Die Toten Hosen werden 40. Das feiern sie mit dem Album »Alles aus Liebe«, auf dem ihre wichtigsten (neu arrangierten) Songs sowie einige (gelungene) neue Stücke zu hören sind. Zum Bandgeburtstag blickt Campino zurück – und voraus.
kultur.west: Campino! Der Trainer Ihres Lieblings-Fußballvereins Liverpool FC, Jürgen Klopp, hat in diesen Tagen über zu viele Spiele seines extrem erfolgreichen Clubs geklagt. Haben sich Die Toten Hosen jemals über zu viele Konzerte beschwert?
CAMPINO: Nicht offiziell. Aber es war gerade in den Anfangsjahren, als wir uns noch keine Versicherung leisten konnten, schon hart. Wenn wir dann 40, 50 Konzerte in zwei Monaten spielten, mussten wir auch schon mal mit Fieber auf die Bühne, weil wir eine Absage nicht hätten bezahlen können. Ich erinnere mich an Tourneen, bei denen der Tourmanager jeden Abend mit einem Schild in die Kabine kam, auf dem ein Countdown bis zum Ende der Tour stand. »Nur noch 10.« »Nur noch 9.« Wir sind dann wirklich auf allen Vieren über die Ziellinie gekrochen, denn wir haben ja als Band keine Ersatzbank. Wenn du einmal angeschlagen bist, musst du trotzdem raus. Und abends, nach den Konzerten, wenn die Leute gedacht haben: »Die nehmen jetzt gerade bestimmt wieder ein Hotelzimmer auseinander«, saßen wir manchmal einfach nur in irgendeinem Entmüdungsbecken und sahen aus wie die Resterampe aus der geriatrischen Abteilung beim Wassertreten.
kultur.west: …Musiker als Profisportler.
CAMPINO: Am Ende ist es schon sehr vergleichbar mit einer Sportmannschaft. Bei uns laufen Physiotherapeuten rum, die auf so einer Tournee gut beschäftigt sind und tapen und zusammenkleben, was zusammengeklebt werden muss. Denn es ist so: Du willst auf Tour gehen – und dafür topfit sein. Aber: Das Leben kracht rein. Immer. Die perfekte Vorbereitung werde ich nicht mehr erleben. Da liegen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander.
kultur.west: Ihrem Album zum Bandgeburtstag liegt ein sehr melancholischer Brief von Ihnen an die andere Bandmitglieder bei. Wird man nach 40 Jahren bei den Hosen zwangsläufig zum Melancholiker?
CAMPINO: Das sind Phasen, die immer schon in uns steckten. Klar: Mit Anfang 20, zu Zeiten von »Opel-Gang«, wollte man der Toughste von allen sein. Der, der am meisten aushält. Aber das ändert sich irgendwann. Ich denke, Melancholie ist ein tolles Gefühl und ein schöner Seelenzustand. Man muss nur aufpassen, dass man sich da irgendwann wieder rauszieht. Ansonsten bin ich unbedingter Befürworter der ganzen Bandbreite an Emotionen. Richtige Euphorie etwa kann nur dann entstehen, wenn du auch weißt, wie es ist, sich in einem tiefen Tal aufzuhalten.
kultur.west: Sie singen »70 ist das neue 60«. Sprich: Die Hosen werden älter. Stirbt die »Generation Stadionband« im Rock aus?
CAMPINO: Das weiß ich nicht. Letztlich sind die Rolling Stones ja sogar eine Generation über uns. Und sie machen das nach wie vor mit Würde. Aber tatsächlich geht es ja gar nicht darum, unbedingt eine Stadionband zu sein. Uns ist wichtig: Du gehst raus, spielst und gibst immer 100 Prozent.
kultur.west: Wie schwer ist das in Zeiten wie diesen?
CAMPINO: Wir leben in Zeiten der totalen Verunsicherung. Erst Corona. Dann kam der Krieg in der Ukraine. In solchen Momenten wollen die Menschen ihr ganzes Geld sicherlich nicht unbedingt für Rock- und Popkonzerte ausgeben. Auf der anderen Seite müssen aber alle möglichen Künstler gerade jetzt auf Tour gehen, weil sie genau das nun jahrelang nicht konnten und kein Geld verdient haben. Mein Gefühl ist, dass am Ende alle irgendwie durchkommen werden. Aber es wird nicht leicht.
kultur.west: Dennoch ist es wichtig, dass Bands wie Die Toten Hosen wieder auftreten. Der Sänger Thees Uhlmann nannte Sie einmal den »Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält.« Dieser Kitt wird gerade jetzt wieder gebraucht. Nach Corona. In Zeiten des Krieges.
