INTERVIEW: ULRICH DEUTER UND ANDREAS WILINK
K.WEST: Das Schauspiel Essen steht, da Sie es verlassen, mindestens eine Stufe höher da als zuvor. Bochum ist in den vergangenen fünf Jahren abgesunken. Fürchten Sie nun, gerade weil Sie das Revier nicht wechseln, die Entzauberung?
WEBER: Die Frage stellt sich nicht, weil wir nicht glauben, irgendetwas verzaubert zu haben. Der Weg nach Bochum hat sich ja durch Zufall eröffnet. Das war keine Karriereplanung. Indem sich genau beschreiben lässt, wie dieser Weg durch unsere Arbeit in Essen entstanden ist, können wir ihn auch beglaubigen. Essen war für mich damals eine sehr bewusste Entscheidung: weg von der Bundesliga, dem sogenannten Champions League-Theater, hin zu einem quasi weißen Fleck in der Theaterlandschaft. Dass ausgerechnet an dem Punkt, wo wir hier etwas entwickelt hatten, plötzlich in Bochum ein Kollege für sich entschied, nicht weiter zu machen, dass die Bochumer uns fragten; dass, obwohl wir gern geblieben wären, die Stadt Essen sagte, sie könne dazu die Mittel nicht geben, um das Niveau zu halten: Alles das ist zwar in sich logisch. War aber kein Lebensziel. Ich verlasse etwas, das mir jetzt ungemein nah steht.
K.WEST: Jetzt haben Sie beides, die Region und die Erste Liga. Das Schauspielhaus Bochum besitzt nahezu mythische Aura. Machen einem die dort spukenden Theater-Geister Angst?
WEBER: Ich habe das, was Sie Mythos nennen, für mich sehr genau analysiert und versuche das emotionslos und trocken zu definieren. Uns ist klar, dass wir genauestens beobachtet werden, genauer, als käme jemand von woanders nach Bochum oder als wären wir von weiter her gekommen und hätten unseren eigenen Mythos oder Ruf dabei. Wir haben also doppelt genau überlegt.
K.WEST: Die Analyse ist abgeschlossen, Ihr Ergebnis lautet: Wir erweitern das Konzept von Essen und dehnen die Perspektive aus auf »Boropa«, wie Ihr Spielzeitheft titelt.
WEBER: Richtig. Zur Analyse gehörte aber noch eine Vergleichsaufstellung, verursacht durch den Wechsel von sieben bis neun Intendanzen an großen und wichtigen Theatern, von Zürich und Wien bis Hamburg und Berlin.
K.WEST: Das heißt, Sie haben geschaut, wen es an Regisseuren auf dem Markt gibt?
WEBER: Das ist der zweite Schritt. Zunächst fiel uns auf, dass sich da eine Art Hamsterrad dreht. Stichwort: Jetset-Theater, betrieben von fünf bis zehn Regisseuren. Wenn wir versuchen würden, auf dieses Perpetuum mobile zu springen und Regie-Namen aufzustellen, die die Kritik schon kennt, wären wir nur der Verlierer. Es hieße dann: Aha, die haben nur einen oder zwei dieser Kategorie. Diese Überlegung habe ich schnell beendet. Da stieße man auch bald an finanzielle Grenzen. Es ist aber nicht nur eine Frage der Regie. Uns hat gewundert, dass inhaltlich bezogen wenige Theater versuchten, eine eigene Idee zu entwickeln, über das engere Programm hinaus.
K.WEST: Sie reagieren mit einem Programm internationaler Regisseure – aus den Niederlanden, Polen, Italien, der Türkei, Afrika. Ist das Konsequenz aus der oder Kommentar zur Ruhr-Metropolen-Behauptung?
