TEXT: ANDREAS WILINK
Heinz Emigholz bedient die Themenvorgabe der 36. Duisburger Filmwoche – wie von ihm nicht anders gewohnt – in höchster Konsequenz. Sein Film widmet sich der architektonischen Moderne des Auguste »Perret« und seines Bruders Gustave aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Frankreich und Algerien. Der Jugendstil mit floraler Ornamentik rankt noch in die noblen Bürgerhäuser oder das splendide Théâtre des Champs Elysées mit seinen repräsentativen Fassaden, schwungvollen Geländern, breiten Foyers und kombiniert sich mit Neuer Sachlichkeit und beherrschter Avantgarde. Die gekuppelte Kathedrale in Oran kontrastiert etwa mit der schlichten, hochstrebenden Kirche in Le Raincy und ihren kühnen Lichteffekten durch die Fensterstruktur. Perret, zugleich Bauunternehmer, wesentlicher Stadtplaner nach 1945 und Chef von Le Corbusier, prägte das urbane Bild Frankreichs. Seine Ateliers, Museen, Villen, Konzertsäle, Sakral- und Verwaltungsbauten, Krankenhäuser, Bahnhöfe oder der Turm von Amiens (erster Wolkenkratzer des Landes), der auch Minarett sein könnte, mischen Eisenbeton mit gewachsenen Materialien wie Marmor, Stein und Holz, europäische Tradition, arabisch-maurische Kultur mit antikischen Säulen und Kassetten-Decken, ohne dass es eklektizistisch wirkte. Emigholz breitet aus: nicht als bloß katalogisierender Archivar, sondern als bewundernder Gestalter mit raffinierten Schnittmustern, Perspektiven und Stillleben.
DER RAUM KANN KÖRPER SEIN
Der Raum kann sich sehr konkret – auch ästhetisch – öffnen. Kann Kopfgeburt sein, Mentalitäten Platz bieten oder einen politischen, sozialen oder religiösen Zusammenhang konstruieren. Er kann einschließen: wie das Ghetto-Gefängnis »Thorberg«, schweizerisches Alcatraz für Straftäter aus 40 Nationen bei Bern, darin Regisseur Dieter Fahrer zeigt, dass hinter Mauern eine Welt ist, und in seinen Porträts von sieben Einsitzenden zurückhaltend dringlich fragt, ob der geschlossene Vollzug einen Mensch sozial bessert. Der Raum kann ausschließen, wenn in »Stahlbrammen und Pfirsiche« (entstanden an der FH Dortmund von Florian Pawliczek & Andy Michaelis) Arbeiter der Hüttenwerke Krupp-Mannesmann in Duisburg-Hüttenheim die Kündigung erwarten und zwischen Hoffnung und Realitätssinn schwanken. Wann ist der Ofen aus? Wann kommen Lebensläufe zum Stillstand?
Und der Raum kann Körper sein – ein monströs ausufernder. In Peter »Kern« porträtieren Veronika Franz und Severin Fiala den Schauspieler, Regisseur, Autor, ehemaligen Sängerknaben und Darsteller bei Fassbinder, Schroeter, Ottinger und Schlingensief. Sie werden von ihm beschimpft, ihre Arbeit als »Fuchtel-Film« verhöhnt. Kern ist eine Mischung aus Operettenbuffo, »Star Wars«-Jabba, Falstaff, Sugardaddy und Kinderschreck. Fett, schwul, rabiat, wienerisch. Geboren im II. Bezirk, von früh an auf du und du mit den Huren und Randexistenzen, vernascht von Lenny Bernstein (»er spielte Klavier mit meiner Zunge«), haust er in einem schäbigen Wohnsilo, das er von den Mutter übernommen hat, und aus dem er im Lauf des Film übersiedelt in eine helle Wohnung. Erstaunlich nahe kommen die Filmemacher ihm in seiner Sentimentalität, seinem Wüten, seinem Zartsinn, seinem Giften (gegen Österreichs Amtswesen, gegen angepasste Homosexuelle). Kern hat seinen Dreck nie unter den Tisch gekehrt. Er trägt ihn als Duftmarke.
