Die Idylle wäre perfekt, gäbe es nicht die regelmäßig am Himmel auftauchenden Flugzeuge, die vom nahen Düsseldorf Airport abheben. Das Mataré-Haus im Meerbuscher Stadtteil Büderich liegt wahrlich nicht auf dem Präsentierteller. Per Zufall verirrt sich niemand in die abgeschiedene Dückersstraße, und Hinweisschilder, die bei der Suche helfen, gibt es im Ort nicht.
Eigentlich seltsam. Schließlich lebte und arbeitete hier über Jahrzehnte ein allseits anerkannter Professor der Kunstakademie Düsseldorf. Hier erfuhren berühmte Künstler wie Joseph Beuys, Erwin Heerich oder Georg Meistermann grundlegende Weichenstellungen. Wahrlich keine schlechten Voraussetzungen, die das Mataré-Haus mitbringt, um aufstrebenden Künstler*innen als Werkstätte und Ort der Inspiration zu dienen.
Seit 2022 wird das einstige Domizil des Bildhauers Ewald Mataré (1887-1965) als Atelierhaus genutzt. Fünf Absolvent*innen der Düsseldorfer Akademie können hier, an der Nahtstelle von Großstadt und ländlicher Idylle, zwei Jahre lang arbeiten. Die Ateliers mit Aussicht auf den weitläufigen Garten stehen jenen Glücklichen offen, die mit dem dHCS-Stipendium bedacht werden.
Diese künstlerische Starthilfe, organisiert durch den Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, finanziert vom Düsseldorfer Traditionsunternehmen Haen-Carstanjen & Söhne, gibt es bereits seit 2003 – unlängst zog eine Ausstellung im Kunstverein anlässlich des 20-jährigen Bestehens Bilanz.
Die Geburtsstunde des Stipendiums schlug bei einer After-Show-Party der Künstler*innengruppe hobbypopMUSEUM im Düsseldorfer Kunstverein. Sophie von Hellermann und Dietmar Lutz, Mitbegründer*innen des Kollektivs, kamen ins Gespräch mit Theo Siegert, Chef von Haen-Carstanjen & Söhne, und dessen Frau Verena. Lutz, inzwischen künstlerischer Leiter des Mataré-Hauses, erinnert sich: »Die beiden fragten, wie man am besten junge Künstler*innen nach der Akademie unterstützen kann. Aus eigener Erfahrung wussten wir, dass es schon ungemein hilft, ein kostenloses Atelier zu haben.«
So wurde das Stipendium gemeinsam mit dem Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen aus der Taufe gehoben. Ein weiteres Ziel bestand darin, »Absolvent*innen der Kunstakademie in Düsseldorf zu halten. Zu der Zeit zogen die meisten doch eher nach Berlin – auch wegen der billigen Mieten.« Nicht zuletzt, betont Dietmar Lutz, würden die Newcomer durch das dHCS-Stipendium »Teil eines professionellen Netzwerks von Kurator*innen, Museumsleuten, Galerist*innen und anderen Künstler*innen« und könnten auf diese Weise »wichtige berufliche Kontakte knüpfen«.
Pavillon als Bühne für die Kunst
Lutz selbst war zum ersten Mal im Frühjahr 2021 im Mataré-Haus: »Ein sehr eindrücklicher Besuch. Ich dachte sofort, dass das für die jungen Stipendiaten ein toller Ort sein kann – auch wenn die eigentlichen Ateliers eher klein sind.« Inzwischen kümmert er sich darum, dass an der Dückersstraße alles rund läuft. Auch als Künstler zeigt der ‚Herbergsvater‘ dort Präsenz: Gemeinsam mit Sophie von Hellermann bespielt er etwa einen Pavillon im Garten, den der Künstler Gregor Lau 2023 entworfen hat. Die Markisen des Gartenhäuschens aus Holz haben beide als Bildträger ihrer Malerei genutzt. Zudem eignet sich der Pavillon bestens als Bühne für Performances.
