Vormittags in Deutschland. In Berlin, Thüringen oder in Köln. Etwas ungeduldig steht er da vor geschlossener Tür – und zählt die Sekunden vor dem Auftritt. Doch diesmal hat sein Publikum keine sonntägliche Matinee gebucht, um sich von dem deutschen Klavierwunderknaben zwei Stunden lang pianistische Feinkost bieten zu lassen. Vielmehr sind es gleich mehrere Dutzend Teenies, die auf Martin Stadtfeld nicht eben ungeduldig warten. Stadtfeld ahnt das. Daher weiß er auch, dass schon die ersten der kommenden sechzig Minuten perfekt sitzen müssen, wenn er das Klassenzimmer betreten hat. Zwar sei er jedes Mal »erwartungsvoll gespannt«. Wer aber jetzt Nervosität zeigt, hat schon verloren. Und wer sich krampfhaft mit locker geklopften Sprüchen anzubiedern versucht, erst recht. So tut Stadtfeld nach kurzer Begrüßung das, was er am besten kann. Er spielt Klavier. Nicht die große Sonate, sondern ausschließlich kleine Meisterwerke.
Um eine gemeinsame Wellenlänge herzustellen, greift er zu Mozarts Rondo alla turca, weil ja vielleicht diese oder jener unter den Zuhörern die Melodie wenigstens als Handy-Klingelton kennen. Früher oder später gelangt Stadtfeld dann immer zu Johann Sebastian Bach. Zu einer Musik, die 300 Jahre auf dem Buckel hat. Bei der aber plötzlich viele seiner Zuhörer mitwippen und sie »cool« finden. Überraschende und überraschte Reaktionen wie diese hat Martin Stadtfeld mittlerweile zuhauf erlebt. Seitdem eine singuläre Aktion sich zum Langzeitprojekt für Kinder und Jugendliche entwickelt hat, deren »Festplatte von klassischer Musik noch vollkommen unbespielt ist«, wie er sagt. Bei Generationen von Musikpädagogen hat sich die Basisarbeit als Sisyphos-Anstrengung erwiesen. Auch Stadtfeld ist sich klar darüber, dass der Effekt und Erfolg solcher Initiativen schnell verfliegen kann – ein Moment im Meer der Reizüberflutung. Dennoch zeigt Stadtfeld langen Atem, unterbricht seine Tourneen immer wieder, um seine didaktischen Versuchsballons steigen zu lassen.
Seit 2006 existiert das Programm, seit das Dortmunder Konzerthaus ihn neben der Violi-nistin Janine Jansen und dem Cellisten Gautier Capuçon zu einer zweiteiligen Reihe mit dem etwas marktschreierischen Titel »Junge Wilde« einlud. Damals stand abends ein Auftritt im Konzertsaal an – und tagsüber eben der Besuch einer Schulklasse. Doch statt musisch vorgebildeter Gymnasiasten erwarteten Stadtfeld 13- bis 15-jährige Hauptschüler, die lieber Bushido statt Beethoven hören. Alle stammten sie aus einem Problem-Viertel, aus Dortmund-Kirchlinde. Beträchtlicher konnte die Fallhöhe vom internationalen Podium auf den Boden des sozialen Alltags kaum sein. Zumal, so Stadtfeld, »viele Kinder und Jugendliche zunächst denken: Klassische Musik ist was Doofes«.
Dass ausgerechnet Stadtfeld geschafft hat, sie häufig vom Gegenteil zu überzeugen, wundert einen zunächst. Denn auf den ersten Blick hat er wahrlich nichts Wildes an sich. Kein romantischer Rebell wie vor Jahren Ivo Pogorelich, kein kühner Südländer wie Tzimon Barto, kein versierter Global Player wie Lang Lang, nicht so genialisch verwegen wie der fast gleichaltrige David Fray. Scheinbar eher der brave, strebsame Typus – Günther Jauch am Klavier? Adrett und smart gibt er sich, gelegentlich kann er seinen grüblerischen, bisweilen etwas unterkühlten Blick aufsetzen. Dazu passt sein elegantes, hellsichtiges, kaltblütig anmutiges Spiel. Ein arroganter Klassik-Primus ist der mit zahlreichen Wettbewerbs- und Schallplattenpreisen dekorierte Stadtfeld ebenso wenig wie ein musikalischer Faxenmacher, der sich der Klasse anbiedern würde. Seine für ihn einnehmende Stärke ist neben der juvenilen Ausstrahlung die Balance aus Seriosität, Ruhe und einem Gran charmanter Schüchternheit. Mit der er hat noch jeden Störenfried und Klassen-Clown in den Griff bekommen: »Man muss ihn nur mal direkt ansprechen. Im Grunde ist es nur eine Form von Unsicherheit, die sich in solchen Verhaltensweisen ausdrückt«, weiß er.
Überhaupt sucht Stadtfeld ständig die Kommunikation, um die letztlich gar nicht so verschlossene Welt der Klassik zu eröffnen. Da liefert gerade Bach den idealen Schlüssel. Stadtfeld erzählt dann coram publico von einer Zeit, als es noch kein Internet gab und eine einfache Grippe tödlich sein konnte. Wie nah Trauer und Lebensglück beieinander liegen, verdeutlicht er an Bachs Biografie und Werk. Bach ist für Stadtfeld der einzige Komponist, der alle Gefühlslagen ausgedrückt hat und seinen Interpreten deshalb gründlich davon überzeugt, dass der Komponist einfach jedermann erreicht. Wenn er den Schülern ausgewählte, mal virtuose, mal intim ariose Kostbarkeiten vorspielt, scheint er mit seiner Einschätzung nicht falsch zu liegen: »Es kommen ganz emotionale Kommentare.« Wobei es ihn besonders berührt hat, als einmal ein Mädchen zu ihm kam und sagte, dass ihre Freundin bei einem Bach-Stück geweint hätte. Es wäre einfach so schön gewesen … Reaktionen wie diese motivieren Stadtfeld dazu, sein Engagement weiter zu verfolgen.