KULTUR ALS SELBSTZWECK?
Harun Farocki ist ein stiller Beobachter. Kein Kommentar. Sein kritischer Geist durchleuchtet gesellschaftliche Prozesse. Wie ein Zoologe schaut er auf die eigene Spezies. In »Ein neues Produkt« sind es externe Berater, Teamchefs, Manager, Architekten, die über Arbeitsumfeld, Unternehmenskultur und neue Firmenstrukturen diskutieren: im Dienst des von ihnen vertretenen Systems, versteht sich. Alexander Kluge und Enzensberger hätten Vergnügen an diesem ökonomischen Jargon eines Führungspersonals, das sich der eigenen Lächerlichkeit nie bewusst scheint, wenn es Begriffe wie »Vision«, »Freiheit«, »Sinn« oder »Gesamtkunstwerk« eines Unternehmens anbringt. In diesem Milieu ohne Begabung für Nonkonformität offenbar kein Problem. »Kann Kultur einen Selbstzweck haben?«, wird von einem der Herren kurz als Frage auf- und sofort verworfen. Erledigt, passt nicht ins Denkschema. Der Mensch wird zum Objekt eines totalitären Strategie-Regimes und als Modul unter dem Nützlichkeitsaspekt von Mobilität und Flexibilität im open space eingepasst. Wir belauschen eine Gruppe, die über den 80.000 Quadratmeter-Campus von Vodafone spricht, der für den Mitarbeiter Heimat zu sein habe. Wobei das Zuhause auch noch in den Firmen-Radius zu integrieren wäre. Keine Privatheit mehr. »Individualität muss anders stattfinden«, sagt einer der Chefs. Punktum. Da möchte man Wilhelm Genazino recht geben, der sagt, das Leben sei »ein Versuch, ein paar Dinge nicht an sich herankommen zu lassen«.
JUSTIZ-FILM
Nüchtern betrachtet. Ein Justizgebäude mit historischem Foyer. Die Kamera steht »Vor dem Gesetz«, wie der Mann in Kafkas Erzählung. Bleibt vor der Tür zum Gerichtssaal. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Eine Frau ist zu Tode gekommen: War es ein Unglücksfall, Notwehr oder ein strafrechtliches Delikt? Die Kanzlei des Anwalts mit Teeküche, Fluren, Konferenzzimmer lässt nichts Persönliches erkennen. Der Verteidiger befragt seinen Mandanten, den Verursacher. Die Sachlichkeit der Arbeit – Rekonstruktion des Vorgangs, Aktenstudium, Selbstverständnis des Juristen, Raucherpause im Flur – beeinflusst die Darstellung und prägt das Vokabular: Behörden-Deutsch. Einmal in »Der Auftrag« (Ayla Gottschlich) zeigt sich ein Stück Himmel. Einmal bricht die Sonne durch. Sonst sind die Tage wie unter Verschluss. Ein versiegeltes Protokoll.