Waren die Stipendiat*innen die längste Zeit über verschiedene Ateliers im Düsseldorfer Stadtgebiet verstreut, so ziehen sie nun im Mataré-Haus an einem Strang. Wohnzimmer, Gemeinschaftsküche und ein schöner Garten mit einem mächtigen, 1953 gepflanzten Gingko-Baum laden zu gemeinsamen Aktivitäten ein. Freiraum für konzentriertes künstlerisches Tun bieten die individuellen Studios.
Im Januar nahm das aktuelle Quintett die Ateliers auf Zeit in Beschlag. Annabelle Agbo Godeau, Fabian Friese, Viktor Jeraj, Simon Mielke, Jihye Rhii und Sophie Isabel Urban bleiben bis Ende 2025. Beim Rundgang durch ihre Ateliers ergibt sich ein Querschnitt durch das zeitgenössische Kunstschaffen. Während Annabelle Agbo Godeau, geboren 1995 in Paris, längst in Düsseldorf sesshaft geworden, mit figürlicher Malerei auf sich aufmerksam macht und dabei auch nicht die Schlüsselloch-Perspektive verschmäht, hat der Essener Simon Mielke (Jahrgang 1990) einen Hang zu konzeptioneller Malerei. Seine Bilder lenken den Blick auf scheinbar Beiläufiges – beispielsweise ein Fenster über der Heizung oder einen Hemdenstapel im Kaufhaus.
Im Œuvre von Sophie Isabel Urban, geboren 1993 in Euskirchen, stechen großformatige experimentelle Radierungen hervor. Multimedial arbeiten der Kölner Viktor Jeraj (Jahrgang 1993) und die Koreanerin Jihde Rhii (Jahrgang 1992). Fabian Friese, geboren 1994 in Leverkusen, eroberte schon im letzten Jahr die museale Bühne – in der Kunsthalle Recklinghausen waren seine skulpturalen szenographischen Installationen ebenso vertreten wie im Max Ernst Museum in Brühl.
Während drei der Stipendiat*innen ein Solostudio bezogen haben, teilt sich Friese das weitläufige ehemalige Mataré-Atelier mit Annabelle Agbo Godeau. Er zeigt uns das Überbleibsel eines ausrangierten Fahrgeräts aus dem Freizeitpark Phantasialand. Das Relikt findet nun Eingang in eine neue Installation, mit der er gerade befasst ist.
Kein Phantasialand, wohl aber ein Ort, wo der Phantasie Flügel wachsen, so darf man das Mataré-Haus charakterisieren. Wenn die Rede vom Genius loci irgendwo Sinn macht, dann hier: Schließlich war der frühere Hausherr nicht nur Bildhauer, sondern auch passionierter Kunsterzieher. 1932 wurde Mataré, der als Maler begonnen hatte und erst in den frühen 20er Jahren zur Plastik wechselte, als Professor an die Düsseldorfer Kunstakademie berufen. Auf Vorschlag von Paul Klee – ein Ritterschlag für sich. Klee war beeindruckt von den Tierplastiken, die Mataré aus Holz schnitzte oder in Bronze formte. Das Wesentliche etwa einer Kuh suchte er durch Reduktion und Abstraktion zum Vorschein zu bringen.
Kennzeichnend für Mataré, dass er sich nicht im Düsseldorfer Zentrum niederließ, sondern im linksrheinischen Büderich. Mit seiner Frau Hanna (1891-1983) und der Tochter Sonja Mataré (1926-2020), später als Goldschmiedin hervorgetreten, bezog er eine Wohnung in der Poststraße, die bis 1951 Quartier der Familie blieb. Eine nahegelegene ehemalige Essigbrennerei, kaum mehr als ein Schuppen, diente ihm als Atelier auf Mietbasis. Doch war das Professorenglück an der Akademie nur von kurzer Dauer – schon nach sieben Monaten entließen ihn die Nationalsozialisten; später stellten sie einige seiner Plastiken in der berüchtigten Propagandaschau »Entartete Kunst« an den Pranger.
