Schön oder schräg, warmherzig oder eisig: Welche Kinderstücke sind in der Weihnachtszeit sehenswert, besonders spannend oder wunderbar amüsant? Hier kommt unsere kleine Auswahl aus ganz NRW.
Für Freiheit und Gerechtigkeit
Selen Kara bringt in Essen Kurt Helds Roman »Die rote Zora und ihre Bande« als kämpferisches Familienstück auf die Bühne.
Am Ende bricht es aus dem alten Fischer Gorian heraus. Seine Enttäuschung über und seine Wut auf die habgierigen und kaltherzigen Menschen, die in der kroatischen Küstenstadt Senj das Sagen haben, hat sich über Jahre angestaut. Doch nun, als die scheinheilige Geschäftsfrau Karaman (Lena Dax) und die Bäckerin Cucin (Sabine Osthoff), eine Mitläuferin wie aus dem Bilderbuch, der »Roten Zora und ihrer Bande« den Prozess machen wollen, kann der von Jan Pröhl gespielte Fischer nicht mehr an sich halten. In einem flammenden Plädoyer für die verwaisten und obdachlosen Jugendlichen klagt er die Honoratioren an und erinnert sie daran, wer für die Armut und den Hunger der Kinder verantwortlich ist. Gorians große Rede ist der emotionale Höhepunkt von Selen Karas Inszenierung von John von Düffels Bühnenadaption des Held-Romans. Zuvor gibt es auch schon zahlreiche andere Höhepunkte, musikalische, komödiantische und visuelle, etwa die von poetischen Videoprojektionen begleitete Szene, in der Zora (wunderbar unerschrocken: Beritan Balcı) und Branko (erfrischend idealistisch: Nicolas Matthews), das neueste Mitglied ihrer Bande, nachts für Gorian Fische fangen. Aber in diesem Moment vor Gericht, in dem die Sehnsucht nach einer anderen, gerechteren Welt überwältigend groß ist, offenbart sich Selen Karas Vision eines Theaters, das Haltung und Unterhaltung vereint und Gefühle und Gedanken zugleich anspricht. Hätte Bertolt Brecht je ein Stück für Kinder und Familien geschrieben, dann würde es wahrscheinlich so aussehen und so klingen wie Karas »Die rote Zora und ihre Bande«. SAW
Ab 5 Jahren, theater-essen.de, zahlreiche Termine im Dezember und Januar im Grillo-Theater
Da wird das Huhn in der Pfanne verrückt
Das Westfälische Landestheater inszeniert Helme Heines Kinderbuchklassiker »Freunde« als »musikalisches Spektakel« im fröhlich-chaotischen Ton.
Ein eitler Gockel, eine poetische Maus und ein duschskeptisches Schwein: So unterschiedlich Franz von Hahn, Johnny Mauser und Waldemar auch sind, so sehr schätzen sie ihre innige Freundschaft. Da ist doch klar, dass seine Freunde Franz helfen, als eines Morgens ein Ei im Hühnerstall fehlt. Die Sachlage ist eindeutig: »Die Kannibalin« hat’s geklaut und will sein Kind in die Pfanne hauen! Es beginnt eine waghalsige Rettungsaktion unter der Regie von Sonja Elena Schroeder: Meistern können die Tiere die Reise vom Stall übers »Dorfmeer« zur Küche der Kannibalin nur, indem sie sich immer wieder gegenseitig helfen. Da muss der Hahn im weißen Smoking mit Punk-Iro auch mal Schwächen zugeben, die Maus im 20er-Jahre-Look ihren Schwanz als Stift benutzen und das schlammverschmierte Schwein als Stöpsel für ein selbstgebautes Boot herhalten. Die von Anja Müller als chaotischer Stall errichtete Drehbühne dient dafür als wandelbare Kulisse. Kreativ werden Requisiten zweckentfremdet und umgebaut: die Hühnerrutsche kurzerhand zum Boot und das Publikum mit blauen Stoffbahnen zu Wasser gemacht.
