TEXT: MELANIE SUCHY
Wohnsitze in Berlin und Paris, eine Arbeits-Residenz in München. Zum Gespräch findet Richard Siegal sich Anfang Januar in New York bereit, per Telefon. »Hier fing alles an!« – in einem Nest in New Hampshire ließ sich der Zehnjährige 1979 durch einen Film fürs Ballett begeistern. Er lernte fleißig russische Schule und hörte wieder auf. Dann richtet sich seine Aufmerksamkeit auf Kampfkünste, gefolgt vom Tauchen; er spielt Theater und rockt in Bands. Nach der Schule zieht Siegal dem Bruder nach New York hinterher, klappert Tanzkurse ab, geht aufs College, studiert Theologie und anderes, bricht ab. Erst mit 21 Jahren beginnt er diszipliniert, Tanz zu lernen. Klassisches Ballett sei bis heute seine Basis, sagt Siegal. Auf diese Weise habe er gelernt, seinen Körper zu koordinieren.
Der Tänzer Siegal arbeitete für Choreografen diverser Stile und in den üblichen Kellnerjobs, bis er sich zur Audition-Tour in Europa entschloss. Vortanzen also. Als er in sein geliebtes Manhattan zurückkehrte, hatte er nicht ein einziges Angebot. Wochen später kam eine Nachricht von William Forsythe, der ihn im Ballett Frankfurt eher zufällig hatte tanzen sehen. Einen »vorbereiteten Zufall« nennt Siegal den Karriereschritt. Mit den Träumen solle man aktiv umgehen und doch auch akzeptieren, dass Dinge nicht ganz der eigenen Kontrolle unterstehen. Denn es ist doch eher selten, dass der berühmte Bill einen in seine Kompanie einlädt.
Von 1997 bis 2004 tanzte Richard Siegal im Ballett Frankfurt. Noch heute bewundert er Forsythe dafür, den Haufen freiheitsliebender Persönlichkeiten zusammengehalten zu haben. Wobei man durchaus hart und produktiv um Autonomie und Autorschaft gerungen habe. Das Thema Entscheidung, wer wann wie welche Wahl trifft, prägte Siegals eigene Produktionen. 2005 war es »If/then«, und noch die 2010 in München uraufgeführten »©oPirates« bewegt die Frage nach Systemen, bei denen man die Wahl hat. »Das geht in philosophische und spirituelle Bereiche hinein, aber ich hole mir auch Inspiration bei Computerprogrammierern, Interaktivität, bei Untersuchungen zur kulturellen Entwicklung, in der Biologie etc.«
Mit »If/then« begann Siegal die »if/then-methodology« auszuarbeiten. Am Anfang steht ein simples Solo: Tänzer, Tisch, Lampe, Zettel. Dieser listet Aktionen auf. Wenn Siegal die Glühbirne anknipst, hüpft er auf den Tisch, steigt herab, knipst aus. Liest, knipst an, joggt rückwärts vom Tisch weg und wabbelt mit dem Oberkörper. Knipst an, hüpft auf den Tisch und schraubt einen Arm in die Höhe. Manchmal wird wiederholt, aber es geht immer zurück auf Null: Licht aus, stehen. Ein »Wenn«, verschiedene »Danns«. Siegal entscheidet sich jedes Mal neu. Das System liegt dem Zuschauer relativ offen. Im folgenden Duett geht das alles viel schneller. Zwei Tänzerinnen sitzen am Tisch, patschen die Hände auf die Platte oder drücken den Kopf der Kollegin herunter oder stehen auf oder schwingen einen Fuß auf den Tisch. Vieles wiederholt sich, wie eine Mechanik rattern die Kurzphrasen, deren Zusammenhang dem Zuschauerauge entgeht und dem sich so das Bild eines absurden, heftigen Dialogs entfaltet, bei dem niemand klein beigibt.
»Wenn beide zweimal hintereinander gleichzeitig dasselbe tun, dann geht das Spiel anders weiter«, erklärt Siegal das Metasystem im Begleittext zu seiner kürzlich veröffentlichten DVD »If/Then Dialogues«. Die einzelnen Bewegungen sind »pedestrian«, alltäglich, nicht aber das Tempo. Und die Spiele erfordern eine Virtuosität des Gedächtnisses. Ohne nachzulesen, dass vereinbarungsgemäß auf Aktion X Aktion Y oder Z folgt, müssen die Tänzerinnen sich die Wenn-dann-Regeln und das im Probenprozess entwickelte Vokabular gemerkt haben. Die kämpferische Komponente des if/then taucht in Siegals »Homo Ludens« wieder auf, das er 2009 im ZKM Karlsruhe herausbrachte. Da steht er dem Duettkollegen Kenneth Flak gegenüber, eine Hand fährt zu dessen Schulter. Aus Ausweichen, Greifen, Loslassen, Umdrehen, Beugen entspinnt sich eine Art superschnelles Aikido.
