Die Pläne waren geschmiedet. Der Bundestag hatte »ja« gesagt zum Fotoinstitut in Düsseldorf und zusammen mit dem Land bereits zig Millionen dafür gezückt. Als idealen Ort für das Gebäude guckte man den Ehrenhof aus, und ein paar schicke Architektur-Entwürfe gingen auch schon durch die Presse. Das neue Prestige-Objekt für die NRW-Landeshauptstadt schien so nah. Doch hatte man die Rechnung an Kulturstaatsministerin Monika Grütters vorbei gemacht. Ohne den Rat ihres Fotoexperten-Clubs abzuwarten. Der hatte nach monatelanger Recherche Mitte März sein »Konzept für ein Bundesinstitut für Fotografie« vorgelegt und darin auch die heikle Standortfrage erörtert. Das Votum fiel klar für Essen aus – Düsseldorf unterlag. Die Stadt, in der das wegweisende Fotografen-Ehepaar Bernd und Hilla Geschichte schrieb. Der Ort, wo bis heute etliche Fotografenstars wirken, schaffte es nur auf Platz zwei im Ranking der Experten. Wie kann das sein? Was hat die Revierstadt, was Düsseldorf nicht hat? Mit dieser Frage im Kopf hat kultur.west sich aufgemacht nach Essen.
Erster Halt: Das Museum Folkwang, wo Thomas Seelig, Leiter der Fotografischen Sammlung, wartet. Er biegt gleich um die Ecke in die Einzelschau zu Aenne Biermann, eine führende Avantgardefotografin der 1920er und 1930er Jahre. Viele der tollen Arbeiten, die hier hängen, stammen aus der hauseigenen Sammlung – sie zählt rund 65.000 Objekte, gehört zu den deutschlandweit wichtigsten zur Fotografie des 20. und 21. Jahrhunderts. Und ihre prominent besetzte Geschichte führt weit zurück.
In den 1920er Jahren schon gab es Fotoausstellungen in Essen. Ende der 50er kam dann der berühmte Fotograf Otto Steinert als wegweisender Lehrer an die Folkwangschule für Gestaltung und begann, eine Studiensammlung anzulegen, die zum Grundstein für den Essener Foto-Bestand wurde. Wichtiger noch als Steinert wurde für die Fotografie am Museum Folkwang dessen Schülerin und Nachfolgerin Ute Eskildsen – als Leiterin der bereits 1978 eingerichteten eigenen Abteilung für Fotografie. Lange bevor sich das Medium als feste Größe in Kunstmuseen etablieren konnte, holte sie wesentliche Werke der Fotografie-Geschichte nach Essen. Darunter die damals noch weitgehend unbekannten Fotografinnen der Weimarer Republik, zu denen auch Aenne Biermann zählt. Weitere Schwerpunkte der Kollektion liegen in den 50er und 60er Jahren. Für Richard Levy, Germaine Krull und Helmar Lerski, Walter Peterhans, Fee Schlapper und Otto Steinert hält das Haus die Urheberrechte.
Dass die Foto-Kollektion des Museum Folkwang so groß und wichtig ist, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass man hier früher und schneller war als viele andere. Nicht nur beim Sammeln, sondern auch in Lehre und Forschung – siehe Otto Steinert. Als Essen ihn 1959 als Professor an die Folkwangschule für Gestaltung holte, hatte die Stadt ein klares Ziel: Sie wollte am Institut »einen europäischen Mittelpunkt künstlerischer Fotografie bilden«.
Mit fünf Professoren für die künstlerisch-praktische Fotografen-Ausbildung und dazu noch dem in Deutschland einzigen Lehrstuhl für Theorie und Geschichte der Fotografie ist die »Folkwang Universität der Künste« auch heute eine Top-Adresse für Foto-Praxis und -Wissenschaft. Ganz in Otto Steinerts Sinne sei beides in Essen eng miteinander verzahnt, erklärt Prorektorin Elke Seeger und weist auch auf die hervorragend bestückte Foto-Bibliothek ihrer Hochschule hin, die der Forschung in Essen zu Gute komme.
