Einmal die ultimative Klangsäule unter die Kirchendecke bauen – vielleicht hat es tatsächlich Johann Sebastian Bach in einer stillen Stunde und hinter verschlossenen Pforten einmal gemacht. Nach außen gedrungen ist davon freilich nichts. Auch all die nachfolgenden Orgel-Pioniere müsste es eigentlich gereizt haben. Von einem weiß man hingegen, dass er diese Courage hatte: Wolfgang Mitterer, der von der österreichischen Kritik einmal als »Diabolus in musica« bezeichnete Orgel-Athlet. »Wenn man sich auf eine Orgel komplett drauflegt – das ist nicht atonal, das ist ein wunderbarer, mächtiger, großer Klang. Das traute ich mich als Kind nicht. Ich glaube, ich musste 18 werden, bis ich mich auf dieses Ding voll draufgelegt habe. Heute fällt mir das ganz leicht. Ich kann mich drauflegen und im nächsten Moment ganz etwas Anderes machen, ganz was Feines …«, sagt Mitterer. Zweifellos spricht aus diesem Ganzkörpereinsatz auch die kreative Lust an der überwältigenden Energie, die so typisch für Mitterer ist.
Wer den riesigen Werkkatalog des fast 50- jährigen Tirolers sichtet, stößt auf Titel, in denen das Elementare unverblümt angekündigt wird. Mit »Brachialsymphonie« ist sein Orchesterstück »Coloured Noise« untertitelt. Während ein Großprojekt für Waldarbeiter(!), Blaskapelle, Kinder, Frauen, Soprane und Tonbandzuspielungen »Horizontal Noise« heißt, taufte Mitterer eine Oper auf »Massacre«. Doch wenn Mitterer sich mit Armen und Beinen mal eben über die Orgelmanuale legt, ist das mehr als nur eine anthropozentrische Klanginstallation. Als Wanderer zwischen Komponiertem und Spontanem sind derartige Einlagen für den Organisten Mitterer zugleich die knappste Form der Improvisation, mit der er dem in jeder Orgel schlummernden individuellen Ur-Akkord für einen flüchtigen Augenblick Gestalt geben kann. Ob nun an der Orgel in einer Bergkirche oder im Wiener Stephansdom – seine musikalischen Schöpfungsakte sind nie für die Ewigkeit gemacht. Das Unvorhersehbare, das Unerwartete ist für Mitterer entscheidend; der Zuhörer kann und soll etwas erleben. Mitterer ist deshalb zu einem wahren Jäger und Sammler von Ideen geworden. Für diesen Tonerfinder ist die Klangund Stilskala nach oben hin grenzenlos. Avantgarde- Jazz, Volksmusik und Drum’n Bass sind nur einige Artikulationssplitter im Mitterer-System, in dem er es oftmals »ordentlich krachen« lässt. Für seinen »Turmbau zu Babel« sollen 4.200 Sänger, 22 Schlagwerker und 40 Blechbläser Platz nehmen. Bei dem vor sieben Jahren bei den Tiroler Festspielen in einem Steinbruch uraufgeführten »Vertical Silence« wurden DJs, Opernsänger, die örtliche Feuerwehr, ein LKW und Motorsägen engagiert und besorgt. »Was ich insbesondere interessant finde«, so Mitterer, »ist die Mischung von traditionellen Instrumenten und Elektronik, weil man mit der elektronischen Klangerzeugung in noch viel verrücktere Welten kommen kann. Was vielleicht auch dem Zuhörer zu einem unmittelbareren Hörgenuss verhilft, da er keine Begriffe und Parameter hat für das, was da auf ihn zukommt.«
Bei aller Technik-Begeisterung, die ihn seit 1984 gepackt hat und die seitdem immer auf den neuesten Stand gebracht wird, achtet er darauf, dass die Samples, Beats und Sounds sich nach Mitterer und nicht nach »gediegener Wiener Kaffeehauselektronik« anhören. Was das Miteinander von Orgel und Elektronik angeht, ist für ihn der Idealfall dann eingetreten, wenn beide Klangsprachen sich zu einer elektro-akustischen Einheit verbinden, bei der man sich fragt: Hört man jetzt die Orgel oder das digitale Equipment? Wenn Mitterer zwischendurch – wie in Düsseldorf – Bach’sche Präludien in unverfälschter Reinform einstreut, ist das nicht nur eine Referenz an die musikalische Sozialisation des ausgebildeten Kirchenorganisten. Da auch »Bach die Stimmung seiner Instrumente verändert und ganz neue Tonarten ausprobiert hat«, ist der visionäre Tüftler Mitterer der Tradition näher, als man zu hören glaubt. //
Wolfgang Mitterer: Mixture für Orgel und Electronics; 9.9. Johanneskirche, Düsseldorf; www.altstadtherbst.de