TEXT: GUIDO FISCHER
Als die Wittener Tage für neue Kammermusik 1969 zum ersten Mal veranstaltet wurden, ging Festivalleiter Wilfried Brennecke sogleich in die Vollen, um die kammermusikalische Grenzwerte nach oben zu verschieben. Ein Werk für klassisches Streichquartett gab es zwar auch. Aber schon mit elektrisch manipulierten Blockflöten sowie vokalen Atem-Improvisationen wurden gängige Vorstellungen von Kammermusik brüskiert. Seit 1990 ist Harry Vogt der Nachfolger Brenneckes. Dank ihm ist das dreitägige Festival zur noch größeren Spielwiese für namhafte und talentierte Komponisten und Soundtüftler geworden. Vogt hat rund um das Ruhrgebietsstädtchen auch neues Aufführungs-Terrain entdeckt und zu tönenden Freiluft-Exkursionen eingeladen. 2009 etwa beschallte man das Naherholungsgebiet Hohenstein; 2011 lud Manos Tsangaris beim Klang-Parcours »Ruhr-Musik« zur musikalischen Bootsfahrt ein.
Auch 2013 ist der Kagel-Schüler wieder mit dabei, wenn gemäß dem Motto »wittendrin« mit Performances und Installationen das Stadtzentrum erkundet wird. So verwandelt Tsangaris für sein Stück »Mauersegler« eine Straßenbahn in einen mobilen Klangkörper. Der Franzose Georges Aperghis mischt sich mit seinem Mini-Musiktheater-Werk »Retrouvailles« unter die Passanten. Matthias Kaul baut einen »KlangTÜV«-Stand auf, bei dem er in der Tradition der Musique Concrète-Pioniere Pierre Henry und Pierre Schaeffer Haushaltsgegenstände auf ihre klanglichen Qualitäten hin begutachtet.
Neben diesen interaktiven Open-Air-Uraufführungen bietet die 45. Ausgabe wieder zahlreiche Konzerte, die den einfachen Zuhörer auf den aktuellen Stand der Kammermusik bringen. Dafür spricht allein die Zahl von mehr als 20 Ur- und Erstaufführungen, die in hohem Maß der WDR über Kompositionsaufträge möglich macht. Die ganz großen Namen der Neue Musik-Szene mögen im Hauptprogramm bis auf Ivan Fedele und Bernhard Lang fehlen. Dafür meldet sich im Eröffnungskonzert mit Karlheinz Stockhausen eine Lichtgestalt der Moderne zurück. Hinter »Plus Minus Stockhausen« verbirgt sich eine Annäherung an ein von ihm 1963 eher abstrakt konzipiertes Werk, das zu den unterschiedlichsten Annäherungen und Neuschöpfungen einlädt. Steffen Krebber wird dafür die Musik aus Papua-Neuguinea anzapfen. Während Robin Hoffmann und Annesley Black in ihrer Gemeinschaftskomposition »Guru« neben Stockhausen ebenfalls der Computer-Ikone Steve Jobs huldigen.
Der gebürtige Bielefelder Hoffmann und die Kanadierin Black haben noch einen zweiten Termin. Im Wittener studentischen »unikat(club)« treffen sie auf ihren Komponistenkollegen Dieter Ammann, mit dem sie in Duo- und Trio-Sets improvisieren. Der Schweizer Ammann, diesmal so etwas wie der Wittener Composer in Residence und Schüler u.a. von Detlef Müller-Siemens ist eine Doppelbegabung. In der heimischen Jazz-Szene hat er mit Fachkräften wie dem Schlagzeuger Fredy Studer zusammengearbeitet. Parallel entstand ein umfangreiches Werk, das gleichermaßen seine Vorliebe für unmittelbar den Hörer anspringende Klänge widerspiegelt und von Pierre Boulez gefördert wurde. In Witten präsentiert sich Ammann zweigleisig. Als Trompeter und vor allem als Komponist eines neuen Streichquartetts sowie eines für Carolin Widmann geschriebenen Violin-Kammerkonzerts. »Alles ist so frisch«, begeisterte sich Wolfgang Rihm für Ammanns Musik: »Keine Sekunde Leerlauf, alles lebendig und im schönsten Sinne durchwachsen von Kraftlinien, die auch dann kräftig bleiben und ununterbrochen, wenn sie in widersprüchliche Richtungen zielen.« Das Lob trifft nicht nur auf Ammann zu, sondern gilt ebenso für die Wittener Tage für neue Kammermusik.
26. bis 28. April 2013; www.wittenertage.de