Seit 2017 sitzt die Folkwang Universiät der Künste in einem räumlich und auch technisch exzellent ausgestatteten Neubau auf dem Gelände der Zeche Zollverein. In Coronazeiten wirkt hier auf dem Campus allerdings alles ziemlich leer und verwaist. Auch im Verwaltungsgebäude des Ruhr Museums – nur einen Katzensprung entfernt – sind die Büros Mitte Mai noch leer. Nur die Leiterin des Fotoarchivs, Stefanie Grebe, ist trotz Kurzarbeit hergekommen, um den kühlen Depot-Keller aufzuschließen, wo mit drei Millionen Bildern die bedeutendste fotografische Sammlung zur Geschichte des Ruhrgebiets von den 1860er Jahren bis heute lagert. Bekannt ist etwa der Zechenfotograf Josef Stoffels. Oder Michael Wolf mit seiner Examensarbeit »Bottrop-Ebel«. Auch werden hier die Lebenswerke mehrerer Pressefotograf*innen bewahrt – darunter von Marga Kingler, eine der ersten Frau in diesem Metier im Ruhrgebiet. Auch Beispiele der Food-Fotografie sind in den Schränken zu finden, denn das Archiv der Handelskette coop ist im Ruhr Museum untergekommen.
Der Platz werde schon knapp, meint Grebe, auch deshalb werde sie nur noch sehr gezielt sammeln. Und empfiehlt nach dem Blick in die eigenen Lager, doch auch gleich im Krupp-Archiv mit seinen über zwei Millionen Aufnahmen vorbei zu schauen. Weil man dort noch einmal eine andere Seite des Mediums kennenlernen könne. Fast von Beginn hat die Fotografie die Erfolgsgeschichte der Firma und das Leben der Familie Krupp dokumentierend und zum Teil auch werbewirksam begleitet. 1861 schon richtet Alfred Krupp die firmeneigene »Photographische Anstalt« ein. Unzählige Werksaufnahmen, Landschafts- und Porträtserien entstanden, Stahlarbeiter bei der Arbeit. Produktpräsentationen, deren ästhetische Prinzipien und Bildformate in der Kunstfotografie von Surrealismus, Neuer Sachlichkeit und konzeptueller Fotografie fortwirkten.
Zuletzt glänzten Krupps Schätze im Museum Folkwang. Die Ausstellung »Der montierte Mensch« bestückte fast einen ganzen Raum mit Fotos aus dem Firmen-Archiv. Der Foto-Leihverkehr läuft in Essen oft auf dem kurzen Dienstweg. Die kleine Foto-Clique hier kennt und unterstützt sich seit Jahren auf vielfältige Weise: Die beiden Museumsleute geben Lehrveranstaltungen an der Uni, die Krupp-Stiftung fördert die Ausbildung von Foto-Kuratoren und schickt ihre Stipendiaten auch ans Folkwang Museum. Als Gemeinschaftsprojekt plant man jetzt auch die Restaurierungswerkstatt, die demnächst mit Mitteln der Krupp-Stiftung im Museum Folkwang installiert werden und auch den anderen Einrichtungen zur Seite stehen soll. Einer der hier beschäftigten Restauratoren soll etwa mit der Hochschule zusammen das Fach Materialgeschichte lehren.
Der enge Austausch ist sicher auch ein Pluspunkt, den Grütters Experten bei ihrer Entscheidung der Standortfrage in die Waagschale legten. »In Essen existiert eine lange Tradition im Sammeln und Erhalten von fotografischem Kulturgut«, so sieht es Katrin Pietsch, die als Foto-Restauratorin und Professorin in Amsterdam das Konzept mitverantwortet. In Essen, so Pietsch, gebe es Institutionen, die bereits kooperieren, Pfeiler, auf die man aufbauen könne bei der Realisierung des Bundesinstituts.
Letztendlich, dies wird immer klarer, hängt das Problem des Standorts eng mit den Aufgaben zusammen, die man einem nationalen Fotoinstitut zuschreibt. Die Düsseldorfer Fraktion wollte ein Haus, das sich vor allem um aktuelle künstlerische Fotografie kümmert. Es sollte in Zusammenarbeit mit der Industrie neue Technologien zum Erhalt fördern und den rechtlichen Rahmen für die Neuproduktion schlecht erhaltener Abzüge abstecken. Daneben waren wohl auch Ausstellungen angedacht – zumindest reserviert der schicke Neubau 2000 Quadratmeter Fläche dafür. Eine solche Einrichtung wäre sicher gut aufgehoben in Düsseldorf, wo so viele Fotografen wirken, führende Labore sitzen und die zentrale Lage am Ehrenhof lockt.
Grütters Experten-Quartett möchte das Bundesinstitut aber, sinnvollerweise, anders und breiter aufstellen: Es soll Nachlässe wichtiger Fotografen*innen erhalten, sie durch Konservierung und Digitalisierung für die Nachwelt sichern und der Forschung zur Verfügung stellen. Es will nicht Ausstellungsort sein, sondern Kompetenzzentrum. Forschung betreiben und anderen Foto-Institutionen Hilfestellung leisten. Dafür fände das Bundesinstitut in Essen sicher beste Voraussetzungen.