Claudio Arrau war es, der im Klavierspiel Clara Schumanns die Tendenz kritisierte, sie spiele »ihren« Schumann in schnellen Passagen zu langsam und in den langsamen zu schnell, also: würde die Extreme abschleifen. Das Gegenteil unternimmt Hans Neuenfels in seinem Libretto »Schumann, Schubert und der Schnee«. Er betont Kontraste, treibt es zum Äußerten, ähnlich wie Ken Russell es in seinen Filmopern über Musikerschicksale tat. In seinem »emotionalen Versuch« erkennt er selbst eine Art »Steigerung meiner Operntätigkeit«.
Neuenfels kann sich für sein phantastisches Totenfest, das er für die RuhrTriennale kreiert, auf mancherlei stützen. Zunächst auf die eigene Methode von Panik, Pathos und Psychopathologie. Auf die Autorin Eva Weissweiler, die Robert Schumann als homoerotisch fühlenden Künstler outete, auf den Biographen Dieter Kühn, Christoph Schwandts »Musik-Konzepte« zu Schubert und etliche Zeugnisse und Briefe. Das multiple Ich der drei Romantiker erhält bei ihm Tiefenschärfe durch Verdichtung. Auf der einen Seite steht die präsidiale, disziplinierte, leistungsbewusste Clara, der das Klavier Rettung und Halt bietet, und deren »männliche Kraft«, wie Rezensionen der Pianistin attestierten, wohl auch die Frau, achtfache Mutter und Witwe auszeichneten. »Virtuosin der Aneignung« nennt sich die geborene Wieck bei Neuenfels. Und der preist ihre »Ökonomie«.
Dagegen die Schwäche, Labilität und Konfusion der Männer. Neuenfels erweitert den »klaffenden Riss«, den Schubert in sich trug, indem er ihn – wie ein Robert Louis Stevenson – aufspaltet: in den reinen Sänger, sublimen und sublimierenden Träumer und in den Schauspieler, der seine Triebe lebt und eine »ziemliche Lebenssau« war. Das Drei- Mädel-Haus samt seinen klebrigen Klischees stürzt endgültig in sich zusammen.
Der durch den frühen Tod mit 31 Jahren konservierte Schubert erscheint bei Neuenfels »fahrlässig in seinem Lebensgefühl«, wie eine Ikone, wie Jim Morrison oder Rimbaud, der für Neuenfels einer »der Götter meiner Jugend« war und für »die Lust an der Ausbeutung von sich selbst« steht. Während der bürgerliche Schumann dann doch mehr mit ihm, dem heute 64-Jährigen, zu tun habe, indem er »dem Chaos eine Umzingelung« und sich selbst eine Verfassung gegeben habe. Beide Komponisten verkörpern, so wie sie auftreten, ein weiteres Generalthema dieses Regisseurs: »Alter und Jugend, der alte Mann und der junge Mann«.
Dabei bleiben der suizidale Schumann und der nicht praktizierende Erotiker Schubert, den es zu seinen Freunden in ihrer »sehr heftig schwelenden Pubertät« hinzieht, »Fremdlinge überall«, wie es im »Wanderer«-Lied heißt. Heimat ist ihnen »das ferneste Land«. »Wie treibt’s mich von den Menschen fort«, komponiert Schumann zum Text von Julius Kerner. Fort ins Grenzgängerische.
Entsprechend korrespondiert in dem musiktheatralischen Abend die Verteilung von Wort und Musik. So wie im Lied-Werk Schuberts und Schumanns überhaupt Worte die Musik interpretieren und umgekehrt die Musik den Text übersetzt, geht auch Neuenfels vor, der aus Dialog unversehens zu einem Situationen grell beleuchtendes Lied wechselt, blendende Übergänge schafft, das Historische fiktionalisiert, psychologisiert und literarisiert. Er pflanzt einen »Dichtergarten für Musik«, wie ein unpubliziertes Anthologie-Projekt Schumanns hieß. 800 Lieder haben sie sich angehört, erzählt er während der Proben in Bochum, 34 wurden ausgesucht. Und die Lieder hätten ihn erst einmal »mundtot gemacht «, sie hätten ihn geradezu »zersungen«.
