TEXT: GUIDO FISCHER
Dianne Reeves hat auf Zweidrittel ihrer Lebensstrecke alles erreicht, was einer Jazz-Sängerin gelingen kann. Zahllose Preise, darunter vier Grammys; sie hat mit Größen wie Herbie Hancock oder auch mit Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern zusammengearbeitet. Überhaupt gilt sie als einzig würdige Nachfolgerin der Jahrhundert-Sirenen Ella Fitzgerald und Dinah Washington.
Doch gibt es einen peinlichen Moment ihrer Karriere, an den sie bis heute zurückdenkt. Ein hochtalentierter Teenager war sie da noch. Bei einem Festival begegnete sie einer etwas älteren Kollegin im Garderobenflur. Sie unterhielten sich. Auf die Frage, welche Jazz-Musik sie denn am liebsten höre, antwortete Reeves ohne Zögern: »Nichts geht über Sarah Vaughan«. Kurz darauf wurde die Andere auf die Bühne gerufen und angekündigt als: »Ladies and Gentlemen – Miss Sarah Vaughan!«. Reeves wollte im Boden versinken. Ausgerechnet ihr großes Vorbild hatte sie nicht erkannt.
Ihren frühen Fauxpas hat sie wenigstens musikalisch zu korrigieren unternommen. 2001 veröffentlichte sie mit »The Calling: Celebrating Sarah Vaughan« eine Hommage, auf der sämtliche Vaughan-Klassiker zu hören waren. Mit ihrer elegant geschmeidigen Stimme und der rhythmischen Leichtigkeit trat Reeves in die Nachfolge der 1990 verstorbenen, vielbewunderten Vokalistin.
Was Dianne Reeves von Sarah Vaughan aber vielleicht am meisten gelernt hat, ist eine nahezu unbeschwerte Auseinandersetzung mit dem afro-amerikanischen Musikerbe. Blues, Soul und Gospel – dieses Einmaleins eines jeden Jazzmusikers bildet auch bei Reeves das Herz-Rhythmus-System ihres riesigen Repertoires. Doch wo etwa ihre Kolleginnen Cassandra Wilson und Dee Dee Bridgewater allein das tiefe Delta-Blues-Feeling tontraurig auskosten können, betrachtet Reeves mit leichtem Pop-Einschlag positiver die Welt. Obgleich sie 1956 zu einer Zeit geboren wurde, als die Rassentrennung auch in ihrer Geburtsstadt Detroit noch die US-amerikanische Gesellschaft spaltete.
Dass sie Leid und Schicksal der Black Community nicht eindeutig besingt, werfen ihr konservative Jazz-Eiferer immer wieder vor. Reeves versteht sich indes als Künstlerin, der es bei bewahrtem Traditionsbewusstsein nicht allein mehr um die Hautfarbe geht. Von Beginn an unterstützte sie Barack Obama, der ihr Hoffnungsträger für ein »farbenblindes« Amerika ist.
Mit ihren Mitte fünfzig ist Reeves im besten Alter, um noch zwei Jahrzehnte musikalische Brücken zu bauen: zwischen den unterschiedlichsten Stilen, die sie wie sonst keine derzeit versöhnen kann. Welche Songs bei ihrem einzigen NRW-Gastspiel mit Band auf dem Programm stehen, entscheidet Dianne Reeves wie gewohnt erst kurz vorher – nach Lust, Laune und Gefühl. Zur Wahl stehen Standards aus dem American Songbook, Kurt Weill-Evergreens, Pop-Klassiker und natürlich Sarah »Sassy« Vaughan.
Dianne Reeves: am 5. Februar 2011, 20 Uhr; Konzerthaus Dortmund; www.konzerthaus-dortmund.de