Das »literaturgebiet.ruhr“ vernetzt die literarische Kulturlandschaft von Moers bis Unna. Ein Gespräch mit Antje Deistler, der Leiterin des Literaturbüro Ruhr, über Sichtbarkeit und die Ränder des Reviers.
Poly: Frau Deistler, wann und warum ist das Netzwerk »literaturgebiet.ruhr« entstanden?
DEISTLER: Im Jahr 2017, nach der ersten Ausgabe des Festivals »lit.Ruhr«, einem weiteren Format der Kölner »lit.Cologne« und dem am Rande gefallenen Satz, dass es nun »endlich auch Literatur im Ruhrgebiet gebe«. Das war der Weckruf für die regionale Szene – wenn sich so eine Aussage bei den Stiftungen und Geldgebern verfängt, dann waren wir als Ruhrgebietsszene vorher nicht erkennbar genug und haben vielleicht nicht genug Werbung für erfolgreiche Festivals wie »Mord am Hellweg«, für »Literatürk«, für die vielen Einzelveranstaltungen und die Arbeit in den Bibliotheken gemacht. Dann müssen wir uns eben zusammentun, selbst für Aufmerksamkeit sorgen und als Netzwerk sichtbarer werden.
Poly: Wie ging es nach dieser Initialzündung weiter?
DEISTLER: Das Netzwerk ist schnell gewachsen, in unserem Verteiler sind nun über 100 Ansprechpartner aus den Stadtbibliotheken, literarischen Gesellschaften, Festivals und Buchhandlungen. Die Poetry-Slam-Szene fühlt sich ebenfalls zugehörig. Und auch einzelne Veranstalter wie der Schauspieler Till Beckmann, der neben seinen Theater- auch immer wieder Literaturprojekte macht. Er hat sich eine Literaturshow mit Karosh Taha ausgedacht, die er in direkter Kooperation mit dem Literaturbüro auf die Beine gestellt hat. Auch solche kreativen Einzelkämpfer verstehen sich als Teil des Netzwerks.
Poly: Klingt unkompliziert, angesichts der Tatsache, dass sie mit dem Ruhrgebiet eine riesige Region mit fünf Millionen Einwohnern unter einen Hut kriegen müssen. Und das mit sehr unterschiedlichen Formaten von der Bestseller-Lesung bis zu Abenden mit lokalen Autoren.
DEISTLER: Das Ruhrgebiet ist wie es ist. Eben keine große Ruhrstadt mit nur einem Zentrum, sondern mit vielen kleinen Zentren an denen viel los ist. Aber das ist ja das Spannende an der Region! Weil man nicht extra von Unna bis Essen fahren muss, weil dort etwas los ist, sondern man hat eben auch in seiner eigenen Stadt tolle Veranstaltungen.
Poly: Schaut man in Ihren Veranstaltungskalender, fällt dessen Gleichwertigkeit auf. Die Termine sind nicht getrennt nach der Größe und Lage der Städte oder der Prominenz der Autoren geordnet.
DEISTLER: Ja, dieses Nebeneinander ist bewusst so dargestellt, wie es der Struktur der Region entspricht. Auch die Randlagen bieten viel – wie etwa Hattingen im Süden. Ein toller Ort für Literatur, weil die Stadtbibliothek schon lange sehr aktiv ist. Als ich dort eine Lesung mit dem Krimiautor Volker Kutscher moderiert habe, habe ich selbst erlebt, wie groß die Resonanz der Besucher war. Ich hatte den Eindruck, dass das ein Publikum ist, das sich die Stadtbibliothek durch gute Programmarbeit über Jahre selbst geschaffen hat. Mit dem Format »tour de literaturgebiet.ruhr« wollen wir diesen Gedanken ebenfalls stärken, schicken interessante Autoren mit einer Lesereise durch verschiedene Städte und legen ihnen einen roten Teppich aus. Bekannte Schriftsteller abseits der ausgetretenen Pfade der Großstädte lesen zu lassen – das sorgt für großes Publikumsinteresse. Und man weckt die Aufmerksamkeit von Stiftungen und anderen Geldgebern.
Poly: Bei ihrem Festival »Literatour 100«, das 2021 zum ersten Mal stattfand, sind es die Autoren, die reisen müssen und an einem Tag an verschiedenen Orten lesen.
DEISTLER: Auch das ist wieder der polyzentrischen Struktur des Ruhrgebiets geschuldet. Wir wollen keinen zentralen Ort, an dem wir die Autoren versammeln und an den die Besucher kommen müssen. Stattdessen schicken wir die Autoren zu 26 verschiedenen Veranstaltern in die Städte und dem Publikum so direkt vor die Haustür.
Zur Person
Antje Deistler ist seit 2018 Leiterin des Literaturbüro Ruhr in Gladbeck, der Trägerorganisation des Netzwerks »literaturgebiet.ruhr«. Die Journalistin schreibt Literatur-Rezensionen, zuletzt für die Redaktion »Büchermarkt« des Deutschlandfunks, und moderiert Lesungen. Sie sitzt im Vorstand des LiteraturRat NRW und ist Sprecherin der Sparte Literatur im Kulturrat NRW.