WEBER: Beides. Zunächst auch wieder eine Konsequenz aus der Arbeit, die wir gerade machen, darunter unserem wesentlichen Anteil an der »Odyssee Europa« mit Grzegorz Jarzyna, der Koproduktion mit der Amsterdamer Toneelgroep bei »Ubu«, dann dem von uns mit ausgerichteten »Theater der Welt«. Wir haben hier die Rampe gebaut für Bochum. Nimmt man nun den Mythos Bochum und begrenzt ihn nicht auf den deutschsprachigen Kulturbereich, sondern erweitert ihn europäisch und noch ein Stückchen darüber hinaus, ist man da, wo dieses Schauspielhaus in seinen Mythenbildungen immer stand. Es war immer dann gut, wenn es bei Entwicklungen weit vorn mitgespielt hat, bei Zadek, bei Peymanns politischem Theater, auch bei Steckel, Breth, Jürgen Kruse. Das Ruhrgebiet braucht und verdient ein Theater, das über die Stadt und Region hinaus strahlt. Die Möglichkeit bekommst du in Bochum zunächst frei Haus geliefert.
K.WEST: Sich zu internationalisieren, tun viele.
WEBER: Ja, aber wir gehen einen Schritt weiter. Wir laden die Künstler ein, nicht mir ihrer Truppe anzureisen, sondern den Blick mit unseren Leuten auf von uns offerierte Stoffe zu richten. So ist die Idee zu »Faust« mit Mahir Günsiray aus Istanbul entstanden – um eine Art Spiegelbild zu bekommen. Die größte Überzeugsarbeit bestand darin, sie zu motivieren, nicht mir ihren fertigen Sachen zu kommen.
K.WEST: Schauen wir auf das Theaterland NRW im Ganzen. Und erinnern uns an die Empfehlung einer Experten-Kommission für ein zusätzliches Staatstheater. Egal, ob Bochum, Essen oder Köln, es wäre eine Korrektur der singulären Position, die das Düsseldorfer Schauspielhaus als halbes Staatstheater behauptet.
WEBER: Das ist für mich jetzt ganz dünnes Eis. Ich habe kürzlich öffentlich bezogen auf die Theater-Bundesliga gesagt: Wer da mitspielen möchte, braucht Geld. So. Und dass Leute wie der FC Bayern und das Schauspielhaus Düsseldorf finanziell mehr Möglichkeiten haben als Bochum oder Köln, das wiederum etwas mehr hat als Bochum. Diese Einschätzung ist unabhängig von der Staatstheater-Diskussion.
K.WEST: Die Theater-Intendanten in NRW fordern, wie etwa auch der Städtetag, eine Erhöhung der Landeszuschüsse für die Stadttheater von jetzt unter 10 auf 20 Prozent. Gibt es darüber hinaus Bestrebungen, die stiefmütterliche Behandlung der Kultur und namentlich der Bühnen durch das Land zu verbessern?
WEBER: In der derzeitigen Finanzkrise gibt es einen Disput darüber, wer für die gewachsenen kulturellen Strukturen verantwortlich ist: das Land oder die Städte. Der Grund für diesen Dissens ist das spezielle historische Verhältnis zwischen dem Land und den vielen großen Städten in NRW, dessen Bedeutung unterschiedlich wahrgenommen wird. Das Schauspielhaus Düsseldorf soll ruhig sein Geld erhalten. Darüber hinaus aber sollte das Land so viel Geld in die Theaterstruktur investieren, dass sie die Krise überlebt.
K.WEST: Es gibt also nicht die Idee unter den Intendanten, dass noch mehr Häuser wie Düsseldorf halbe Staatstheater werden?
WEBER: Nein. Die Staatstheater-Diskussion ist sicher vom Tisch. Aber es macht Sinn, einen Masterplan Kultur in NRW zu denken. Masterplan Theater, Sprechtheater, bildende Kunst usw. Mich als Bayer hat immer verwundert, wie seltsam undefiniert die Rolle der Kultur hierzulande ist. Welche Rolle sie spielt und was sie bewirken soll. Besonders im Ruhrgebiet scheint der Kulturbegriff rein repräsentativ zu sein. Die Stadt Essen ist zu 90 Prozent deshalb in der Krise mit ihrer Kultur, weil sie sie immer nur repräsentativ denkt. Damit hat sie manchmal Glück, etwa mit dem Opernhaus oder mit Zollverein. Aber mit der Philharmonie eben nicht. Die wollte man, ohne sich über deren Inhalte Gedanken gemacht zu haben. Immer stellt sich nur die Frage: Was glänzt? Was machen wir, dass wir – vielleicht in Berlin – wahrgenommen werden?