Pointiert eingesetzt versehen die Kompositionen Matthias Hanselmanns die Geschichte mit Schwung und Witz, reichen vom Chopin-Klassiker zur Rock’n’Roll-Nummer und erzählen uns mehr über die Tiere und ihren Zusammenhalt. Etwa als Waldemar schüchtern singt: »Ich bin der Waldemar mit Ringelschwanz und ohne Haar« oder die drei Freunde dreistimmig erklingen: »Auf dem Schiff sind alle wichtig!« Harmonie pur – wäre da nicht die Kannibalin, die Franz an die Federn und Waldemar an den Schinken will. Auf der anderen Seite der Drehbühne in der türkisgefliesten Küche mit überdimensionaler Küchenmaschine spitzen sich die Ereignisse rasant zu. Schließlich ist es ausgerechnet der sensible Dichter Johnny, der seine Kumpels und das Ei vorm Kochtopf bewahrt. Eine humorvolle Heldenreise gespickt mit schwungvollen Musikstücken und eingängigen Reimen – Ohrwurm garantiert. SISA
Ab 4 Jahren, westfaelisches-landestheater.de, weitere Spieltermine bis Mai 2024 an verschiedenen Orten in NRW.
Gegen die Kälte
Das Theater Münster macht aus dem schwedischen Kinderbuch »Siri und die Eismeerpiraten« ein schaurig-schönes Abenteuerstück.
Klirrende Kälte. Eisig zieht der Wind über die Drehbühne, die Sabine Kohlstedt ins Theater Münster gestellt hat. Später, in der Mine des schrecklichen Piratenkapitäns Weißhaupt (Frank-Peter Dettmann), werden auch noch riesige, klirrend kalte Kristalle von der Decke hängen. Doch die Szene aus Frida Nilssons schwedischem Kinderbuch »Siri und die Eismeerpiraten« macht schnell klar: In dieser Inszenierung geht es nicht nur um die Kälte der Polargebiete. Sondern auch um die Kälte zwischen den Menschen. Denn Schreckliches hat sich zugetragen. Eigentlich genau das, was die Menschen hier ständig befürchten: Micki, Siris Schwester (Soraya Abtahi), ist vom grausamen Weißhaupt entführt worden, der Kinder in seiner Mine so lange arbeiten lässt, bis sie sterben. Nein, heiter ist diese eindrückliche Inszenierung von Sandra Strunz nur stellenweise. Ganz sicher auch nicht für kleinere Kinder geeignet. Denn auch wenn die Regisseurin mit Siri (Amelie Barth) eine warmherzige Hauptdarstellerin voller Mut und Witz zeichnet, so hält das eindrückliche Stück mit unberechenbaren Eiswölfen oder dem widersprüchlichen Kapitän Sturmbart (Carola von Seckendorff) auch einiges an Schauder bereit. Rund um eine Drehbühne, die erst zur Wohninsel von Siri, Micki und ihrem kranken Vater wird, sich dann in die Kombüse des liebenswerten Frederic (Alexandra Lukas) verwandelt und schließlich in Weißhaupts Mine, sorgt Musiker Henning Nierstenhöfer für unterschiedlichste Szenarien: Mal spielt er fröhlich zum Tanz auf, dann wiederum verwandelt sich die Eislandschaft dank verschiedener Instrumente in eine unwirtliche Gegend voller Melancholie. Bis schließlich das Unmögliche möglich wird. Das unendliche Eis zwar nicht schmilzt, aber die schlimme Kälte ein Stück weit verschwindet – durch Herzenswärme, Freundschaft und Mut. AKI
Ab 8 Jahren, theater-muenster.com, zahlreiche Termine im Dezember und Januar
Eine Reise in die Vergangenheit
Johanna Landsberg zaubert in Wuppertal eine ganz und gar zeitlose »Pippi Langstrumpf« auf die Bühne.