Ewald Mataré blieb in Büderich wohnen, suchte Zuflucht im inneren Exil und hielt sich mit Aufträgen in der kirchlichen Kunst über Wasser. Internationales Prestige verschafften ihm später seine Portalgestaltungen für den Kölner Dom, die Friedenskirche in Hiroshima und den Dom zu Salzburg. Direkt nach Kriegsende machten ihn die Alliierten zum kommissarischen Direktor der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf. Eine Position, von der sich Mataré schon nach wenigen Monaten zurückzog; doch blieb er bis 1957 Lehrer der Bildhauerklasse: In dieser Funktion hat er die Entwicklung der deutschen Nachkriegsplastik nicht unwesentlich mitbeeinflusst.
Eine Erfolgsgeschichte, die 1955 und 1959 in der Teilnahme an den ersten beiden Ausgaben der documenta in Kassel gipfelte. Für eine standesgemäße Behausung in Meerbusch hatte er schon 1949 gesorgt: Damals erwarb er sein Atelier und ließ es durch den Architekten Georg Leowald umbauen und zur Heimstätte erweitern. So entstand das heutige zweigeschossige Mataré-Haus. Wer es betritt und durch die ebenso schlichte wie geschmackvolle Diele ins Wohnzimmer mit seiner gediegenen Holzvertäfelung gelangt, wo eine Wendeltreppe nach oben führt, der mag durchaus den Eindruck erhalten, das Haus sei in einen Dornröschenschlaf gefallen: Als Mataré 1965 starb, blieben seine Witwe und die Tochter Sonja dort wohnen, sorgten aber dafür, dass alles genauso blieb, wie es der Künstler hinterlassen hatte. Selbst die Pfeifen und die Atelierjacke Matarés durften ihren angestammten Platz jahrzehntelang nicht verlassen.
Der Tod von Sonja Mataré im Oktober 2020 machte diesem musealen Zustand ein Ende. Ihr Erbe und Nachlassverwalter Guido de Werd übergab den Großteil von Matarés künstlerischer Hinterlassenschaft (circa 1200 Arbeiten) als Schenkung an das Museum Kurhaus Kleve, das er bis 2010 selbst geleitet hat.
Sonja Matarés Wunsch, das unter Denkmalschutz stehende Haus möge auch künftig ein Ort künstlerischer Vitalität sein, ist dank des dHCS-Stipendiums in Erfüllung gegangen. Ende Oktober eröffnet im Museum Kurhaus Kleve die bis dato größte Mataré-Retrospektive. »Kosmos« (27.10.2024-9.3.2025) kann dank der opulenten Bestände des Hauses aus dem Vollen schöpfen. Neben manchen Neuentdeckungen, darunter rund 150 Gipsskulpturen, wartet Kleve mit einer Rekonstruktion von Matarés Atelier auf – dessen Originaleinrichtung befindet sich inzwischen im Besitz des Museums.
Und auch die aktuellen Stipendiatinnen sind mit von der Partie bei der »Kosmos«-Ausstellung: Ihre Werke, an denen sie gerade arbeiten, sollen im Johann Moritz Saal und im Gartensaal des Friedrich-Wilhelm-Bads gezeigt werden. Dietmar Lutz: »Wir bringen das Mataré-Haus Meerbusch nach Kleve und zeigen, wie es jetzt genutzt wird.«
ZUM 20-JÄHRIGEN BESTEHEN DES dHCS-STIPENDIUMS IST IM VERLAG DER BUCHHANDLUNG WALTHER UND FRANZ KÖNIG DIE PUBLIKATION »HOUSE OF MATARÉ« ERSCHIENEN (256 SEITEN, 29,80 EURO).
IM HERBST IST IM MUSEUM KURHAUS KLEVE DIE BIS DATO GRÖßTE MATARÉ-RETROSPEKTIVE »KOSMOS« ZU SEHEN (27. OKTOBER BIS 9. MÄRZ 2025)