Er kommt gerade von Gastspielen in Frankreich und wird am nächsten Tag wieder abreisen aus Düsseldorf, nach Clermont, dann Montréal, im Mai nach Riga. »Koko Doko« wird in Koffer verpackt. Keine Pause. Kürzlich choreografierte Morgan Nardi in Münster bei der Inszenierung von Luciano Berios Oper »Un re in ascolto« drei Tänzerinnen und arbeitete mit allen Darstellern an Bewegungen. »Das hat viel Spaß gemacht«, sagt er. Immer hört man bei ihm die Leidenschaft für die Kunst – und die Zweifel, ob man immer so leben kann, wie er lebt.
Dass die Organisation seines eigenen Ensembles, das Beantragen von Fördergeldern und die Akquise von Auftritten so viel Zeit und Energie beanspruchen, plagt den Italiener. Wie soll die Kreativität da nebenher gedeihen? »Ich bin langsam«. Nardi ist kein Phlegmatiker, sondern gründlich. Deshalb haben seine Arbeiten, die er gemeinsam mit der Raum- und Video-Künstlerin Naoko Tanaka als Gruppe »Ludica« entwickelt, einen speziellen Zauber. Man sollte sie mehrmals anschauen, weil so viel darin zu entdecken ist. Bilder und Räume entfalten sich. Am fest Stehenden zu rütteln, dafür sind gerade die Tanz- und die Lichtkunst geeignet, die einander bei »Ludica« so brillant ergänzen.
Wände und Dinge werden dann beim Betrachten halb durchsichtig, wie 2006 die Würfel in der Choreografie »Koko Doko«. Es geht um Öffnungen echter und virtueller Türen und Fenster. Licht und Luftzug: Der Sinn, den man erkennt, beruht auf den Phantasien, die »Ludica« in Bewegung versetzt. Ohne zu belehren oder bloß Hübsches zu liefern. Die Tiefe sei ihnen wichtig, betont Nardi. Er meint den Inhalt, die künstlerische Komplexität; aber Tiefe braucht auch jeder Raum. Immer fragen sie nach dem Hier: dem Menschen an seinem Platz. »Der Tanz steht nicht im Mittelpunkt«, weder ein Stil noch Virtuosität, sondern »der Körper folgt dem Bewusstsein«, also der Idee, dem Thema.
Für das neue Stück, »Anmerkung 134«, das sich Pier Paolo Pasolini widmet, hat Nardi, zunehmend beeindruckt, alles von PPP gelesen, alle Filme angeschaut. Seine kompromisslose Kritik an der Konsum- und Mediengesellschaft und der 68-Revolution sei so hellsichtig gewesen und erkläre viel von der aktuellen Misere in Italien, die sich von anderen Ländern im Grunde nur darin unterscheide, dass sie theatralischer sei. »Doch wie stelle ich Pessimismus, Wut, Hoffnung dar und die Liebe Pasolinis zur vorindustriellen, fast mythischen Welt, die nicht mehr existiert?«
Die Zuschauer von »Anmerkung 134« werden den Raum mit den drei Darstellern teilen, die Historie wird sich mit dem Heute verschränken, das Symbol der Beständigkeit, ein Kreuz aus Lichtbalken, wird mit der Ziellosigkeit der mobilen Minibildschirme kontrastiert, so wie die gesichtslosen, gleichgemachten Menschen mit Individuen aus Fleisch und Blut.
