Die vergangenen zwölf Monate waren nun nicht gerade arm an dokumentarisch gegründeter Dramatik. Manche nennen es auch Realsatire: Ein Reality-TV-Darsteller mit abenteuerlicher Frisur und noch abenteuerlicheren Ansichten zieht als US-Präsident ins Weiße Haus ein. Das Wort des Jahres 2016 heißt »postfaktisch«. Handfeste Lügen werden gern mal als »alternative Fakten« gehandelt. Sieht ganz so aus, als hätte die Wirklichkeit selbst die schrillst mögliche Farce rechts überholt – und vielleicht (das wird sich noch zeigen) auch die größte anzunehmende Tragödie.
Hat die künstlerische Dramatik da überhaupt noch eine Chance? Wenn man als Jurymitglied für die Mülheimer Theatertage eine komplette Saison lang durch Deutschland, Österreich und die Schweiz tourt, fragt man sich das, zugegeben, nicht nur im Sinne der Kunst. Dahinter steckt auch vitales Eigeninteresse. 144 Uraufführungen standen für diesen Jahrgang insgesamt zur Diskussion. Veranschlagt man für jede – was im Übrigen eher tiefgestapelt ist – 90 Spielminuten, kommt man auf stattliche 216 Theater-Stunden. 27 komplette Arbeitstage im Zuschauerraum. Die will man auf gar keinen Fall abgehängt von der Wirklichkeit verdämmern.
Muss man auch nicht, lautet die erste gute Nachricht aus dem Jury-Tagebuch. Die sieben ausgewählten Dramen, von denen – zweite erfreuliche Notiz – vier von Mülheim-Debütant/innen stammen, zeigen sich (diskurs)fit für die Gegenwart: spitzen sie erhellend zu, zerlegen sie gnadenlos in ihre populistischen Einzelteile oder zäumen sie scharfsichtig von den marginalisierten Punkten aus auf.
Zum Beispiel Elfriede Jelinek. Die Mülheim-Dauergastspielerin, die den Dramatiker-Preis bereits viermal gewonnen hat, verdichtet in einem grandiosen 114-seitigen Schreibanfall das Grundrauschen unserer Zeit. »Wut« heißt ihr Text lakonisch, der (in der kongenialen Regie von Nicolas Stemann an den Münchner Kammerspielen) IS-Terroristen und Pegidisten, Religionsverfechter wie -verächter, Wut- und selbsternannte Mutbürger gleichermaßen zu Wort kommen und ihre rhetorischen Figuren dabei bewusst ineinander lappen lässt. Denn: »In der Wut gibt es keinen Zweifel«, heißt es bei Jelinek: »Man erkennt in diesem Zustand ja nichts mehr.«
Den virulenten Hang zur Erkenntnisverweigerung teilt der Jelinek-Cast mit dem Hipster-Personal, das die junge Autorin Olga Bach unter dem Motto »Die Vernichtung« (Regie: Ersan Mondtag, Konzert Theater Bern) auftreten lässt. So vermeintlich harmlos die Mülheim-Newcomerin ihre Hedonistinnen und Narzissten der Twenty- bis Thirtysomething-Generation, die wahrscheinlich alle was mit Medien, Design oder Werbung machen, an der Oberfläche auch plaudern lässt: Schnell und unbemerkt driften sie in denkbar undialektisches, bisweilen geradezu faschistoides Gedankengut ab.
Demgegenüber haben die Protagonisten des zweiten aktuellen Mülheim-Debütanten, Konstantin Küspert, zwar ein beneidenswert klares Ziel: »europa verteidigen«, lautet ihr Gebot der Stunde. So eindeutig aber die heroische Auftragslage zunächst daherkommt, so vielschichtig präsentiert sich anschließend das von Cilli Drexel am E.-T.-A.-Hoffmann-Theater Bamberg urinszenierte Stück. Ähnlich wie Jelinek und Bach entlarvt nämlich auch Küspert in flockigen Europa- bzw. Europakritik-Statements fiktiver Zeitgenossen populäre bis populistische Denkfiguren, um sie auf einer zweiten Ebene mit der Jahrtausende alten europäischen (Gewalt-)Geschichte zu konfrontieren.
