Das, was sehenswert ist, versteckt sich für Reisende hinter den Lärmschutzwänden der Autobahnen. Wie ein Versprechen weisen braune Schilder auf Altstädte und Barockschlösser hin, deren man ansichtig werden könnte, führe man denn nur an der nächsten Abfahrt ab. Wolfram Eilenberger hat bei seiner Ankunft im Ruhrgebiet »Deutschlands denkwürdigstes Straßenschild« entdeckt. »Metropole Ruhr« steht dort selbstbewusst, ergänzt durch den Dreiklang »Industrie – Kultur – Landschaft«. Donnerwetter – ein Schild, das auf etwas hinweist, was es in dieser Form so nicht gibt! Oder noch nicht gibt. Sogar Google Maps hilft da nur beschränkt weiter, landet aber immerhin in der Essener Innenstadt und findet mehrere Institutionen mit diesem Namen und eine Ferienwohnung am Ottenkämperweg.
Ankunft in einer imaginären Stadt! Ein perfekter Start für den Schriftsteller und Philosophen Wolfram Eilenberger, der 2020 als »Metropolenschreiber« im Auftrag der Brost Stiftung ein Jahr lang im Ruhrgebiet lebte und arbeitete. Als Ergebnis dessen ist nun ist der angenehm schmale Band »Das Ruhrgebiet – Versuch einer Liebeserklärung« erschienen. Vorneweg – der Versuch ist gelungen, gerade weil es keine verklärende Liebesklärung geworden ist. Das lesenswerte Buch ähnelt mit seinen kurzen Kapiteln einem Gespräch mit Eilenberger – die textliche Verfertigung von Gedankengängen und Beobachtungen, ironisch pointiert mit hübsch steilen Thesen, raffiniert von »Hölzken auf Stöcksken« kommend.
Eilenberger nimmt die Leser*innen mit in den »Marmorpalast«, jene pompös eingerichtete Doppelhaushälfte in Mülheim, die ihm als Gästeunterkunft diente. Er beschäftigt sich mit Erika Runges »Bottroper Protokollen« von 1968 und der dort erwähnten Wandlung vom Ruhr- zum »Schlafgebiet« sowie mit Simone Weills Werk »Die Verwurzelung« im Hinblick auf die strukturwandelgeprägte Bevölkerung. Zudem hat sich Eilenberger durch die Ruhrgebietsliteratur gekramt, hat Christoph Biermann, Ralf Rothmann und natürlich Frank Goosen gelesen, dessen Slogan »Woanders ist auch scheiße« freundlich eingeordnet wird: »Treffendster Ausdruck einer heimatbejahenden Binnensolidarität, die in ihrer abwärtsdrehenden Eigenliebe von aktiver Zukunftsverweigerung allzu oft ununterscheidbar wird. Was übrigens kaum jemand klarer sieht und ausspricht als Goosen selbst.«
All das verschmilzt bei Eilenberger zu der Frage, wo das Ruhrgebiet gegenwärtig steht und was es in Zukunft sein kann. Eine Region, die immer noch gefangen ist in rückwärtsgewandter Industrienostalgie, deren Wandel hin zu Kultur und Natur aber bereits einiges bewirkt hat. Eine Schlüsselregion für jene, die diesen Wandel noch vor sich haben: »Das Ruhrgebiet ist ein Beispiel für die Notwendigkeit einer Transformation, welche die westliche Moderne des fossilen Kapitalismus in den kommenden Jahrzehnten zu bewältigen haben wird.« Das Revier hat diesen Kampf schon hinter sich, verbunden mit der Erkenntnis, das es für eine solche Transformation nicht mehr reicht, die nächste Zeche zu retten. Sondern dass viel mehr in Frage gestellt werden muss. Oder mit Eilenberger gesagt: »Soweit es den Zukunftshorizont unserer jetzigen Lebensform betrifft, sind wir im Moment alle Bergleute der sechziger Jahre.«
Wolfram Eilenberger: »Das Ruhrgebiet – Versuch einer Liebeserklärung«, Tropen Verlag, 144 Seiten, 16 Euro. Lesung am 7. Oktober 2021 im Rahmen der »lit.Ruhr« in Essen