Die Bühnenform hat wenig mit einem üblichen Liederabend und sehr viel mehr mit Oper zu tun: »Die Lieder kommen in eine andere Erregung und Reibung, werden dem Sakralen entrissen, werden authentischer und nackter«, sagt Neuenfels. So bereitet diese seltsame Sache »Seelenzauber« mit »intelligentem Gefühl«. Beide Zitate führen zu jemandem, um den man in diesem Zusammenhang kaum herum kommt, der sie aus der Fülle des Wohllauts geschöpft hat. Mit ihnen setzte Thomas Mann den Schlussakkord droben auf dem »Zauberberg«, wo es sich – fern der Heimat – so gut über Krankheit als verwandelte Liebe und »Sympathie mit dem Tod« sprechen ließ, wo im Schneegestöber das Nichts nichtete, als stiebe schon Heidegger durch die wattig weiße Landschaft von Davos. Der Erzähler der sieben Castorp- Jahre auf dem verwunschenen Berg räsoniert darüber, dass die Liebe zu einem Gegenstand wie Schuberts »Lindenbaum« über den, der sie hegt, etwas aussagt, und über dessen Verhältnis zum Allgemeinen und zur Welt, in der trotz volksguthafter Innigkeit der Tod waltet. Diese Überlegung muss man auch auf den Autor und Regisseur anwenden, der das »sehr Persönliche« des Abends betont. Und ihn einkleidet in ein Rollenspiel, dessen Zuspitzungen über Schubert und Schumann sich gleichwohl auf der Höhe des Standes wissenschaftlicher Erkenntnis bewegen. Wenn für Neuenfels Schubert und Schumann ihre Lieder »wie Briefe abgeschickt« haben, versendet auch er eine Botschaft.
Ein seltsames Phänomen. »Der Tod verurteilt zum Schweigen«. Und »Wir sprechen nicht selten vom Tod.« Schreibt Thomas Macho konträr in einleitenden Kapiteln seines Buches »Todesmetaphern«. So funktioniert auch das romantische Lied mit seinen heißen Tränen und seinem heißen Blut, in dem sich Tod auf Liebesnot reimt. Wo die Nacht ihre Lieder singt (Schubert wie Schumann vertonten Goethes »Nachtlied«) und sich ekstatisch Unsagbares entäußert. Jedes Lied mutet an als »Kassiber für die Ausgestoßenen und Verletzten«, wie Schubert bei Neuenfels äußert. Ähnlich die surreal wirkende, krasse Stimmungswechsel hervorrufende Montage und Collage, in der sich im »Schnee« das Symbol der Keuschheit, Jungfräulichkeit und Herzenskälte kristallisiert.
Verführung ist die wahre Gewalt. Der Verführer aber ist hier das Lied. Es umfängt Schumann und Schubert miteinander wie im »Erlkönig«. Neuenfels deutet an, Schumann hätte sich von Schubert befreien müssen wie von einem »Doppelgänger«. Dieses düstere Heine-Gedicht hatte letzterer vertont. Und so hören wir nun – mit Neuenfels – Schuberts »Gretchen« und »Heideröslein« als verkappte Liebesklagen, wo einer »an seinen Küssen vergehen sollt«. Und wie im »Faust« mündet die Geschichte in Mord. Symbolisch erklingt der schlimme »Heideknabe« (Schumann / Hebbel), wenn der szenische Totentanz den Mord an Schubert durch Schumann vollzieht. Eine Un-Tat der Verdrängung und Verleugnung. Neuenfels wagt sich weit vor, ignoriert Raum und Zeit, schafft Simultan-Ebenen. Er schleift in seinem Konversations-Horrorstück die Barrieren der »alles zerstörenden Zeit«, wie sein Franz-Mann sagt. Es braucht »Flügel! Flügel! um zu fliegen« (Schumann / Rückert), damit es verteufelt hoch hinaus gehen kann – aus der Enge und Bedrängnis, der Biedermeierlichkeit, der Unfreiheit, Krankheit und Pein.
Auch eine dekadente Angelegenheit. Aubrey Beardsley, Zeitgenosse Oscar Wildes und Prinz des Lasters im England des späten 19. Jahrhunderts, lässt in seiner »Ballad of a Barber« den Barbier eine 13-jährige Prinzessin mit einem Kölnisch-Wasser-Flakon die Kehle durchschneiden: »lyrisch und sanft wie eine Melodie von Schubert«, heißt es. Und ebenso brutal und zart wie die Bluttat in Hebbels »Heideknabe«, den Neuenfels singen lässt. Das ist die schwarz-romantische Struktur von Neuenfels’ Abend. Ersckreckend wie der Schnitt durchs Auge in Buñuels »Chien Andalou«. Das Grausame und das Gemütvolle wohnen beisammen – am Brunnen vor dem Tore, wo die Hunde bellen und die Ketten klirren. //
Jahrhunderthalle Bochum 7., 10., 12., 14. und 15. Oktober 2005; Tickets: 0700/20 02 34 56; www.ruhrtriennale.de