// Insgeheim wäre er vielleicht doch lieber Sänger statt Cembalist und Dirigent geworden. Denn wenn man Christophe Rousset zuhört, ob im Gespräch, bei seinen Aufnahmen oder live, ist seine Liebe zum Gesang nicht zu überhören. Dann spricht er von der »menschlichen Stimme als dem idealen Instrument«. Um das auch am Cembalo zu belegen, gestaltet er schon mal die wertvollen Werke des französischen Couperin-Clans zu dramatischen Miniopern ohne Worte. Steht Rousset schließlich vor einem edel besetzten Vokalensemble, hält man bei den Tragédies lyriques von Jean Philippe-Rameau schlichtweg den Atem an. So geschehen erst vor wenigen Wochen, als Rousset in der Essener Philharmonie mit der Oper »Castor et Pollux« gastierte. Dem Werk und einer Stimmwunderwaffe wie der Sopranistin Anna Maria Panzarella entlockte Rousset nicht nur bewegende Lebenszeichen. Selbst in der Schmerzensarie »Tristes apprêts« sorgte er mit seinen Musikern für Seelenwirbelstürme von ungeheurer Wucht.
Diese kostbar magischen Momente sind es, mit denen es Christophe Rousset an die Weltspitze einer Bewegung geschafft hat, die sich dem reichen Erbe der französischen Musik des 17. und 18. Jahrhunderts mit Haut und Haar und aus vollem Herzen widmet. All den Opern, die lange Zeit als zu akademisch und formal verpönt waren, all den geistlichen Kompositionen in ihrer erlesenen Anmut. Weil die diesjährige Saison der Essener Philharmonie das klingende Frankreich zum Schwerpunkt-Thema erkoren hat, fiel die Wahl zum »Artist in Residence« nahezu zwangsläufig auf den Allrounder Rousset.
Solistisch schlägt er im März und in der dreitägigen Reihe »En blanc et noir« mit den Tastenkollegen Alexandre Tharaud und Bernhard Wambach den Bogen von der französischen Cembalo-Musik zur Zeitgenossenschaft eines Pierre Boulez. Den feierlichen Abschluss seiner insgesamt vierteiligen Residentschaft bilden Sakralwerke von Rameau und André Campra. Auch hier hat Rousset dann wieder sein Ensemble »Les Talens Lyriques« zur Seite, das von ihm 1991 gegründet wurde.
Zuvor war er lange Jahre bei der Equipe »Les Arts Florissants« des amerikanischen Wahl-Franzosen und Dirigenten William Christie in die Lehre gegangen. Rousset rückblickend: »Obwohl ich selbstständig mit ‚Les Arts Florissants’ arbeiten konnte und Programme dirigierte, die sich vollkommen von denen Christies unterschieden, bekam ich sehr bald Lust, selbst Entscheidungen zu treffen, die Musiker auszusuchen, das Repertoire zu bestimmen, also wirkliche Autonomie zu erlangen.«
Zwar greift auch Rousset weiterhin auf jene Vokal-Stars zurück, die ebenfalls durch die Christie-Schule gegangen sind. Wie Natalie Dessay, Sandrine Piau, Jean-Paul Fouchécourt und nicht zuletzt die Sopranistin Véronique Gens. Bis heute schlägt Roussets Herz vorrangig im frankophilen Takt, was die Aufarbeitung des musikalischen Nachlasses angeht. Doch im Gegensatz etwa zu dem Freund aus alten Tagen, Marc Minkowski, bleibt Rousset als Dirigent und Cembalist ganz und gar bei seinen Wurzeln und Vorlieben. Sich dann doch einmal tief ins 19. Jahrhundert vorzuwagen, wäre schon deshalb reine Zeitverschwendung, da für ihn die Romantik nur eine »unselige und verstörende« Epoche war. Zudem kann man sich schwer vorstellen, wie der eher schmächtige Rousset und die symphonischen Schwergewichte Brahms oder Tschaikowsky zusammenpassen sollen.
Bereits seine akkurat ausgelotete Gestik hat nichts von einem Pultdompteur. Der 47-jährige Rousset ist beileibe kein Halbgott im Frack, auf dessen Kommando alles hören muss. Stattdessen bewegt er sich auf Augenhöhe zu seinen Musikern, so dass man den Eindruck gewinnt, er würde gern zwischendurch selbst wieder am Cembalo Platz nehmen, um den Sängern bei ihren feinnervigen Arien und Deklamationen so nahe wie möglich zu sein.
Die Faszination an der barocken Klangsprache liegt in der generellen Begeisterung für die weit zurückliegende Vergangenheit begründet. Rousset wuchs in Aix-en-Provence auf, wo er zunächst von den Überresten der römischen Architektur gepackt wurde. »Weshalb ich auch zunächst Archäologe werden wollte. Mein zweiter Berufswunsch war dann Architekt, um nur Paläste im Stil des 18. Jahrhunderts zu bauen. Als ich aber begriff, dass so etwas in der heutigen Zeit nicht gefragt ist, bot die Musik für mich die beste Möglichkeit, meine Vorliebe für die Vergangenheit auszuleben. So wurde besonders das Cembalo für mich zur einer Art Zeitmaschine.«
Den Umgang mit dem Instrument erlernte Rousset bei Alte Musik-Granden wie Bob van Asperen und Gustav Leonhardt. Nach seinem Sieg beim Cembalo-Wettbewerb 1983 in Brügge schlug er anfangs eine Solistenkarriere ein. Bevor es ihn reizte, sich auch dem Orchesterklang zuzuwenden. Für das kollektive Musizieren bildet das Cembalo nach Roussets Ansicht weiterhin das wichtigste Fundament: »Am Cembalo lässt sich am besten das Gefühl für die gesamte Palette der Orchesterfarben entwickeln.« Auf zwei Manualen kommt Rousset dem vokalen Reichtum und der rhythmischen Raffinesse nahe, die die Barock-Opern so einzigartig machen. Dazu gehören die Tragédies lyriques von Lully, den Rousset noch über Rameau stellt. Zu den Trouvaillen zählen aber gleichermaßen die Opern von Komponisten aus der zweiten Reihe. Rousset befreit mit sicherem Instinkt Partituren auch der Italiener Tommaso Traetta und Niccolò Jommelli von jahrhundertealtem Archivstaub.
Bei seinen Projekten hat er längst freie Wahl und kann die Elite der Stimmen gewinnen. Für Mozarts Opera Seria »Mitridate« kam Cecilia Bartoli mit ins Aufnahmestudio. Wie zugleich ökonomisch erfolgreich Rousset mit prominenten Kehlkopfartisten umgeht, hat er ebenfalls unter Beweis gestellt. Der Soundtrack, den Rousset und seine »Talens Lyriques« für den opulenten Spielfilm über den berühmten Kastraten Farinelli einspielten, hat sich inzwischen über 700.000 Mal verkauft.
Auf die Spur eines anderen Stars des frühen 18. Jahrhunderts begibt sich Rousset im Verlauf seiner Essener Gast-Reihe: die der Sopranistin und Rameau-Muse Marie Fel. Die Titelrolle des Essener Fel-Porträts übernimmt im Mai Véronique Gens, mit der Rousset seit nunmehr 24 Jahren zusammenarbeitet. Im Jahr 1984 war es, als sie erstmals gemeinsam aufbrachen, das reiche französische Barockerbe zu heben.
14. bis 16. März 2008, »Französisches Tastenwochenende – En blanc et noir«; www.philharmonie-essen.de