Seit Jahrzehnten lernt Siegal Bewegungen, wiederholt, präsentiert. In seinen Stücken mit ihren Momenten der Unvorhersagbarkeit und den Tausenden von Entscheidungsnotwendigkeiten sucht Siegal das, was »strange« für ihn ist, vielleicht sogar unangenehm, »etwas, das ich nicht kenne, nicht benennen kann«. Dieses Fremde, dem man sich mit Lust und Bangen stellt, prägt die Stücke des hervorragenden Tänzers.
Im damaligen »if/then« führten die zwei Tänzerinnen auch ein ruhigeres »Spiel« durch. Sie saßen auf weit entfernten Stühlen einander gegenüber. Aufstehen oder nicht aufstehen, wenn die Andere mit dem Finger deutet, hinsetzen, Stuhl heranschieben. Der Text aus dem Off deutet eine Mutter-Tochter-Beziehung und Demenz an. »Die choreografische Methode wird zur Metapher«, sagt Siegal. An Gesten der Beherrschung und Folgsamkeit wird die prekäre Balance der Beziehung erkennbar, eine Art brüchiger Spiegel.
In »As if stranger« von 2008 spielt Siegal mit dem Moment des Erscheinens, kraucht flink über den Boden der Bühne, dahin und dorthin, wie ein Wesen, das noch nie hier war und das sich nicht sicher ist, ob es gesehen werden will. Sol Le Witts Sätze über konzeptuelle Kunst von 1969 tauchen auf zwei Wänden auf, Siegal wedelt später hinter diesen Folien Buchstaben in die Luft, die lesbar stehen bleiben und zur Anweisung werden. Sanftmütige Musik von John Cage ertönt, die nicht klingt wie Cage. Untypisch. Siegals Stück denkt über Identität nach, Erkennbarkeit, also auch Unterscheidbarkeit, Autorschaft und Sprache und erschafft eine Atmosphäre, die jener Fremdartigkeit entspricht. Man spürt, dass »Stranger« weniger den unbekannten Anderen meint, als den Blick auf sich selbst.
Drei Stücke mit »stranger« im Titel hat er seit 2004 choreografiert. Den Begriff habe er der »Soziologie« von Georg Simmel entnommen, sagt Siegal, dem »Exkurs über den Fremden« von 1908, über »die Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen enthält« (Simmel). Da wundert es kaum, dass er zur Eröffnung des renommierten Münchner DANCE-Festivals im Oktober 2010 kein Bühnenwerk mehr präsentierte. Sondern eine Party namens »©oPirates«, die als solche nicht angekündigt war und deshalb auch irritierte. »Eine entwaffnende Erfahrung«, sagt Siegal, für ihn war es ein großes Experiment. An dem Projekt, das nun in Essen und Frankfurt und später wieder in München anlandet, sind ein Kernensemble aus Siegals 2002 gegründetem Team von »The Bakery« beteiligt und Gruppen aus dem jeweiligen Ort, die gezielt angefragt werden. Beim ersten Treffen prüfen sie, ob und wie man mit diesen Fremden eine Art übergreifende »community« schaffen kann. Das Thema Gemeinschaft oder Gemeinsamkeit ist der Anfang und das – offene – Ende des Projekts.
»Schön, dass Leute noch miteinander reden, nicht alles ist virtuell oder nur noch auf Facebook«, sagt Siegal, der die Internetaktiven zwar nicht ausschließt und die Piratenpartei per Twitter und Statements zum geistigen Eigentum an der Performance beteiligt. Aber die meisten Teilnehmer sollen real im Raum anwesend sein und das, was ihnen wichtig und gemeinsam ist, mit anderen teilen. Bulgarischer Volkstanz, Lindy Hop (ein munterer Gesellschaftstanz der 1930er Jahre), Parkour (das Rennen und Springen über Mauern, Geländer, Dächer hinweg). Im Grunde erweitert die Ko-Piraterie Siegals dialogisches Prinzip auf ganze Zuschauer- und die Performermengen: Wenn ihr mir etwas zeigt, dann mache ich das nach. Oder nicht. Oder ich zeige dir etwas. Die Gruppen sollen, dürfen miteinander kommunizieren und voneinander lernen. Bei einer Party, so erklärt Siegal sein Vertrauen ins Funktionieren der Veranstaltung, seien zumindest grundsätzliche Spielregeln klar: Benimm.
Ihn fasziniert die Gleichzeitigkeit von identitätserhaltender Traditionspflege und Hybridisierung von Formen und Konventionen heutzutage.
Am 19. Februar 2011 bei PACT Zollverein. www.pact-zollverein.de