Was bedeutet »Alter« eigentlich genau? Und warum sollte kulturelle Bildung für Senioren anders aussehen als für junge Menschen? Ein Gespräch mit Almuth Fricke, der Leiterin des Kompetenzzentrums für Kulturelle Bildung im Alter und inklusive Kultur (kubia) in Köln, das Kultureinrichtungen, Politik und Wissenschaft berät und mit Fortbildungen und Publikationen unterstützt.
kultur.west: Frau Fricke, was verstehen Sie eigentlich genau unter »Alter«?
FRICKE: Jedenfalls keine kalendarische Kategorie wie 50plus oder 60plus. Alter ist eine Lebensphase, die bei verschiedenen Menschen ganz unterschiedlich einsetzt. Das kann viele Gründe haben, berufliche wie private. Für die einen ist es das Ende der Familienphase, wenn die Kinder aus dem Haus gehen, bei den anderen hängt es mit Einschränkungen gesundheitlicher Art zusammen.
kultur.west: Und was ist in diesem Zusammenhang kulturelle Bildung?
FRICKE: Vor allem lebenslanges Lernen. Viele fangen im Alter noch mal an, ein Instrument erlernen, in einen Chor zu gehen oder in einer Gruppe netter Leute Theater zu spielen. Es kann aber auch eine Mischform aus eigener Aktivität und Rezeption bedeuten, also beispielsweise ins Museum zu gehen und dort dann nicht nur kunsthistorisches Wissen vermittelt zu bekommen, sondern in eine Führung einbezogen zu werden, also eigenes Wissen einbringen und dadurch in den Dialog treten zu können. Und es kann der einfache Theater- oder Kinobesuch sein, auch mit Gleichgesinnten. Wir verstehen jede Form von Rezeption, vor allem aber die aktive Teilhabe an Kunst und Kultur als Kulturelle Bildung.
kultur.west: Kulturelle Bildung für ältere Menschen nennt man heute Kulturgeragogik. Warum ist das eine eigene Disziplin?
FRICKE: Was unterscheidet einen Kinderarzt von einem Geriater? Man hat es mit Lernen in einer anderen Lebensphase zu tun. Man lernt im Alter nicht mehr so schnell, kann dafür auf viel Wissen zurückgreifen und Dinge besser einordnen.
kultur.west: Welche Fragen stellen sich da wissenschaftlich wie bildungspraktisch?
FRICKE: Was heißt es zum Beispiel, wenn ein Mensch in eine Demenz geht: Kann man da noch was lernen, sich noch verändern und entwickeln? Wie gestalte ich ein Tanzangebot für jemanden, der an Parkinson erkrankt ist? Welches Lehrmaterial ist gut, wenn ich mit einem Chor von 70-Jährigen arbeite? Was muss ich da über die Stimme wissen, wie verändert die sich im Alter? Was ist physiologisch anders und was heißt das für die musikalischen Arrangements? Das sind alles Facetten der Kulturgeragogik. Wir setzen uns dafür ein, dass das immer mitgedacht wird, zum Beispiel im neuen »Gesamtkonzept für Kulturelle Bildung« des Landes NRW oder im Kulturrat NRW, wo ich Sprecherin für Spartenübergreifende Kultur und Soziokultur bin.
kultur.west: Gibt es eigentlich Unterschiede zwischen Kultureller Bildung für Frauen und Männer?
FRICKE: Jedenfalls nehmen deutlich mehr Frauen solche Angebote wahr als Männer. In den Theaterensembles von Älteren, die es in NRW zuhauf gibt, haben wir ein Frauen-Männer-Verhältnis von etwa 70 zu 30. Deshalb hatte der Fonds »Kulturelle Bildung im Alter« des Landes, der jedes Jahr etwa 100.000 Euro an rund zehn Projekte verteilt, auch schon mal den Schwerpunkt »Männer«. Bei kubia haben wir dazu geforscht und im Rahmen unserer Publikation »Kulturräume« ein Männer-Heft gemacht.
kultur.west: Welche Zielgruppen sind darüber hinaus von Bedeutung?
