Bücher über Bücher. Eine Wand hinauf. Zwei, immer weiter. In Martin Baltscheits Düsseldorfer Altbauwohnung gibt es viele Geschichten. Nicht nur auf Papier. Auf dem Schrank im Flur liegen geheimnisvolle Überseekoffer. Über der Eingangstür trägt ein ausgestopfter Fuchs Sattel und Trense. An den Wänden hängen bemalte Buchdeckel mit geschminkten Nilpferden oder Wildschweinen bei der Gartenarbeit. Hier lebt der Kinderbuchautor mit drei seiner vier Kinder, mit den Zwillingen Ben, Theo (10), der dreijährigen Flora und seiner Frau Christine Schwarz, die auch mit ihm Geschichten erfindet, wie zuletzt »Gold für den Pinguin«. Baltscheits »Geschichte vom Löwen, der nicht schreiben konnte« ist sein bekanntestes Bilderbuch. Und trotzdem dürfte es keinen zweiten deutschen Kinderautor geben, der so viele verschiedene Kanäle nutzt. Martin Baltscheit schreibt nicht nur Texte, die auf Papier gedruckt werden, sondern auch Hörbücher, Bühnenstücke und zuletzt das Drehbuch für seinen ersten Kinofilm. Vor einigen Monaten kam seine erste App heraus. Warum? Reicht das bloße Erzählen im digitalen Zeitalter nicht mehr aus?
Westkind: Herr Baltscheit, wo findet man heute noch gute Geschichten?
BALTSCHEIT: Da ist zum einen meine Familie und das tägliche Geschehen mit Freundschaften, Eifersucht, Krankheiten. Und dann gibt es das Philosophieren über Begriffe, die mich interessieren. Zum Beispiel das Thema »Ich«. Gerade arbeite ich mit Sandra Brandstaetter an einem Comic über eineiige Zwillinge, wie meine Söhne sie sind. Da geht es natürlich zentral um die Frage: Wie werden wir was wir sind? Denn mit den beiden habe ich ja sozusagen ein Lebend-Experiment in meiner eigenen Wohnung.
Westkind: Wenn die Geschichten immer noch im Alltag zu finden sind – warum gibt es dann nur so wenige gute Kinderbuchautoren?
BALTSCHEIT: Gute Frage. Ich habe eine ganze Zeit die Idee verfolgt, eine Akademie für Kinderbuchautoren zu gründen. Ich habe Illustration studiert und da viel gelernt – aber überhaupt nichts über das Erzählen. Das kam erst später auf Workshops, die die Filmstiftung uns Studenten bei amerikanischen Drehbuchautoren ermöglicht hat. Das war für mich wie ein Erweckungserlebnis. Ich hätte mir als junger Mensch sehr gewünscht, zu solch einer Schule zu gehen – schon als Zwölfjähriger. Denn all das, was ich konnte, wurde nicht gelehrt. Und all das, was ich lernen musste, konnte ich nicht.
Westkind: Sie haben schon als Zwölfjähriger Geschichten erfunden?
BALTSCHEIT: Ja.
Westkind: Und sie damals schon veröffentlicht?
BALTSCHEIT: Nein, um Gottes Willen, das wäre, als würde man sich als Dreijähriger tätowieren lassen. Du bist ja noch ein Lernender. Die Akademie ist nur eine Idee geblieben. Wir bräuchten 100.000 Euro, um so etwas zu starten.
Westkind: 2002 haben Sie einen Löwen erfunden, der heute ihre bekannteste Bilderbuchfigur ist – mit einem großen Wiedererkennungswert. Und doch sehen viele Ihrer Bücher immer wieder völlig anders aus. Warum?
BALTSCHEIT: Mein Stil verändert sich ständig und ergibt sich bei mir immer aus dem, was ich möchte, aber nicht hinkriege (lacht). Als ich angefangen habe, mit dem Löwen Trickfilme zu machen, musste ich dafür die Figur zerlegen. Heute verwende ich viele Elemente wieder. Damit überliste ich mich selbst, damit der Löwe der Löwe bleibt. Aber auch aus ökonomischen Gründen. Ich habe meinen Baukasten und meine Technik.
In diesem Jahr ist die vierte Geschichte mit dem Löwen erschienen. Seit 2002 hat er gelernt, zu schreiben, zu rechnen, zu schwimmen und zu kochen. Doch eines geändert hat sich nicht: Noch immer ist es die Löwin, die den Ton angibt. In seinem Arbeitszimmer zeigt Martin Baltscheit, wo die Löwen-Geschichten entstehen – mit digitalem Zeichenstift.
