Der »Sprayer von Zürich« war über Jahrzehnte im Rheinland zu Hause. Bevor Harald Naegeli letztes Jahr heimkehrte in die Schweiz, hat er reichlich Abschiedsgeschenke verteilt. In Bonn, Köln, Düsseldorf. Auch das Museum Schnütgen wurde mit gut 100 Zeichnungen bedacht und macht sie nun zum Gegenstand umfangreicherer Forschungen. Im kommenden Jahr soll es dazu auch eine Ausstellung geben, die Naegelis spannende Frühzeit in Köln beleuchtet – als die Street Art noch am Anfang stand.
Ziemlich blass schaut es aus, das Tödlein an der Kirchenwand. Aber immerhin ist der Knochenmann von Sankt Cäcilien geblieben, wurde nicht weggeputzt wie so viele von Harald Naegelis gesprayten Strichfiguren: Tanzende Gerippe und Augen auf Beinen, Totenköpfe und Urfrauen, Roboterkäfer und Sensenmänner. Allein in Köln hat man hunderte beseitigt. Der tanzende Tod an der Museumskirche indes ist sicher vor den Saubermännern, denn er steht längst unter Denkmalschutz. Und bot unlängst wohl auch den Anstoß für eine schöne Schenkung: Naegeli, vielleicht besser bekannt als »Sprayer von Zürich«, übergab dem Museum Schnütgen 2018 und 2020 ein Konvolut von gut 100 Zeichnungen – auf Papier, wie es sich gehört.
Um die Ecke am Hintereingang des geschlossenen Museums wartet bereits Erchen Wang, die sich als Forschungsvolontärin um den Neuzugang kümmert und drinnen auf einem Tisch einige Kostproben ausgebreitet hat. Kleine figürliche Zeichnungen finden sich darunter und ein paar großformatige Blätter der »Urwolke«. Ein Zyklus filigraner Federzeichnungen, an dem Naegeli seit einem Vierteljahrhundert kontinuierlich arbeitet. Auch jetzt noch, mit über 80 und schwerkrank, stehe er regelmäßig im Atelier, um die weißen Blätter mit einem Gewirr feinster Strichlein und Pünktchen zu füllen. Fast wie ein Kontrastprogramm zu den eiligen Sprayattacken im öffentlichen Raum wirkt diese meditative Feinarbeit im Privaten. Die »Urwolke« gleiche einem Tagebuch, so Wang, die den Künstler vor ein paar Monaten in Zürich besucht hat.
Ein weiter Weg – erst recht für Wang. Sie stammt aus China und hat dort ein Jurastudium abgeschlossen, bevor sie 2009 nach Deutschland kam und die Sprache lernte, um dann in Heidelberg Kunstgeschichte zu studieren. Für ihre Masterarbeit tauchte sie in den Widerstand ab und beschäftigte sich mit der inoffiziellen, oft regimekritischen Kunst in der ehemaligen DDR. Als sie sich nach dem Abschluss um ein Forschungsvolontariat des Landes NRW bewerben wollte, stieß sie erstmals auf Naegeli, der Wang auch als politischer Künstler interessiert. Im Museum Schnütgen soll sie sich nun zunächst einmal um die 100 Zeichnungen kümmern. Doch hat die junge Wissenschaftlerin ihren forschenden Blick längst in den Stadtraum geweitet – auf den spannenderen und kunsthistorisch sicher bedeutenderen Teil des Œuvres. Jene frühen Wandzeichnungen, die Naegeli als Pionier der Street Art auszeichnen. »Die Architektur ist sein Bildträger«, so Wang. »Und die Stadt ist seine Galerie.« Ohne Naegeli hätte es die britische Graffiti-Ikone Bansky wohl kaum gegeben.
Doch wie erforscht man Street Art? Wang sucht vor allem den Kontakt zu Zeitzeugen und studiert historische Fotos, die Naegelis frühes Wirken in Köln belegen. Nach vermummten Anfängen in seiner Züricher Heimat hatte der berüchtigte Sprayer 1980 und 81 zeitweise bei der kürzlich verstorbenen Kölner WDR-Journalistin Marianne Lienau Unterschlupf gefunden und war von ihrer Wohnung aus des Nachts mit der Spraydose losgezogen, um seinen »Totentanz« in Köln zu versprühen. Am Ebertplatz etwa, unter der Zoobrücke oder in der Tiefgarage der Musikhochschule tobte der Künstler sich damals aus und stand mitunter in einem regelrechten Wettstreit mit den städtischen Reinigungskräften, die kaum nachkamen mit dem Putzen. Was länger blieb, wurde von dem Naegeli-Freund und Fotografen Hubert Maessen abgelichtet und in einem kleinen Bildband veröffentlicht.
Einen weiteren Schatz hoben die Naegeli-Forscher vom Museum Schnütgen im Archiv des Kölner Hausarztes Wilhelm Siepe, der in den 1980er Jahren auf eigene Faust losgezogen war, um die Hinterlassenschaften des Sprayers in Köln zu suchen und in wunderbaren Fotos festzuhalten. Anfang 2022 sollen Wangs Forschungen und einige von Siepes Bilder in eine große Ausstellung einfließen. Bis dahin hält Wang die Augen offen. In Köln lasse sich bestimmt noch manch ein Original finden, vermutet die Kunsthistorikerin, sicher sei noch nicht alles entdeckt. Vor allzu eifrigen Reinigungsaktionen sollte man darum etwas genauer hinschauen. Und erkennt dann vielleicht Naeglis charakteristische Handschrift. Mit seinen Bildern wollte er der von ihm als unmenschlich empfundenen Architektur der 1960er und 1970er Jahre etwa Menschliches geben. »Der sanfte, weiche Strich erzeugt auf dem brutalen Beton eine zauberhafte Poesie«, erklärte der Künstler einmal.
Nicht groß und bunt und laut, sondern subtil setzte und setzt er seine zeichnerischen Spuren. Sekundenschnell, und doch genau auf den Ort abgestimmt erscheinen Naegelis Gestalten. Wenn sie in Ecken kauern oder Mauern entlang huschen. In Köln und noch viel öfter in Düsseldorf, wo der Schweizer Mitte der 1980er Jahre seine Wahlheimat fand. Gelockt wohl auch von Joseph Beuys, der ihm ein großer Fan und guter Freund gewesen ist. Über 30 Jahre lebte Naegeli in Düsseldorf, sprayte bis zuletzt. Was ihm immer wieder Ärger einbrachte. 2019 erst saß er vor Gericht – wegen zwei Flamingos an der Fassade der nordrhein-westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.
Der Künstler nahm es den Nordrhein-Westfalen nicht übel. Bevor er 2020 heimkehrte nach Zürich, ließ er jede Menge Abschiedsgeschenke hier. Neben dem Museum Schnütgen freuten sich etwa das Stadtmuseum in Düsseldorf und das Bonner Kunstmuseum über zeichnerische Konvolute. Auf dass die rheinische Naegeli-Forschung auch in den kommenden Jahren noch etwas zu tun hat. Und der »Sprayer von Zürich« auch am Rhein nicht so schnell in Vergessenheit gerate.
Museum Schnütgen
»Harald Naegeli in Köln«
9. März bis 12. Juni 2022