Dass der Mensch im Ausnahmezustand einer Extremsituation immer noch eine Entscheidung hat (und koste es die eigene Existenz), davon weiß das Leben – und erzählt das Kino. So auch der soeben angelaufene, seinem Gegenstand nicht gewachsene Film über die Jüdin »Stella« Goldschlag, die zur Greiferin für die Gestapo wird und andere Juden verrät, nachdem sie verhaftet, ins Lager verbracht, mit Drohungen gegen sich selbst und ihre Eltern willfährig gemacht und gefoltert wurde. Sie sagt Ja. Andere sagen Nein. Andere haben anders entschieden: Oskar Schindler etwa, der Attentäter Georg Elser, die Widerständler um die Geschwister Scholl oder die Gruppe Rote Kapelle. Auch von denen hat das Kino erzählt.
Entscheidungen, die Leben oder Tod bedeuten können, werden heute akut an den Grenzen der Festung Europa getroffen. Ist da jemand Erfüllungsgehilfe oder folgt er seinem inneren Gesetz, das da lautet: Bis hierher und nicht weiter? »Nach Moskau, nach Moskau«, der Sehnsuchtsruf von Tschechows »Drei Schwestern«, hat längst einen anderen Vers und Klang: Nach Europa, nach Europa, so tönt es im Osten und Südosten und führt diejenigen, die ihn ausstoßen, an Grenzen, die wäldergrün sind oder blau wie die Todessee Mittelmeer, bewacht, abgeschottet, abweisend.
Eine davon ist die zwischen Belarus und Polen. Bashir (Jalal Altawil), seine Frau Amina (Behi Djanati-Atai) und ihre drei Generationen umfassende Familie vom Großvater bis zum Enkel aus dem syrischen Harasta schaffen es bis dorthin: mit Hoffnung im Herzen, einem Lachen im Gesicht und scheinbar von weißrussischer Willkommenskultur begrüßt; noch machen sie mit dem Handy Fotos, noch lebt in ihnen Erwartung. Aber das Bild des landenden Flugzeugs wurde schon zerschnitten von Stacheldraht. Ihnen gesellt sich eine afghanische Frau zu, die angesichts ihrer Familiensituation (ihr Bruder hat für die polnische Armee gearbeitet) mit besonderem Schutz rechnen dürfte. Die Gruppe ist auf dem Weg nach Malmö in Schweden, ohne Genaueres von dem Zielort zu wissen.
Die Widersprüche bleiben
Der Machthaber Lukaschenko und der Kriegsverbrecher Putin sammeln diese Flüchtenden, fliegen sie nach Minsk und schicken sie hinüber in die Europäische Union, um politische und soziale Spannungen zu provozieren und Belastungsfähigkeiten zu überdehnen. Nicht nur in Polen formiert sich Widerstand gegen die Asylsuchenden; in eben dem Polen, das Schauplatz der Massendeportationen durch die Nazis und des millionenfachen Mordes an den europäischen Juden war; dem Polen aber auch, das die Ukraine militärisch und gesamtgesellschaftlich bewundernswert stützt. Widersprüche, die sich nicht auflösen lassen.
Und die Agnieszka Holland nicht nur aushält, sondern zum dramaturgischen Nukleus ihrer hoch emotionalen, zornbebend appellativen Erzählung macht, die das Einzelschicksal ins Zentrum stellt, ohne analytischen Anspruch auf Grundsätzliches aufzugeben. Das unterscheidet diesen Film auch von ihrem Welterfolg »Hitlerjunge Salomon« von 1990, der für den Produzenten Artur Brauner eine letzte Herzensangelegenheit gewesen war.
In »Green Border«, gedreht im klassischen, Intensität verstärkenden Schwarzweiß, stellt noch die Partei Recht und Gerechtigkeit (PIS) die Regierung (bis zum heutigen Zeitpunkt noch den Staatspräsidenten). »Green Border«, der in der polnischen Heimat zur moralischen Instanz gereiften Regisseurin ebenso vehemente Ablehnung wie Zustimmung erhalten hat und auf dem Festival von Venedig mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde, zerlegt ihre Geschichte in verschiedene Perspektiven: des Leidens, der tätigen Mitmenschlichkeit, zögerlicher Furchtsamkeit und der brutalen Drohungen und Gewalttätigkeit gegen die Schwachen.
Der Korridor, das Sperrgebiet wird zur rechtlosen Zone, zum Fegefeuer, das nur Rückkehr in die Hölle kennt. Es gibt bei Agnieszka Holland böse Szenen und schreckliche Situationen, wenn etwa die Frierenden und Halbverdursteten eine Flasche Wasser für 50 Euro von einem Soldaten angeboten bekommen oder wenn eine Leiche auf die andere Seite ins Nachbarland geworfen wird, damit man selbst keine Scherereien mit den Toten habe. Die Indoktrination durch staatliche Institutionen, die Parolen und nationalistische Ideologie, die den Asylsuchenden ihr Menschsein abspricht, dekliniert sich herunter bis auf die ausführenden Organe, so dass eine mutige Frau wie die Psychotherapeutin Julia (Maja Ostaszewska) drangsaliert und eingeschüchtert wird, die sich einsetzt für die Schutz- und Wehrlosen. Und die damit auch Engagement beweist für ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen, das hier gerade seine Seele verliert. Bald sind die uns vorgestellten Menschen im Pushback-Verfahren wieder jenseits der ‚freien Welt’ und einer sicheren Zukunft.
»Green Border« ist so aufwühlend, beschämend und eindringlich, dass wir den Blick davon nicht abwenden können und dürfen. Nicht allein dem katholischen Polen, das sollen deutsche Stimmen mit Blick auf Hollands bittere Selbstbeschädigung bedenken und bekennen, möge das Christus-Wort aus dem Matthäus-Evangelium ins Bewusstsein dringen: »Was Ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern (und Schwestern), das habt Ihr mir getan.«
»Green Border«, Regie: Agnieszka Holland, Polen / F / B / Tschechische Republik,
147 Min., Start: 1. Februar