Zu seiner Heimat Italien hat Nardi, Jahrgang 1963, immer Kontakt gehalten. Die Frage nach der Identität und dem Platz eines Menschen ist eben auch eine ganz persönliche. Für den Tanz entschied er sich mit fünf Jahren, bei einer farbenfrohen Ballettaufführung. Mit neun Jahren begann für ihn der Unterricht, Ballett und viele andere Stilrichtungen, in Ascoli Piceno, Florenz, dann Cannes, während er zur Schule ging, Abitur machte, später Literatur, Philosophie und Kunstgeschichte studierte. Als Tänzer arbeitete er beim Fernsehen, in städtischen Theatern und freien Kompanien in Florenz, Bologna, Berlin, Köln, Düsseldorf. Das abgebrochene Uni-Studium setzt er auf seine Weise bis heute fort: »Ich kann kein Stück machen, ohne Texte aus Kunst, Literatur, Philosophie zu lesen. Mein Instinkt ist sowieso dabei, dieser kindliche Instinkt zu tanzen. Das andere, das ist die Recherche, die Motivation,
die Suche.«
Von 1995 bis 1998 gehörte Nardi der Gruppe NEUER TANZ an. In dieser Zeit lernt er viel von VA Wölfl über Kunst, macht sich dessen kritischen Blick aufs Tanzen und auf die Beliebigkeit der meisten Stücke zu eigen; doch er fürchtet auch seine Ausschließlichkeit. Eigene Stücke entwickelt er seit 2001 mit Naoko Tanaka. Nach dem Malereistudium in Tokio war sie 1999 an die Kunstakademie Düsseldorf gekommen. Mit »Von Rosen, da beißen sie ab« gewinnt das Duo seinen ersten Preis. Ein Mann und eine Frau tanzen auf und ab und scheinen die rohen Wände der Orangerie in Köln wanken zu lassen. Auf einem Monitor verfolgt man den Weg des Paars hinaus bis zum Auto. Doch plötzlich stehen sie wieder im Raum – im Widerspruch zum Kamerabild. »›Ludica‹ heißt spielerisch. Mit dem Einfachen Großes schaffen. Dem kindlichen Impuls zu folgen, läuft zwar Gefahr kitschig oder naiv zu werden, doch wir tun es trotzdem.«
Im »Orchideenzimmer« tragen zwei Tänzer Plastiktiermasken. Am Rand steht ein Modellhaus, dessen Innenraum genau dem geknickten Bühnenraum entspricht. Was die kleine Kamera dort drinnen aufnimmt und an eine der großen Wände projiziert, könnte also den Raum zeigen, in dem wir uns alle gerade befinden: an den Wänden winzige Gemälde, Vermeers Mädchen am Fenster. Auf dem Videoscreen erscheinen Wortspiele wie »ich rufe mich – je m’appelle« als Sprechblasen und die Mitspieler als Fotopappfiguren, dann ein Nachrichtensprecher. Immer steht etwas für etwas anderes, und ein Betrachter will und muss das durchschauen. Vor lauter Durchschauen findet der Blick keinen Halt mehr: ein wunderbarer Taumel und ein schrecklicher Verlust.
Das Mehrdeutige ist Ludicas Qualität. In dem 2003 uraufgeführten Stück »1,« über das Eigenleben des Schattens, huscht als Videoprojektion eine zweidimensionale Lichtfigur durch U-Bahnhöfe und Bibliotheken: ein Anti-Schatten. Ein Tänzer windet sich auf dem Bühnenboden wie ein halbflüssiges Wesen außerhalb seines Elements, blind und richtungslos. Die Körperform der gewinkelten Arme und Beine eines Flüchtenden ist wiederzuerkennen, als Nardi den Notausgang der Bühne öffnet – so wie auf Piktogramm über der Tür. »Des hommes« 2005 spielt auf Saint Exupéry an, die Welt eines Fliegers, eines Mannes mit motorhafter Unruhe: zwischen oben und unten, Wüstenweite und heimeliger Enge eines Zelts.
»Koko Doko« heißt übersetzt: Wo ist hier? Ludica recherchierten hierfür über altjapanische Philosophien der harmonischen Architektur. Im weiß ausgehängten Raum spielen sie mit Licht und Schatten. Figuren erscheinen durch Vorhangritzen und verschwinden. Eine Frau setzt sich vors Gebläse eines Ventilators, der ihr Drahtschatten aufs Gesicht wirft. Ein Mann balanciert eine meterlange Holzlatte auf dem Scheitel. Wie ein Bilderbuch, das endlose schwebende Geschichten vom Hiersein und Fortsein erzählt. Wer Phantasie hat, braucht nicht aus dem Haus zu flüchten, um etwas zu erleben.
Uraufführung von »Anmerkung 134« am 27.3.2008 im tanzhaus nrw, Düsseldorf; weitere Termine am 28 und 29.3.2008; sowie am 1. und 2.4.2008 in der Brotfabrik, Bonn