FRICKE: Da sind zum Beispiel die sogenannten fitten Alten, die ganz eigene Kulturbedürfnisse haben, sich aber oft selbst organisieren. Während andere Menschen aus derselben Generation aus irgendwelchen Gründen wenig oder nie Berührung mit Kultur hatten. Die können fast nur durch Angebote erreicht werden, die aktiv auf sie zugehen, und dann finden die nicht nur Geschmack daran, sondern mitunter sogar einen neuen Sinn für ihr Leben.
kultur.west: Ein Schwerpunkt von kubia sind Fortbildungen. Was wird besonders nachgefragt?
FRICKE: Vor allem Angebote zu kreativen Methoden in der Arbeit mit Menschen mit Demenz. Das ist ein Riesenthema, weil mittlerweile deutschlandweit rund 1,5 Millionen Menschen eine Demenz haben. Weniger gut laufen im Vergleich unsere Kurse zur kreativen digitalen Arbeit, da müssen wir viel Überzeugungsarbeit leisten. Dabei ist das so ein wichtiges Feld, denn künstlerisch-kulturelle Mittel sind immer auch gute Lernanlässe, um sich beispielsweise im höheren Alter nochmal mit neuer Technik vertraut zu machen. Und es wäre doch schön gewesen, wenn während der Pandemie Menschen in Seniorenheimen ihre Familien wenigstens auf digitalem Wege hätten sehen können.
kultur.west: Was weiß man über die Wirkung von kultureller Aktivität und Teilhabe generell?
FRICKE: Für den Bereich von Demenz ist gut erforscht, dass die Teilnahme an Projekten der Kulturellen Bildung großen Einfluss hat auf das Wohlbefinden und die soziale Eingebundenheit älterer Menschen. Eine Langzeitstudie aus den USA belegt auch, dass Kulturelle Bildung oft wirksamer ist als jedes Medikament, gerade bei Einsamkeit, Altersdepression oder psychischen Erkrankungen. In Großbritannien und Kanada gibt es sogar Social Prescribing: Da bekommen psychisch beeinträchtigte Menschen auf Rezept jemanden an die Seite gestellt, der Kunst- oder Kulturangebote vermittelt und sie dabei begleitet.
kultur.west: kubia gibt es bald 15 Jahre, den Studiengang Kulturgeragogik seit 2011, der Förderfonds des Landes ist etabliert. Was möchten Sie noch für die Kulturelle Bildung im Alter erreichen?
FRICKE: Dass ich Kulturgeragogik nicht mehr buchstabieren muss. Vor 20 Jahren waren auch Theater- und Museumspädagogik keine Selbstverständlichkeit – heute kann sich keiner mehr leisten, das nicht zu tun. Genauso würde ich mir wünschen, dass in zehn Jahren wirklich altersoffen gedacht wird und Kulturelle Bildung immer auf unterschiedliche Lebensalter zugeschnitten ist. Es gibt tolle Ansätze, in der Hochkultur wie in der Soziokultur, aber es muss selbstverständlich werden.
Zur Person
Die Literaturwissenschaftlerin und Kulturmanagerin Almuth Fricke hat das Kompetenzzentrum für Kulturelle Bildung im Alter und inklusive Kultur mitgegründet. Es entstand 2008 am Institut für Bildung und Kultur e.V., das bis 2019 an der Akademie für Kulturelle Bildung des Bundes und des Landes NRW angesiedelt war. Acht festangestellte Mitarbeiter*innen sind heute für kubia tätig, das Land fördert die Einrichtung aktuell mit einer halben Million Euro jährlich.
Das Magazin »Kulturräume« erscheint zweimal jährlich und ist auf der kubia-Webseite als PDF abrufbar oder als Printausgabe zu abonnieren.
Der alle zwei Jahre stattfindende »Fachtag Kunst- und Kulturgeragogik« in Münster befasst sich im November 2022 mit der Generationenzusammenarbeit in der Kulturellen Bildung.