Auf tortenstückförmigen Modulen räkeln sich Tänzerinnen in roter Unterwäsche wie im Nachtklub. Nein, sie sind weder Objekte noch Opfer, sondern selbstbewusst und emanzipiert. Unter den Modulen ziehen sie halbnackte Männer hervor. Ihre Duette werden zu Machtspielen – noch. Der Geschlechterkampf auf der Tanzbühne – eigentlich ist er auserzählt. Doch die Münsteraner Chefchoreografin und Direktorin Lillian Stillwell findet in »Sexes« einen neuen schlüssigen Zugang.
Zu Beethovens »Eroica« stellt sie hier den Idealen des in der Komposition gepriesenen, machtbesessenen Heldentums des 19. Jahrhunderts die Vision einer harmonischen Gemeinschaft entgegen. Hatte der Republikaner Beethoven doch im Mai 1804, als er von Napoleons Kaiserkrönung erfuhr, zornig seine Widmung »für Bonaparte« auf seiner »Eroica« zurückgenommen.
Gleich zu Beginn des Stücks steht ein Tänzer im Frack vor dem Vorhang und dirigiert schwungvoll Beethovens Exposition. Eine Tänzerin stößt dazu und gibt, hoch ambitioniert und deutlich emotionaler, den Takt vor. Diese beiden, Amanda Cruz Portuondo und Enrique Sáez Martínez, bilden das zentrale Paar mit On-Off-Beziehung.
Stillwell charakterisiert in einer Reihe fein choreografierter Tänze den Umgang der Geschlechter miteinander: kokett, konkurrierend, kämpferisch. So entstehen schöne bewegte Fresken. Es gibt neoklassizistische Anklänge in der Formensprache und später mit den historischen Uniformröcken auch bei den Kostümen. Verführung liegt in der Luft: Von sanfter Erotik sind die halbtransparenten Kleider über Tops und Slips, wie sie im Laufe des Abends auch die Männer kleiden. Lustvoll geht Sáez Martínez eine Reihe von Frauen ab und greift sich Cruz Portuondo zum Tanzen.
Das choreografische Material, ob Drehungen, Sprünge, Schritte – Stillwell treibt alles einen Tick weiter in einen hinreißenden, spielerischen Effekt. Nervig allerdings ist das immer gleiche Hin und Her zwischen Amanda Cruz Portuondo und Enrique Sáez Martínez. Auf starke Anziehung folgen Streiterei und ein hochnäsiger Abgang der Tänzerin – sie sucht nach einem anderen.
Souverän setzt die Chefchoreografin Solist*innen und Ensemble in Szene, auch über mehrere Ebenen gleichzeitig, wie es die Module aus Treppen und Podesten ermöglichen, wo Tänzer*innen zu Skulpturen »einfrieren«. »Sexes« ist ein Gesamtkunstwerk aus Tanz, Musik, Kostümen und Ausstattung. Es gibt Momente, da meint man, die Choreografie sei zu anspruchsvoll für die sehr junge Truppe – wobei deren Vitalität technische Unsicherheiten ausgleicht.
Doch dann, in der »Sacre«-Version des international renommierten Edward Clug, wirkt die Kompanie gereift. Die nur 14-köpfige Gruppe agiert in Strawinskys Jahrhundertwerk technisch wie im Ausdruck souveräner. Die Interpretation orientiert sich an der Originalfassung, die das heidnische Ritual des Frühlingsopfers in Gestalt eines Mädchens thematisiert. Neben grandiosen choreografischen Einfällen – wie dem Federn im Liegestütz zum basso ostinato – fokussiert sich Clug auf die Kraft der Urgewalten. Wie Pina Bausch 1975 ihr Tanztheater Wuppertal auf Torf, Element Erde, barfuß agieren ließ, wählte er das Element Wasser. Aus Fontänen schießt es vom Bühnenhimmel.
Auf dem nassen Boden entstehen wunderbare Momente, wenn Tänzerinnen durch das Wasser schießen und gleiten oder wenn Männer an ihren Händen Tänzerinnen im Kreis durch das Nass ziehen. Wenn das Opfer (erneut stark gefordert: Amanda Cruz de Portuondo) sich im Regen zu Tode tanzt, bleibt niemand unberührt. Ein erstaunlicher Abend. Das Sinfonieorchester Münster unter der Leitung von Henning Ehlert hat daran hohen Anteil.
Bis 28. Juni 2024
Theater Münster