Einer Geschichte, die auch Milo Rau in »Empire« neu aufrollt, allerdings aus einem völlig anderen Blickwinkel. Vier professionelle Schauspieler sitzen in diesem dritten und letzten Teil seiner »Europa-Trilogie« auf der Bühne und erzählen ihre Lebensgeschichten: Akillas Karazissis wuchs während der griechischen Militärjunta in Thessaloniki auf, bevor er 1975 zum Studium nach »Fassbinderdeutschland« kam. Maia Morgenstern, Leiterin des Jüdischen Theaters Bukarest, erinnert sich an die Demonstrationen gegen die Ceaușescu-Diktatur Ende 1989. 22 Jahre später beteiligte sich der syrische Schauspieler Rami Khalaf in seiner Heimat ebenfalls an Demonstrationen – gegen das Assad-
Regime. Und der Kurde Ramo Ali wurde monatelang in einem von Assads berüchtigten Foltergefängnissen in Palmyra verhört, bevor er nach Deutschland flüchtete. Abgesehen davon, dass der ebenfalls erstmals in Mülheim gastierende Milo Rau diese individuellen Biografien klug zum übergreifenden Geschichtspanorama verdichtet, lässt er die Darsteller abendfüllend mit dem Verhältnis zwischen ihrer Biografie und Bühnenrolle spielen, mit der Dialektik von Realität und Fiktion.
Womit wir – Tagebuchnotiz Nr. 3 – bei einem weiteren zentralen Thema dieser Auswahl wären. Und bei einem Sujet, über das wahrscheinlich niemand so gut Bescheid weiß wie Anton und Karin aus Clemens J. Setz’ »Vereinte Nationen«, das Tim Egloff am Nationaltheater Mannheim urinszeniert hat. Setz’ Eheleute – akademische Turnschuhträger und mutmaßliche Grünen-Wähler aus dem Bobo-Milieu – vollstrecken an ihrer Tochter Martina ein befremdliches Erziehungsprogramm. Jedes Mal, wenn die Kleine gescholten oder bestraft wird, läuft eine Videokamera mit. Die Clips avancieren im Netz zum Verkaufsschlager, so dass die »natural Szenen« bald nicht mehr reichen. Zunehmend äußern die Kunden eigene Wünsche: Wie etwa wäre es mit einer Verbrennungsaktion des kompletten Spielzeugbestands als Strafmaßnahme – vor den Augen des Kindes? Das Gespenstische an dem Familiendrama von Clemens J. Setz (dem vierten Mülheim-Debütanten des Jahrgangs) ist, dass Anton und Karin eher dem Typus der treusorgenden Helikopter- als dem der schnöden Raben-Eltern angehören. Ihnen ist schlicht – und welchem Zögling des Internetzeitalters ginge es da grundsätzlich anders – ein bisschen das Differenzierungsvermögen abhanden gekommen: zwischen analoger und digitaler Welt, Privatheit und Öffentlichkeit, Realität und (Selbst-)Inszenierung.
Digitale Revolution, Rechtsruck, Europaskepsis, Postfaktizimus: Die Status-quo-Analysen der neuen Dramatik sind, wie gesagt, messerscharf. Aber gibt es auch Reformideen? Alternativvorschläge? Bahnbrechende Umbruchsfantasien? Durchaus, sagt die vierte Tagebuchnotiz. Der Bademeister Hannes aus Ferdinand Schmalz’ »Der thermale Widerstand« hat da etwas höchst Visionäres in petto. Wo der gemeine Zeitgeist mal wieder einen Wellnesstempel zur realkapitalistischen Leibesoptimierung errichten will, träumt Hannes vom kollektiven »Diskursbad« inklusive des Rechtes auf Faulheit und einen »zweckfreien, nicht funktionierenden Körper«. Sein von Barbara Falter am Zürcher Schauspielhaus urinszenierter Versuch, aus der Nasszellen-Belegschaft nebst deren Badegästen eine revolutionäre Zelle zu formen, scheitert allerdings kläglich.
Vielleicht sollte man – dies der fünfte und letzte Gedanke aus dem Jurytagebuch – nicht gleich globalgesellschaftlich anfangen, sondern zunächst in den ureigenen Mikrostrukturen? Die wunderbar eigenwillige Protagonistin Baby aus Anne Leppers »Mädchen in Not« (ebenfalls Mannheim) weiß jedenfalls genau, was sie will. Nämlich »mit einer Puppe als Mann nach Italien«. In Dominic Friedels kongenialer Inszenierung darf man mit Baby feststellen, dass solch eine Ansage mindestens so Patriarchats-erschütternd wirken kann wie der Wille zur kompletten Bäderbetriebsrevolution à la Schmalz. Ein Hoch also auf die künstlerische Dramatik in Zeiten realer Schmierenkomödien (und -tragödien).
Stücke, 13. Mai bis 3. Juni 1017.