Fast übersieht man sie in der Bochumer Innenstadt. Neben dem massigen Rathaus steht die Christuskirche etwas von der Straße zurückgesetzt, davor ist ein kleiner Platz, an dessen Rückseite sich der neugotische Glockenturm erhebt. Das eigentliche Kirchenschiff aber duckt sich dahinter fast weg. Seine etwas aus der Achse gekippte, niedrige Backsteinfassade mit dem kleinen Kupferportal wirkt unscheinbar.
Die Christuskirche ist ein Gotteshaus ohne Gemeinde, aber mit einem Pfarrer. Thomas Wessel hat mit Mut und Ideen ein kulturelles wie geistiges Zentrum geschaffen. Seine Kirche ist offen für verschiedenste Veranstaltungen, sie wurde schon als theatrales Gesamtkunstwerk inszeniert, bietet der Bochumer Stadtkantorei, dem ChorWerk Ruhr und erstklassigem Jazz Raum. Regelmäßig wird es außerdem laut, wenn Alternativ-, Wave- und Metal-Bands ihre Botschaft vom Altarraum herunter schmettern.
Basis für diese Nutzung findet Wessel direkt in der protestantischen Theologie, in der ein Gottesdienst dadurch geprägt sei, dass eine Gemeinde sich versammelt, um der Verkündung einer Botschaft zuzuhören. Die muss seiner Ansicht nach nicht von einem Pfarrer stammen, sondern kann auch genauso zu verstärkten Gitarren ins Mikro gegrölt werden. Peter Murphy und Ray Wilson haben hier schon gespielt, das slowenische Kunstkollektiv Laibach und die Mülheimer Horror-Jazzer »Bohren und der Club Of Gore«. Aber auch Ute Lemper, Konstantin Wecker und Bugge Wesseltoft. Sie alle mussten im Vertrag unterschreiben, dass Kreuz und Bibel gut sichtbar am Altar sind. Es bleibt ein Sakralraum.
War Egon Eiermann im Spiel?
So protestantisch zurückhaltend die Kirche nach außen ist, so spektakulär ist ihr Innenraum. Die Sichtbetondecke ist kristallin gefaltet und scheint durch eine Schattenfuge fast über den Backsteinwänden zu schweben. Durch die farbigen Fenster in den Seiten führt indirektes Licht auf den Altar hin. Dass die Christuskirche weltweit als Ikone des Nachkriegsarchitektur gilt, hängt auch mit einem Mythos zusammen: Der Architekt Dieter Oesterlen hatte sich entschieden, nur das kriegszerstörte Kirchenschiff abzureißen, den Turm jedoch als Mahnmal stehen zu lassen. Zeitgleich mit den Bauarbeiten war zwischen 1957 und 1959 Egon Eiermanns Ruhrkohlehaus in Essen entstanden. Es ist also durchaus möglich, dass er Oesterlens Bau kannte und nicht ausgeschlossen, dass sein Entwurf für die weitaus berühmtere Gedächtniskirche in Berlin auf der Idee Oesterlens basierte. Belegbar ist diese Vermutung allerdings nicht.
Seit 2015 ist die Christuskirche auch Teil eines Kunstwerkes. Im Turm befindet sich eine Gedenkhalle von 1931 für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Bochumer –samt einer Liste der damaligen Feindstaaten. Ausgehend davon entwickelte der Konzeptkünstler Jochen Gerz den »Platz des europäischen Versprechens«. Auf seinem Boden sind in Steinplatten 14.726 Namen eingelassen. Von Menschen, die für Europa eintreten. Auch wenn ihre dazugehörigen Statements nicht öffentlich in einer Datenbank gespeichert sind, so bürgen die Namen von Prominenten und weniger Prominenten doch sichtbar für Frieden und ein Miteinander – wenige Meter von der revanchistischen Erinnerungskultur der 30er Jahre entfernt.
Und noch etwas macht die Christuskirche einzigartig: Ihre Glocken läuten nur an einem Tag im Jahr. Nicht an Weihnachten oder Ostern, sie rufen nicht zu einem Gottesdienst, sondern zum Gedenken. An jedem 11. September zwischen 14.46 und 15.03 Uhr sind sie zu hören. In genau der Zeit, in der die Flugzeuge in das World Trade Center in New York einschlugen. Als Erinnerung an die Opfer und zur Mahnung für jeden Menschen, gegen Terror einzustehen.