Westkind: Wie beginnt man eigentlich so ein Bilderbuch. Mit einer Zeichnung oder mit einem Text?
BALTSCHEIT: Bei Bilderbüchern schreibe ich erst den Text, habe aber im Hinterkopf schon das, was man vielleicht sieht. Wenn ich mit anderen Illustratoren arbeite, kriegen die von mir immer ein Manuskript, wo die Bilder vorgeschrieben sind. Sie sind dann zwar frei, etwas zu verändern, aber der Witz bei einem Bilderbuch liegt ja in der Dualität – wie verzahnen sich Texte und Bilder? Da liegt die Spannung drin, aber auch das ganze Glück und die ganze Kunst. Das ist wie bei einem Song: Der Text kann schon gut sein, aber nur wenn er sich mit der Musik verheiratet – dann bekommen die beiden auch Kinder (lacht).
Westkind: Zuletzt haben Sie eine Löwen-App auf den Markt gebracht. Hatten Sie das Gefühl, damit auch neue Erzählweisen zu nutzen?
BALTSCHEIT: Eigentlich nicht. Der Sprung von meinem Buch »Nur ein einziger Tag« zum gleichnamigen Kinofilm war viel größer. Bei der App haben wir nichts anderes gemacht, als eine ansprechende Grafik auszuwählen, mit dem Löwen einen sympathischen Helden loszuschicken und coole Sprüche zu erfinden.
»Warum liest du kein Buch oder schreibst Briefe?«, fragt der Löwe in Martin Baltscheits App seine Nutzer – die Stimme dazu kommt vom Autor selbst. 20 Minuten lang geht es in seinem »Lese- und Schreibabenteuer« durch ein Abenteuerland. Denn die Löwin will von ihrem Liebsten wieder mal Post bekommen – dafür muss der Löwe erstmal einiges erleben. Zum Beispiel die Briefmarken einer Giraffe oder die Misthaufen anderer Tiere sortieren. Spielerisch werden dabei Buchstaben vorgestellt und zu Wörtern kombiniert.
Westkind: Ihre Löwen-App ist 2017 auf der Frankfurter Buchmesse als bestes Lernprogramm für Kinder zwischen vier und sechs Jahren ausgezeichnet worden. Dieses Jahr wurde sie für den Deutschen Computerspielepreis nominiert.
BALTSCHEIT: Ich war bei der Verleihung in München erschrocken, wie viel Geld dort ausgegeben wird. Dort wurden 560.000 Euro Preisgelder nur für Games verteilt. Ich mache seit 25 Jahren Bücher. Das höchste der Gefühle sind 10.000 Euro für einen Kinder- und Jugendliteratur-Preis. Klar arbeiten bei einem Game mehrere Leute mit. Aber bei einem Buch auch, was soll das?
Westkind: Halten Sie die Game-Förderung für falsch?
BALTSCHEIT: Ich finde, man muss sehr genau hinschauen, was da gefördert wird. Die Games-Industrie ist eine Milliarden-Industrie – sie zu fördern hat ökonomische Gründe, aber keine kulturellen. Viele Games sind Fast-Food hoch zehn. Alles, was wir in der Kultur tun, muss einen Sinn erfüllen. Ein Spiel, ein Stück, ein Buch muss mich inspirieren – mehr zu lernen, mehr aufzunehmen, zu wachsen. Und bei einem Game? Ich lache laut und dreckig über den Begriff E-Sports, das ist absurd. Das hat mit Sport nichts zu tun. Erst gar nicht mit Hirnsport. Auch wenn es hochintelligente Spiele gibt. Aber die sind in der Minderheit.
Westkind: Was haben Sie versucht, bei Ihrer Löwen-App anders zu machen?
BALTSCHEIT: Wir haben ein bisschen Literatur ins Spiel gebracht. Es nicht zu flach und nicht zu billig zu machen. Dafür haben wir nichts Neues erfunden, das haben wir vor 20 Jahren bei den ersten Computerspielen auch schon so gemacht.
Westkind: Ihren Löwen gibt es auch als Tonie-Figur, mit der man Ihre Geschichten als Hörbücher entdecken kann.
BALTSCHEIT: Diese Tonie-Boxen sind ein Glück, weil sie das Geschichtenhören wiederbelebt haben. Wir haben inzwischen 200.000 solcher Boxen verkauft. Das heißt, 200.000 Menschen hören Geschichten mit meinem Löwen.