K.WEST: Der Sprung von Essen nach Bochum ist auch ökonomisch der in eine andere Liga. Doch Ihr neuer Kulturdezernent warnt schon, dass der Theater-Etat nur gehalten werden kann, wenn das Land seine Zuschüsse aufstockt. Wie also sind Ihre Erwartungen und Befürchtungen in finanzieller Hinsicht?
WEBER: Wir haben in Bochum vier Bühnen mit insge- samt 1400 Plätzen, mehr als das Schauspielhaus in Hamburg. Gemessen an seiner Größe ist das Haus mit etwa 2 Millionen Euro unterfinanziert. Hätten wir die, wären wir auf demselben Level wie etwa Frankfurt, mit dem wir uns künstlerisch messen müssen. Darüber hinaus tickt eine Zeitbombe, das ist die fehlende Regelung der Finanzierung der jährlichen Tariferhöhungen. Es kann aber nicht sein, dass einzelne Theater an einer Tariferhöhung kaputt gehen.
K.WEST: Es gibt die Idee, als Reaktion auf die Dichte der Bühnen im Ruhrgebiet zum einen und auf deren Unter-finanzierung zum andern, dass die einzelnen Städte je-weils Schwerpunkte bilden sollten. Was halten Sie davon?
WEBER: Kann ich mir vorstellen. Was dem Ruhrgebiet z.B. fehlt, ist ein Kinder- und Jugendtheater auf höchstem Niveau. Warum soll nicht ein Theater dies zentral entwickeln? Und die anderen Kommunen stecken auch Geld da hinein. Das wäre ein solcher Schwerpunkt.
K.WEST: Aber wer macht es, wer nimmt es in die Hand?
WEBER: Entscheiden müsste die Politik. Die ist nicht bereit genug, Strukturen der Gemeinsamkeit im Ruhrgebiet zu entwickeln. Von den Künstlern aber fordert sie sie. Die Kommunen neigen dazu, in der Krise immer nur den Brand zu löschen, ohne Visionen zu entwickeln. Und wenn man, gleich welche, Formen der Zusammenarbeit oder Konzentration entwickelt, muss auch die Bereitschaft da sein, nicht nur die Siege mitzunehmen, sondern auch die Verluste. Wenn wir die Krisensituation nicht dazu benutzen, um inhaltlich nach vorn zu kommen, dann ist es fatal. Im Moment wird aber das Gegenteil gemacht. Es wird nur noch gefragt: Wer macht es noch billiger?
K.WEST: Beschreiben Sie jetzt gerade Ihren Nachfolger in Essen?
WEBER: Nein. Wir haben es geschafft, das Essener Theater in seinem Kulturbegriff weiter zu bringen. Leute ins Theater zu holen, die vorher nicht kamen. Das ist doch für eine Kommune von großer Bedeutung! Wenn das aber in der Politik nur zu Überlegungen führt, wie bekomme ich den Laden heruntergespart, dann ärgert mich das. Das hat nichts mit der Person meines Nachfolgers zu tun. Vielleicht kann der das ja.
K.WEST: Wenn Sie zurückblicken auf Ihre Zeit in Essen, spüren Sie da eine Verletzung?
WEBER: Es gab Situationen, wo ich mir schon ein bisschen mehr Support gewünscht hätte. Natürlich ist es nicht schlecht, wenn mal ein Oberbürgermeister sagt: Ich liebe dieses Schauspielhaus. In Bochum hat das Theater einen ganz anderen Stellenwert, in der Öffentlichkeit und in der Politik. Die Stadt ist alles andere als vermögend, aber leistet sich etwas, für das sie sich entschieden hat. Das Schauspielhaus ist Bochums Identität. Ich werde mich selbst daran messen, ob es mir gelingen wird, der Stadt diese Liebe zu ihrem Theater zurückzugeben.
Anselm Weber, geboren 1963, arbeitet seit 1989 als freier Regisseur, u.a. in Bonn, Berlin, Frankfurt, Hamburg und München, 2005 übernahm er das Schauspiel Essen; ab der Spielzeit 2010/11 ist er als Nachfolger von Elmar Goerden Intendant des Bochumer Schauspielhauses.