CAMPINO: Diese Beschreibung hört sich für mich sehr schön an. Ich glaube, dass wir alle in der Corona-Zeit, in der wir uns voneinander isolieren mussten, erkannt haben: Wir Menschen brauchen kollektive Erlebnisse. Und wir brauchen eine Körperlichkeit miteinander. Ob das nun im Club ist oder in der Disco – egal. Dieses Schwitzen, dieses Singen miteinander, dieses Teilen einer Euphorie – all das löst etwas in uns aus, was man kaum in Worte fassen kann. Und ja: Ich hoffe, dass wir da unseren Job gut machen. Denn: Es geht nicht darum, die Verhältnisse, wie sie gerade in Europa sind, zu ignorieren, sondern darum, so eine Art »Trotzdem« aufzubauen. Ein Ventil zu finden. Wieder Luft schnappen zu können. Denn gemessen an den letzten zwei Jahrzehnten, die mir bewusst sind, gehen wir gerade wirklich durch ganz schwierige Zeiten. Das wird sich sicherlich wieder ändern. Daran glaube ich ganz fest.
kultur.west: Aber?
CAMPINO: Es gibt aktuell keine einfachen Lösungen, egal worum es geht. Wenn man sich den Krieg in der Ukraine zum Beispiel anschaut, wird immer deutlicher: Egal auf welche Seite wir uns schlagen – wir kommen nicht mit weißer Weste aus der Sache heraus. Es ist eine Tragödie, dass wir jetzt an Rüstungsgelder denken. Denken müssen. Das ist auch meine Meinung. Dabei könnte jeder Cent im Kampf gegen den Klimawandel oder soziale Ungerechtigkeit gebraucht werden. Das bricht einem das Herz.
kultur.west: Was kann Ihr Metier, der Punk, denn heute noch auslösen und bewirken? Wo steht er 2022?
CAMPINO: Darüber kann ich unendlich viel erzählen. Das Schöne ist ja, dass niemand irgendwelche Regeln diesbezüglich aufstellen darf. Aber in meiner Vorstellungswelt ist ein Mensch wie Gerhard Polt mit seinem anarchistischen Humor der Punk schlechthin. Wer über ihn lachen kann, der hat für mich schon ganz große Tendenzen, auch den Rest der Sache zu verstehen. Im Grunde hat all das, was sich Ende der 70er Jahre im Punk entwickelt hat, auf subtile Art und Weise unsere Gesellschaft durchsetzt. Das, um was es geht, dieser Geist des Aufrührerischen gegen das Establishment, den findest du ja überall. Diese Kraft ist einfach allgegenwärtig. Egal, wo du suchst.
kultur.west: Was würde der Campino von 1982 sagen, wenn er den Campino von heute auf der Bühne sähe?
CAMPINO: Ich wäre schon damit zufrieden, wenn der junge Campino sagen würde: »Der alte Mann redet ein bisschen Unsinn. Aber alles in allem passt das ganz gut.« Generell ist es so: Ich verstehe, dass wir nicht mehr die Personen sind, die wir mit Anfang 20 waren. Aber: Wir sind heute die, die wir sind, weil wir damals so waren. Das ist eine 40-jährige Entwicklung und ich kann bei all dem keinen riesigen Bruch feststellen in puncto Zielen und Grundwerten, die wir damals schon hatten.
kultur.west: Die da wären?
CAMPINO: Wir sind nicht käuflich. Auch und gerade nicht in einer Zeit, in der Sponsorentum auf die subtilste Art und Weise in unser aller Leben kriecht: »Zieh‘ doch mal meine Klamotten an und lauf‘ damit über den roten Teppich. Kannst sie auch behalten.« Oder: »Schau‘ mal, was da für ein Auto vor deiner Türe steht! Ist das nicht nett?« Da waren so einige Millionen Euro dabei, die uns angeboten wurden. Ob das nun von Coca-Cola war, der SPD oder mysteriöse Einladungen zu Auftritten bei irgendwelchen Firmenfesten. Nein. Wir haben jedes Auto immer noch selber bezahlt. Nicht falsch verstehen: Das ist kein Vorwurf an die Künstler, die das anders machen. Nur: Für uns geht das nicht. Und es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass Menschen von uns enttäuscht wären, wenn unsere Musik plötzlich in der Werbung auftauchen würde. Denn das zeigt: Da haben Leute eine Erwartungshaltung an uns, die nicht schlecht ist. Und denen wollen wir eine Enttäuschung ersparen.
Zum Bandjubiläum gehen die Toten Hosen auf Tour – alle Daten in NRW sind allerdings bereits ausverkauft: dietotenhosen.de/tour