung gesetzt wird) lässt Marschrhythmen los, gibt Noten eine sportive Wirkung. Musikkorps paradieren, angeführt von einer wunderbaren Sopranstimme. Die Instrumentierung hat manchmal sakrale Anmutung, es hört sich an wie Engelsgesang. Dann wiederum klingt es volksliedhaft und überschlägt sich lustig zirzensisch, als käme eine aufgezogene Spielzeug-Puppen-Band ins Spiel. Es folgt eine Partitur des Stühle-Rückens. Ganz zum Schluss dehnen sich die Minuten von Ives’ „The Unanswered Question“, dieser unsagbar feinen, sehnenden Melodie, die dem Gesamten ihren Namen hätte geben können.
Termine: 19., 22., 23., 24., 25. August, jeweils 20.30 Uhr, Jahrhunderthalle Bochum, www.ruhrtriennale.de