Die Goldberg-Variationen erklingen: rein, abstrakt, geklärt. Dazu entwirft »MansFeld« (Mario Schneider) Stimmungsbilder eines Dorfes im Südharz, umgeben von Kohlehalden, schiefergrauem Gestein und Industrieanlagen. Der Welt-Raum ist eng; das Augenmerk richtet sich auf einige Kinder, begleitet ihren familiären und schulischen Alltag durch die Jahreszeiten. Man denkt an eine Sozialstudie, was nicht falsch ist. Aber nicht fern vom Brocken schleicht sich etwas anderes ein: nachts, wenn der Mond scheint, die Wolken düster dräuen und Äste seltsame Muster bilden. Stunde der Hexen. Altes Brauchtum feiert die Austreibung der bösen Geister, hier untermischt von alten Schwarzweißbildern. Es ist, als öffnete sich hinter dem bieder Kleinbürgerlichen mythischer Untergrund. Die Provinz und ihre Untiefen. Während Stallkaninchen und Schweine geschlachtet werden und die Kinder ungerührt dem Blutbad zuschauen, während ein Junge sich in seiner Spielewelt zu verlieren scheint, ein Vater sich über seine Gottlosigkeit am Küchentisch banal verbreitet, setzt Peitschen-Knallen Zeichen für den volkstümlichen Ausnahmezustand. Es bricht ausgelassenes, suhlendes, saufendes Treiben aus, zu dem der Film Strawinskys tumultösen »Sacre« spielt. Sanktionierte Entgrenzung, die Sau rauslassen, über die Stränge schlagen: Was für aggressives Potenzial da schlummert!
AMERIKANISCHE PRÜDERIEN
Nicht weniger davon lässt sich vermuten beim Personal der »Virgin Tales« (Mirjam von Arx), dem beklemmenden Porträt evangelikaler Christen in Colorado Springs. Die Wilsons haben reizende Backfisch-Töchter, die als Prinzessinnen aus Gottes Reich in weißem Tüll wie zum Wiener Opernball ausstaffiert sind, dem sogenannten »Vater-Tochter-Reinheitsball«, der im Bann des Kreuzes steht und sich gegen eine »launenhafte Kultur« wendet. Und sie haben gute Jungs, die in einem Männlichkeitsritual zu biblischen Kriegern geweiht werden. Uramerikanische Vorstellungen von der Kraft und Sicherheit familiärer Bande, die patriotische Idee des Auserwähltseins und das Unschuldsgebot (sich Aufsparen bis zur Hochzeit) treffen auf fruchtbaren Grund. So sieht Fundamentalismus im Kostüm harmloser Vorabendserien aus: Boys, die grinsen wie Tom Cruise, die Girls so pretty. So präsentiert sich liebevoll drückende Autorität ohne Selbstzweifel. Der nette Mister Wilson sieht seine Mission drin, Moralwächter an den Mauern Amerikas zu sein, einen Kirchenstaat zu installieren und »die Beeinflusser zu beeinflussen«. Sogar der Oscar Wilde des Zuchthauses und des De Profundis wird für die rigide Ideologie benutzt. Massiv ersteht das Gegenbild zu Jeffrey Eugenides’ und Sofia Coppolas »Virgin Suicides«. Anders unheimlich.
Farocki erkundet die Prinzipien der einen Ideologie. Nun die andere, die schon früher abgewirtschaftet hat. »Besser arbeiten, besser leben«, proklamiert das Plakat an einer Fabrik in »Nowa Huta« (Dariusz Kowalski). Könnte auch die kapitalistische Upper Class bei Farocki so sagen. Aber wir sind in Polen. Nowa Huta entstand am Reißbrett als Arbeiterstadtteil von Krakau: von den Kommunisten konzipiert, später Zentrum der Solidarnosc, auch weil die Architektur der geraden, breiten Alleen ideal war für Protestaufmärsche, heute noch Bollwerk der Stahlindustrie mit Gebäuden im Stil der Stalin-Renaissance. Nicht der »Perret«-Beton prägt Nowa Huta – öde Flächen, Brachland und darüber der weite Himmel. Immer wieder lotet die Kamera, draußen wie drinnen, die Leere des Raums aus, um ihn in der Totale zu erfassen. 280.000 Einwohner hat Nowa Huta, katholisches Herzland mitsamt Statue des polnischen Papstes, ein halbes Dutzend Fitness-Studios, kaum noch Mittelklasse. Die Revolution entlässt ihre Kinder.
Duisburger Filmwoche – »Räume«, 5. bis 11. November 2012. 26 Filme stehen im Wettbewerb; Filmforum am Dellplatz. www.duisburger-filmwoche.de