Westkind: Ihr Buch »Nur ein einziger Tag« war sehr erfolgreich. Warum musste es dann auch noch verfilmt werden?
BALTSCHEIT: Ein Buch ist immer wie ein Autor, der sich zu dir auf den Schoß setzt. Aber wer hat gerne beim Filmegucken jemanden auf dem Schoß sitzen, der so nah ist und einem die Welt erklärt?
Martin Baltscheit hält sich die Hand vor die Stirn.
Es hat mich gereizt, dass Familienentertainment eigentlich so funktioniert: Es wird im Wort alles erklärt. Es wird im Bild alles gezeigt. Dazu gibt es Musik, die das Gefühl noch einmal verstärkt. Das ist Erzählen für Idioten. Ich aber wollte, dass die Zuschauer in diesem Film selber denken müssen. Daher war für mich auch klar, dass ich keinen Trickfilm machen will, sondern einen Film, in dem Tiere von Menschen gespielt werden.
In »Nur ein einziger Tag« wird die Geschichte einer Eintagsfliege (gespielt von Karoline Schuch) erzählt, in die sich Fuchs und Wildschwein (Aljoscha Stadelmann und Lars Rudolph) verlieben. Und ihr zunächst verschweigen, dass sie nur 24 Stunden zu leben hat. Mimik, Gestik und Geschichten machen klar, wer welches Tier ist – und keine Requisiten wie Schweinenasen oder Fuchsschwänze. Das war zunächst ein Problem: Baltscheits schön inszenierte Kinoproduktion, die das Leben feiert, fand zunächst keinen Verleih.
Westkind: Haben Kinder Probleme damit, den Film zu verstehen?
BALTSCHEIT: Nein, die verstehen die Zusammenhänge sofort. Aber es gibt Stellen im Film, über die sie viel diskutieren. Zum Beispiel über die Szene, in der sich die Männer küssen. Das meine ich mit Inspiration! Ich wollte, dass es in der Geschichte Gesprächsanlässe gibt.
Westkind: Gute Geschichten produzieren also Diskussionen. Aber ist das Erzählen an sich durch immer neue technische Möglichkeiten anders geworden?
BALTSCHEIT: Nein, denn die Menschen haben sich nicht darin geändert, was sie fühlen, wollen und sind. So sind auch die Grundprinzipien einer guten Geschichte oder eines guten Witzes immer noch gleich: Du hast immer einen Held, der hat immer ein Problem. Und das muss gelöst werden. Literatur beginnt dann, wenn die Sprache so schön wird, dass es gar nicht mehr so wichtig ist, ob oder wie der Held überlebt, sondern nur, wie das alles erzählt wird.
Westkind: Aber wie schafft man es, Kinder für ein Bilderbuch zu begeistern, wenn Apps, Videos und Games viel lauter schreien?
BALTSCHEIT: Früher hab ich immer gesagt: Wir müssen einfach immer besser sein als all diese Apps, Videos und Games – das kannst du aber gar nicht. Stell dir vor: Dein Kind hat Hunger. Da ist der Bioladen, mit den gesunden Früchten. Da ist der Eisladen und McDonalds. Wenn du dein Kind entscheiden lässt, dann geht es erst zum Eisladen, dann zu McDonalds und wenn es dann beim grünen Apfel ankommt, sagt es: Ich kann nicht mehr. Ich bin satt. Die Kinder werde sich immer den größten Spaß aussuchen. Früher war der einfach nicht andauernd zu haben – das ist heute das Problem. Daher ist es so wichtig zu sagen: Kein iPad. Kein Fernsehen. Heute gehen wir raus. Und danach lesen wir ein Buch.
Westkind: So gibt es im Hause Baltscheit nichts als Bücher…
BALTSCHEIT: Natürlich nicht. Die Kinder sollen auch den Umgang mit den digitalen Medien lernen. Aber es gibt für die Jungs drei Stunden iPad-Zeit in der Woche. Mehr nicht. Die Kinder sollen rennen, was erfinden, was bauen. Kinder erfahren die Welt über ihren Körper – das ist total wichtig. Und die Entwicklung des Gehirns ist maßgeblich davon abhängig, womit wir es fördern und fordern. Deshalb lesen wir mit Flora jeden Abend Bilderbücher und die Jungs lesen Comics.
Westkind: Die Zeit der Bilderbücher ist also nicht vorbei?
BALTSCHEIT: Das ist so als ob du fragen würdest: Ist die Zeit des Breis für Kinder vorbei, seitdem wir nun molekular kochen können – natürlich nicht!