Zirkus, ein Ort für Sonderfälle und Absonderliches, Schauplatz von Sensationen. Aber ein Esel ist keine Attraktion, sondern wird bestenfalls missachtet, eher malträtiert. Zwar hat er unter dem fahrenden Volk eine Freundin, die ihn liebkost, verteidigt gegen männliche Grobheit und ihm sogar nachreist, aber das lässt den Schmerz nur wachsen, wenn sie ihn verlässt.
Die Kamera umkreist den kleinen Grauhäuter mit dem großen Kopf. Betrachtet ihn aus der Entfernung oder kommt ihm hautnahe. Manchmal scheint sie seinen subjektiven Blick einzunehmen. Der Perspektivwechsel ist nicht ganz nachvollziehbar. Aber das macht nichts – denn alles in allem will die Fabel eine Elegie sein, die Klage führt gegen das polnische (also auch katholische) Wesen und das unserer kaltherzigen Zivilisation überhaupt.
Was seine Bilderzählungskraft angeht, ist Jerzy Skolimowski noch ein Jüngling, sagen wir, 32 Jahre alt – damals, 1970, drehte er in England den psychologisch erotischen Coming-of-Age-Thriller »Deep End« mit John Moulder-Brown, wohl sein wichtigster internationaler Erfolg. Skolimowski, der u.a. für Andrzej Wajda und Roman Polanski Dialoge geschrieben und für Volker Schlöndorff oder Mika Kaurismäki gespielt hat, ist der vielleicht unbekannteste der europäischen Meister der Kinos und Filmautoren. Ein Künstler, der gewissermaßen auf Zelluloid malt.
Aus der Lebens- und Leidensgeschichte Eo’s schafft er eine surreale, in der Symbolfarbe Rot leuchtende Fantasie und gewaltige opernhafte Natur-Epiphanie, die sich bis zum Science Fiction und bis in die Abstraktion steigert. Wuchtig, beklemmend, dramatisch, störanfällig wie die Welt, in der wir zuhause sind mit ihrer alltäglichen Verrohung und sich grün drehenden Windrädern, von denen wir nur ahnen können, wie der spanische Hidalgo Don Quichotte auf sie reagiert hätte. Dessen Rosinante ist auch ein Vorfahr des Esels Eo.
Wir hören ihn schnaufen, man könnte es für tränenersticktes Schniefen halten, als er sieht, wie in wilder Freiheit Pferde traben, während er, in einen Lastwagen gepfercht, seine Fahrt ins Irgendwo antritt, nachdem die Tiere des Zirkus verkauft wurden.
Ein edler Schimmel wird für ein Fotoshooting in Szene gesetzt, wird gepflegt und gestriegelt, darf in der Manege stolzieren. Der Esel schaut zu, unscheinbar, an den Karren geschirrt. Und richtet, wer weiß, vielleicht aus Zorn oder im Einspruch, ein Unglück an.
Er ist ein Aschenbrödel. Das hässliche Entlein, das kein Schwan wird. Fort muss er vom Gestüt. Ein Störfall. Weggeschafft wird er. Gerät auf einen Bauernhof, um herausgeputzt zum Kindervergnügen geritten zu werden. Eo nimmt Reißaus. Verirrt sich im Märchenwald, wo der Wolf heult und der Uhu glotzt und er bis aufs Blut verletzt wird, wobei Skolimowski den Horrorfilm streift. Verläuft sich in der Stadt, bis die Feuerwehr ihn einfängt. Plötzlich ist er Maskottchen von rabiaten Sportfans, Saufkumpanen, Rowdies und Schlägern, sucht das Weite, klüger als die Meute Mensch, aber bezieht doch böse Schläge, die ihn fällen und im Tierheim zum Patienten machen, wo er sich der Gattung Mensch mörderisch erwehrt. Wie die Kamera über sein geschundenes Fell gleitet, ist sie Instrument der Anklage: »Was Ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt Ihr mir getan.«
Wieder wird Eo verladen. Der Metzgerbolzen wartet. Der Trucker jedoch wird unterwegs anderweitig erledigt. Auf einmal, als wär’s ein Traum, grast Eo im Garten eines italienischen Palazzo, im Land der Salami. Europas regierende Kino-Königin Isabelle Huppert hat ein exquisites Solo, das sie für Werner Schroeter so hätte spielen können – und auch so bei ihm gespielt hat.
»Eo« ist die (weitgehend ohne Worte auskommende) essayistisch-episodische Variation einer Passion – in Nachfolge zu Robert Bresson. Der Esel, wäre er Mensch, könnte ein Bruder von Büchners Woyzeck sein. Es mag Zufall sein, dass der Film am 22. Dezember startet: zwei Tage vor der Heiligen Nacht, da in der Krippe zu Bethlehem auch ein Esel stand. Einer der Mühseligen und Beladenen, wie die Hirten auf dem Feld. »Eo« hat etwas Rührendes, zutiefst Menschliches, wäre das Wort nicht durch die Liste unserer Untaten korrumpiert und desavouiert. Manch eine Einstellung sieht aus wie ein Heiligenbildchen, manch andere wie eine subversive Protestnote. Beides ist berechtigt. Eo’s Himmelfahrt beginnt auf der Schlachtbank. *****
»Eo«, Regie: Jerzy Skolimowski, Polen / Italien 2022, 86 Min., Start: 22. Dezember