TEXT: GUIDO FISCHER
Einmal im Jahr herrscht rund um den Wittener Saalbau Betriebsamkeit. Es rollen Übertragungswagen aus Köln an, um die Allzweckschachtel aus Glas und Beton zu verschnüren und zu verkabeln. Übers Pflaster rattern die Trolleys der musikbegeisterten Wochenendgäste. Bei gutem Wetter nehmen Journalisten und Verleger, Komponisten, Dirigenten und Musiker die Außengastronomie in Beschlag. Seit 1969 gehört dies zu den Ritualen, bevor auch nur ein Ton erklungen ist: bevor das Eröffnungskonzert des dreitägigen Festivals ansteht, das mehr als nur Eingeweihte anzieht. Wer in den letzten Jahren die vom WDR mitveranstalteten Wittener Tage für neue Kammermusik besuchte, konnte von dem stetig wachsenden, bunt gemischten Publikum verblüfft sein.
Dabei hat der künstlerische Leiter und WDR-Redakteur für Neue Musik, Harry Vogt, in 22 Jahren der Versuchung widerstanden, die hochgesteckten Qualitätsansprüche herunterzufahren. Vogt ist eher noch den umgekehrten Weg gegangen. Waren vor seiner Amtszeit fünf bis zehn Ur- und Erstaufführungen pro Jahr zu hören, sind die Wittener Tage unter seiner Leitung zum fast reinen Premieren-Festival geworden. Zumeist mit Auftragskompositionen, die das aktuellste Spektrum kammermusikalischer Spiel- und Denkarten widerspiegeln möchten.
Doch der Weg nach Witten lohnt nicht allein wegen der Novitäten. Hier wird Kammermusik grundsätzlich als Abenteuerspielplatz verstanden, bei dem keine Besetzung zu ausgefallen ist, um dem Klang auf die Spur zu kommen. Ob ein 48-köpfiger Chor, ein Musiktheater-Projekt oder eine Computer-Installation: für Vogt hat alles seine Berechtigung, wenn es den bestimmten zwingenden Kammerton besitzt. In Witten hört man ebenso Stücke von etablierten Großmeistern wie Brian Ferneyhough, Klaus Huber, Luciano Berio und Georges Aperghis, vom amerikanischen Jazz-Avantgardisten Elliott Sharp oder szenische Miniaturen des Kagel-Schülers Manos Tsangaris.
Zu den Säulen der immer unberechenbaren Hochleistungsschau zählen von jeher auch die Interpreten. Vogt ist es wichtig, dass der Komponist den Adressaten kennt. Mit dem englischen Arditti Quartet, dem niederländischen Asko Schönberg Ensemble sowie dem Collegium Novum Zürich gastieren in diesem Jahr drei Formationen, die beinahe schon zum Festival gehören.
Auch die 44. Ausgabe hat neben 30 Erstaufführungen noch Überraschungen parat. Das WDR Sinfonieorchester Köln gibt unter Rupert Huber sein Witten-Debüt und bringt postum zwei Orchesterstücke des italienischen Sonderlings Giacinto Scelsi zur Uraufführung. Das Arditti Quartett verbündet sich mit den jungen Kollegen vom amerikanischen Jack Quartet für zwei neue Werke für Doppelt-Streichquartett. Und statt ebenfalls noch Wolfgang Rihm zum 60. Geburtstag zu gratulieren, bevorzugt Vogt in sechs Konzerten förderungswürdige Komponisten. Dazu gehört der doch schon 55-jährige Däne Hans Abrahamsen, dem sich ein Schwerpunkt widmet. Aus Norwegen, Serbien, Italien und Irland kommt eine verheißungsvolle jüngere Generation.
Wie munter es in der Kammermusik zugehen kann, zeigt nicht zuletzt die Kölner Komponistin Carola Bauckholt. »Zugvögel« nennt sie ihr neuestes Stück und scheucht dafür mit Kormoran, Eistaucher und Kanada-Gans allerlei Federvieh auf.
27. bis 29. April 2012; Witten; www.kulturforum-witten.de