Und ewig erklingt das »ta-ta-ta-taaa«? Natürlich zählt Beethovens fünfte Sinfonie zu den konzertanten Dauerbrennern, doch gibt es in den Archiven und Bibliotheken sicherlich noch viele unbekanntere und dennoch lohnende Werke zu entdecken. Der Meinung sind auch die Duisburger Philharmoniker, die einen »Call for Music« gestartet haben. Das Ziel: verschollene und verkannte Werke. Ein Gespräch mit der Musikwissenschaftlerin Elfi Vomberg.
kultur.west: Frau Vomberg, Sie haben eine Art Hilferuf in die Welt gesendet, um in Archiven nach Partitur-Schätzen zu forschen. Was steckt dahinter?
VOMBERG: »Call for Music« ist Teil des Projekts »Érchomai – das bewegte Orchester«, das im Rahmen des Bundesförderprogramms »Exzellente Orchesterlandschaft Deutschland« gefördert wird. Nils Szczepanski, der Intendant der Duisburger Philharmoniker, hatte die Idee, dass es weltweit sicher noch Musik gibt, die heute zwar nicht gespielt wird, aber eine Wiederbelebung wert sein könnte. Diese Schätze möchten wir heben und auf diese Weise den herkömmlichen Repertoire-Kanon erweitern.
kultur.west: Wie läuft das Ganze praktisch ab?
VOMBERG: Wir wenden uns mit unserer Ausschreibung, die noch bis zum 31. Januar 2023 läuft, weltweit an alle musikwissenschaftlichen Institute, Hochschulen und Archive, aber auch an Fachmagazine. Gesucht werden in der aktuellen Runde rund 20- bis 30-minütige Instrumentalkonzerte, die zwischen 1700 und 2000 komponiert und – das ist eine zentrale Bedingung – entweder noch gar nicht oder erst wenige Male aufgeführt worden sind. Auch sollen sie nicht bereits in einer Einspielung vorliegen. Im vergangenen Jahr erfolgte der erste »Call for Music« für Orchesterwerke, 2022 nun der zweite mit Fokus auf Soloinstrumente.
kultur.west: Wie sind die Rückmeldungen?
VOMBERG: Sehr positiv. Viele Dirigenten und Musikwissenschaftler haben sich gemeldet, obwohl sie nichts eingereicht haben. Sie wollten einfach ihrer Freude über diese Initiative Ausdruck verleihen. Was die Einsendungen betrifft, so hatten wir schon nach der ersten Runde tatsächlich die Qual der Wahl.
kultur.west: Was passiert, wenn alle Vorschläge eingetroffen sind?
VOMBERG: In einem ersten Schritt sichte ich das Material, dann werten Nils Szczepanski als Intendant, Generalmusikdirektor Axel Kober und der Musikwissenschaftler Wolfram Steinbeck die Werke aus. Sie sind sozusagen unsere »Jury«. Dabei kommt es uns natürlich auf die Qualität der Musik an, aber, sofern möglich, auch auf die Geschichte dahinter.
kultur.west: Welche Überraschungen gab es schon?
VOMBERG: In Oxford lagert eine Handschrift von Herman Severin Løvenskiold, einem norwegisch-dänischen Komponisten, der zu Lebzeiten kein Unbekannter war. Er hat vermutlich im Jahr 1839 eine Ouvertüre zu Schillers »Die Jungfrau von Orleans« geschrieben. Løvenskiold hatte dieses Werk an Felix Mendelssohn geschickt und ihm gewidmet. Mendelssohn wiederum hat sich die Partitur angesehen und wollte sie in Leipzig auch zur Aufführung bringen. Warum es dazu nicht gekommen ist, hat sich bis heute nicht klären lassen.
kultur.west: Und wann können wir das Werk nun hören?
VOMBERG: Das handschriftliche Manuskript findet sich aktuell im Mendelssohn-Nachlass in Oxford und muss zunächst in eine druckfähige Fassung gebracht werden. Wir planen eine Aufführung im Jahr 2024. Bereits im nächsten Jahr steht die dritte Sinfonie von Christian Gottlieb Müller auf dem Programm. Er war Schüler von Carl Maria von Weber und später Lehrer von Richard Wagner. Robert Schumann, der von ihm unterrichtet werden wollte, hat Müllers dritte Sinfonie sehr geschätzt. Doch der Mantel der Vergessenheit hat bekanntlich ein einnehmendes Wesen…
kultur.west: Wie viele der letztlich ausgewählten Werke möchten Sie jährlich aufs Programm setzen?
VOMBERG: Pro Spielzeit ein Werk, denn der ganze Prozess ist sehr aufwendig. Teilweise liegen die Stücke nur in Originalhandschriften vor, das bedeutet: Wir müssen das Material erst einmal spielbar machen.
kultur.west: Wie reagiert das Orchester? Ist es erleichtert über die Abwechslung?
VOMBERG: Zwar sind die Musikerinnen und Musiker nicht in den detektivischen Prozess bei der Auswertung eingebunden, doch die Vorfreude ist groß, weil sich bei der Erarbeitung neuer Stücke nochmals andere Erkenntnisse auftun werden, Stichwort: historische Aufführungspraxis. Es geht schwerpunktmäßig nicht (nur) darum, ein neues Publikum zu gewinnen, sondern sich als Orchester auf einen Weg zu machen, um Prozesse kritisch zu hinterfragen, etwa zur Programmgestaltung.
kultur.west: Inwieweit möchten Sie mit diesem Projekt die gängige Kanon-Bildung hinterfragen?
VOMBERG: Es gibt, in der Musik wie in der Literatur, die Kanon-Debatte, die wir mit diesem Projekt erweitern möchten. Der Begriff Kanon zielt auf Werke, die von überzeitlicher Bedeutung sind, weil sie eine bestimmte ästhetische Qualität besitzen, unabhängig vom jeweiligen Zeitgeist. Wir möchten herausfinden, ob und inwieweit Stücke repertoirefähig sind, die bislang aus unterschiedlichen Gründen in Vergessenheit geraten sind.
kultur.west: Eine streng objektive Bemessung, welche Werke zum Kanon gehören, ist aber kaum möglich?
VOMBERG: Es kann sie gar nicht geben. Man kann sicher nicht sagen: Ein Werk, das 200mal im Jahr weltweit aufgeführt wird, gehört automatisch zum Kern-Repertoire und damit zum Kanon. Unser Team, das die Stücke auswählt, hat natürlich bestimmte Kriterien im Hinterkopf, anhand derer es Entscheidungen trifft: Innovation, handwerkliche Qualität, Spielbarkeit und anderes mehr. Unserem Projekt liegt sicher ein gewisser Werkstatt-Charakter zugrunde, weil wir im Vorfeld nicht wissen, ob sich ein von uns neuentdecktes Werk dauerhaft im Konzertbetrieb etablieren wird. Aber das ist auch gar nicht das primäre Ziel. Es geht vor allem darum, eine Diskussion anzustoßen.
Wer Werke zum »Call for Music« einreichen will, schickt seine Vorschläge
bis 31. Januar 2023 an post@elfi-vomberg.de