Dabei hat der »Pädagoge« Stadtfeld, der als Neunjähriger erstmals öffentlich konzertierte, ab dem vierzehnten Lebensjahr an der Musikhochschule Frankfurt bei Lev Natochenny studierte, 2002 als erster bundesdeutscher Pianist den Internationalen Bach-Wettbewerb in Leipzig gewann, der zuvor 14 Jahre lang nicht vergeben worden war, mittlerweile so viel zu tun, dass er sich durchaus auf seine Solo-Karriere beschränken könnte. Seit dem viel beachteten, medial befeuerten, die Classic-Charts stürmenden CD-Debüt 2004 mit Bachs Goldberg-Variationen wurde aus dem fotogenen Nachwuchsstar ein eifrig konzertierender Meisterpianist. Von den Salzburger Festspielen über das Klavierfestival Ruhr bis in die USA und nach Japan wollen alle den von einem Nachrichtenmagazin als »Weltstar aus dem Westerwald« gefeierten Martin Stadtfeld haben. Ob live oder auf seinen fünf CD-Produktionen: Der 28-Jährige ist zu einem Mann für fast alle Tonarten gereift, die vom Empfindsamen (Mozart) übers romantisch Rauschende (Schumann) bis zum expressionistisch Zerklüfteten (Alban Berg) und zu Gershwins Reißer »Rhapsody in Blue« reichen.
Doch kehrt Stadtfeld stets zu der Musik zurück, die für ihn über allem steht: »Die Musik Bachs beginnt in meinen Augen dort, wo vieles andere von großem Wert und tief greifender Emotionalität endet.« Wer Bach schon zu Beginn seiner (CD-)Karriere zum A und O seines Repertoires kürte – zudem ausgerechnet mit den künstlerisch vorbelasteten Goldberg-Variationen –, musste zwangsläufig dem Vergleich mit dem Übervater der Bach-Interpretation standhalten. Damals schmeichelte es Stadtfeld, mit dem Kanadier Glenn Gould in einem Atemzug genannt zu werden. Mehr bedeutete dieser Vergleich ihm aber dann doch nicht. Bis auf die Gemeinsamkeit, dass Stadtfeld wie ehedem Gould mit einem speziell angefertigten, tiefer gelegten Klavierstuhl seine Konzerte absolviert, ist das Bach-Denken und -Spielen beider Musiker elementar geschieden wie Feuer und Wasser.
In ein paar Jahren wird Stadtfeld jenes Alter erreichen, in dem Gould endgültig den Live-thrill gegen die aseptische Studio-Arbeit eintauschte. Aber Abschied von der Konzertbühne kommt für ihn heute nicht in Frage. Zumal er eben erst ein neues Bach-Album vorgelegt hat, mit dem er noch einiges vorhat. Es ist der erste Teil aus dem »Wohltemperierten Klavier«, diesem von dem Dirigenten Hans von Bülow als »Altes Testament der Klavierliteratur« bezeichneten Kompendium von insgesamt 48 Präludien & Fugen-Paaren. Gleich zweimal hat Stadtfeld das »von Tiefe und Schönheit beseelte Werk« aufgenommen. Einmal ganz puristisch auf einem modernen Konzertflügel; in zweiter Fassung für Kinder, in der er vom Flügel ans Cembalo, ans Clavichord und an die Orgel wechselt, um im Dialog mit einem zwölfjährigen Mädchen die Universalität von Bachs Musik weniger zu erläutern, als vielmehr spielerisch zu versinnlichen. Sogar die als allzu gelehrig verrufenen Fugen dröselt er zu lebhaft vielstimmigen Gesprächen auf. »Im Alter von zehn Jahren hat mein Lehrer mir schon gezeigt, wie sich die unterschiedlichen Stimmen in einer Fuge ins Wort fallen«, erinnert sich Stadtfeld. Auch deshalb habe er diese Musik »als ganz menschlich empfunden«.
Teile aus dem »Wohltemperierten Klavier« standen überall dort auf den Stundenplänen, wo Stadtfeld bisher ausgewählte Mittelklässler besuchte. Nun will er aus den schulischen Stippvisiten reguläre Gesprächskonzerte machen: im großen Konzertsaal, in dem ganze Schulklassen wie die verschiedenen Tasteninstrumente ausreichend Platz haben. Da das Vorhaben durchaus kostenintensiv sein kann, ist Stadtfeld auf Suche nach Sponsoren. »Hehre Ziele« verfolgt er indes bei dieser Zukunftsmusik nicht unbedingt. Es ist einfach nur die Lust, seinen ungeheuren Spaß an Bach zu teilen – und mitzuteilen. //
Konzerttermine von Martin Stadtfeld mit J.S. Bach und W.A. Mozart: 9.1. 2009 Philharmonie Köln; 11.1. Philharmonie Essen; 28.1. Stadthalle Wuppertal; 25.2. Konzerthaus Dortmund.