Dieses Mädchen ist ein wahrer Wirbelwind. Die Selbstverständlichkeit, mit der sich Pippi Langstrumpf die Welt zurechtlegt und sich dabei kein bisschen um die Erwartungen und Vorstellungen von Lehrer*innen und anderen sogenannten Respektspersonen schert, hat schon in Astrid Lindgrens Büchern etwas ungeheuer Verführerisches. Aber so wie Pauline Schäfer sie in Johanna Landsbergs Inszenierung spielt, wirkt sie noch viel unwiderstehlicher als die Pippi Langstrumpf unserer Phantasie. Pauline Schäfer strahlt in der Rolle des Mädchens, das gelernt hat, sich alleine durchzuschlagen, eine entwaffnende Natürlichkeit aus. Wenn sie mit ihrer hellen Stimme das Lied aus der einstigen Fernsehserie singt und ihr ganz eigenes Einmaleins intoniert, dann macht 2 mal 3 tatsächlich 4, als könnte es gar nicht anders sein.
Die jüngeren Zuschauer*innen entführen Johanna Landsberg und ihre Ausstatterin Dietlind Konold in eine wundervolle Phantasie- und Märchenwelt, in der sie sich über all die Marotten der Erwachsenen köstlich amüsieren können. Schließlich hält Pippi ihnen mit ihrer kindlichen Logik, die aus einem gänzlich unverstellten Blick auf die Welt resultiert, immer wieder den Spiegel vor. Aber auch das ältere Publikum erlebt in dieser Inszenierung etwas sehr Seltenes. Johanna Landsberg ermöglicht ihm durch ihren liebevollen und genauen Umgang mit Astrid Lindgrens Geschichten eine Reise in die eigene Kindheit. Für 70 Minuten dürfen sich alle den anarchischen Visionen Pippi Langstrumpfs hingeben und können so den Wahnsinn der Welt durch ihre Augen viel klarer sehen. SAW
Ab 6 Jahren, schauspiel-wuppertal.de, Termine im Dezember und Januar im Theater am Engelsgarten
Die Freisinnigen
»Der Teufel mit den drei goldenen Haaren« ist im Düsseldorfer Schauspielhaus als Märchen der Befreiung zu sehen.
Stell Dir vor! – lautet die magische Formel. Nur keine Angst! – lautet die Botschaft für Märchenzeit. Die Vertreter der Fantasie sind ein närrisches Paar, das uns in die Geschichte hineinzieht und wieder aus ihr entlässt. F. K. Waechter erzählt das Märchen der Brüder Grimm von einem, der auszog, den Teufel um drei goldene Haare zu bringen, neu, macht sich nicht bange vor krassen Bildern und hat seine Dialoge scharf gewitzt.
Dass der Knecht der eigentliche Prinz ist (in André Kaczmarczyks Regie bestäubt ihn Goldregen als erstes Zeichen seiner Kür), dass er somit die Prinzessin verdient und dass in der Begabung zum Glück, die auch beherztes Ergreifen verlangt, der wahre Adel liegt, bildet die schöne demokratische Moral. Auf der einen Seite spreizt sich die alberne Hof-Society wie jene aus Büchners Königreich Popo und lässt ihre gestiefelten Dunkelmänner marschieren. Dem gegenüber behauptet sich der blumenmädchenhafte Prinzessinnen-Rotschopf (Jule Schuck), natürlich das Landei und Glückskind (Thomas Kitsche) sowie die buntscheckige Außenseiterbande mit ihrem Gender-Libero (Belendjwa Peter) und das wispernde artistische Narrenwesen (Charlotte Schülke, Michael Fünfschilling). In der Unterwelt regieren des Teufels Großmutter, lila aufgebauscht zur Operndiva (Natalie Hanslik), und ihr Enkel als hyperaktiver Springteufel (Eduard Lind).
Mit Gespür für die Bühnenzaubermittel und die Geheimnisse der Theatermaschinerie, die so schlicht gestaltet sind, dass es eine Schande wäre, sie Effekt zu nennen, läuft das Märchen am Schnürchen. Viel Höllenrot, wattige Nebel, ein Fährmann im Kahn wie aus dem Nichts und wohldosierte Musik (Matts Johan Leenders). Kunst der Verwandlung! Ganz ohne Diskurs-Gedöns feiert die Inszenierung fein den Freisinn. AWI
Ab sechs Jahren, www.dhaus.de, zahlreiche Termine bis Ende Januar, Düsseldorfer Schauspielhaus